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Doktor Hallern saß allein in seinem Junggesellenheim.
Trotzdem er jetzt keinen Freund besaß, der ihn unterstützt hätte, so verzagte er dennoch nicht.
Was ihm an Erfahrung fehlte, das ersetzte sein uneigennütziges Bestreben! Schreckte er doch vor keiner Mühe zurück!
Aber wie gelang es, für Hans Olden tätig zu sein?
Nur ein unwiderlegbares Ergebnis, das die Schuld eines zweiten klar bewies, konnte den Freund retten!
Sein einziger Verdacht stützte sich auf die Mitteilung Oldens, daß die goldene Rose die Tote nicht geschmückt hatte, solange er in ihrer Nähe gewesen war.
Wie er schon dem Kommissar Scharbeck wiederholt versichert hatte, war die Nadel der Toten zugesteckt worden, um auf diese den Verdacht des Diebstahls zu wälzen.
Und das konnte nur durch den Bruder geschehen sein!
Denn dieser hatte die Nadel entwendet, dieser war des Diebstahls verdächtig aus dem Elternhause gestoßen worden!
War aber hierzu der Mord geboten?
Konnte jemand einen Mord begehen, lediglich deshalb, von einem Verdachte losgesprochen zu werden?
Setzte er sich hierbei nicht einer doppelten Gefahr aus, die bei weitem in keinem Verhältnisse zu dem Vorteile stand, der durch das Verbrechen erzielt wurde?
Dieses mußte eine Lösung finden!
Hierin lag die erste Aufgabe!
Erreichte der Bruder der Ermordeten noch weitere Vorteile durch seine Tat?
Die Miene Hallerns verdüsterte sich; aber ebenso plötzlich heiterte sich diese auf.
Er hatte ein Ergebnis, eine Möglichkeit; diese mußte verfolgt werden.
Doktor Hallern zögerte nicht länger mit der Durchführung.
Er benützte den nächsten elektrischen Wagen und fuhr bis zum Marienplatz.
Von dort aus ging er nach dem nahen Polizeigebäude zum Einwohnerbureau und erkundigte sich nach der Wohnung Franz Walthers.
»Paulsplatz 5, zweiter Stock« lautete der Bescheid des diensthabenden Beamten.
Das aber war die Wohnung seiner Eltern.
»Wo war dessen Wohnung, die er vor dieser hatte?«
Der Beamte blätterte zurück.
»Amalienstraße 12, dritter Stock, bei Frau Marx.«
Doktor Hallern bezahlte die erteilte Auskunft und entfernte sich wieder, um die Richtung zur Amalienstraße einzuschlagen.
Bald hatte er Haus Nummer 12 gefunden.
An der Türe, die ein auf den Namen A. Marx lautendes Schild zeigte, klingelte Hallern.
Eine kleine, dicke, rundliche Frau öffnete und frug nach seinen Wünschen.
»Hier hat doch Franz Walther gewohnt?« lautete die Gegenfrage des Doktors.
»Gewiß!« knixte die dicke Frau mit sonorer Stimme, die wohl auf den häufigen Genuß von Bier zurückgeführt werden konnte.
»Ich möchte gern einige Erkundigungen über diesen Herrn einziehen!«
Die Dicke, ein echtes Münchener Kind, mit der demselben angeborenen Gutmütigkeit, Geschwätzigkeit und teils auch Neugierde, verweigerte dieses Ansuchen durchaus nicht, sondern führte den feinen Herrn in ihre »schöne Stube«, die sonst ein Zimmerherr benützte.
»Aber gern! Sag'n S' nur, was' Sie wollen!«
Doktor Hallern wußte nicht recht, wie er fragen sollte.
Hierbei aber gereichte ihm die angeborene Schwatzhaftigkeit der Frau Marx zum Vorteil. Denn ohne eine Frage überhaupt abzuwarten, sprudelte die Frau mit einem unerschöpflichen Wortschwall los:
»Sie haben gewiß auch was zu fordern von diesem sauberen Früchtl! Das ist nämlich ein ganz Gewaschener! Gearbeitet hat er nichts, gar nichts; aber natürlich umsomehr gefressen und getrunken.
Mit Verlaub! Ich bin jetzt ja bezahlt worden! Wirklich! Aber daß Sie ja nicht glauben von dem Burschen! Seine Schwester hat mir das Geld 'geben! Wissen Sie, die im Deutschen Theater ist umgebracht worden! Es ist wirklich schad für dies schöne, gute Fräulein.
Ja, ja, der Franz! Jetzt wird's ihm ja nicht mehr schlecht gehen, seit er wieder hat zu seinen Eltern dürfen.«
In ähnlicher Weise und unter fortgesetzten Wiederholungen schwätzte die Frau fast eine Viertelstunde, ohne daß Doktor Hallern auch nur ein Wort gesprochen hatte.
Er hatte auf diese Weise mehr erfahren, als er überhaupt für möglich gehalten hatte.
Sein Verdacht war jetzt jedenfalls nicht mehr gänzlich unbegründet.
Franz Walther war arbeitslos und verfügte über keinerlei Geldmittel.
Seine Schwester hatte seine Schulden bezahlen müssen.
Durch seine Rückkehr ins elterliche Haus konnte er wieder zu Geld gelangen, während er andernfalls bald wieder in Not geraten wäre.
Diese Rückkehr ins Elternhaus konnte er sich aber nur dadurch ermöglichen, daß er seine Schuldlosigkeit an dem ihm zugeschobenen und auch – vermutlich – tatsächlichen Diebstahl bewies.
Das war ein wohlbegründetes Motiv zu dem verübten Verbrechen.
Der Redeschwall der Mietfrau war auch während dieser Erwägungen stromartig, ohne Unterbrechung über Doktor Hallern hereingebrochen.
»Ja, denken Sie nur. Enterbt war er geworden! Was muß der wohl angestiftet haben, daß sich der Vater soweit hergegeben hat. Enterbt! Jetzt wird dies ja wieder vorbei sein! Er ist ja nur noch das einzige Kind!«
Auch das!
Jedenfalls waren die Erfolge, die durch das Verbrechen erzielt wurden, wohl berechnete und nicht unbedeutende.
Wenn Doktor Hallern jede seiner weiteren Bemühungen so sehr von Erfolg gekrönt sah, dann konnte es wohl keine Schwierigkeit mehr bereiten, die Schuldlosigkeit Oldens zu beweisen.
Um diesen fortgesetzten Reden der unermüdlichen Frau ein Ende zu machen, da sie stets das schon Gesagte nur immer wieder in anderen Variationen wiederholte, frug sie Doktor Hallern mit lauter Stimme, damit ihr unerschöpflicher Redefluß übertönt wurde:
»Wissen Sie vielleicht, ob dieser Franz Walther, kurz ehe er bei Ihnen auszog, auf eine Redoute gegangen ist?«
»Nein! Ich kann mich doch darum nicht bekümmern! Der ist ja fast jeden Abend fortgewesen und hat mir auch nie gesagt, wo er war. Ich habe auch gar nicht danach gefragt.«
Wieder unterbrach sie eine Frage Hallerns:
»War Franz Walther vielleicht auch abwesend an dem Abend, an welchem seine Schwester ermordet wurde?«
»Aber freilich! Sie lassen mich ja gar nicht zu Ende sprechen! Ganz gewiß war er fort. Schon am Abend vorher. Den Tag darauf wiederum. Ich habe natürlich nicht gefragt, wo er gewesen ist. Ich habe auch gar keine Zeit, mich mit meinen Zimmerherren abzugeben, ich bin zuviel beschäftigt, bei mir gibt es den ganzen Tag immer nur Arbeit. Da kann man doch wahrlich nicht mit den Zimmerherren schwätzen! Sie brauchen ja nicht zu glauben, daß ich eine von denen bin, die nichts zu tun haben, als – mit Verlaub, wenn ich mich nicht geniere – zu ›ratschen‹.«
Doktor Hallern glaubte es in diesem Augenblick für das Vorteilhafteste zu halten, sich möglichst rasch zu entfernen, da er weder die liebe, freundliche Frau von ihrer Arbeit abhalten mochte, auch nicht über soviel Zeit verfügte, das Ende ihrer Reden abwarten zu können.
Er empfahl sich deshalb mit entschuldigenden Worten, die aber keineswegs die fortgesetzten Erzählungen der Frau zu hemmen vermochten, sondern die ihn unter stetem Plappern und Reden zur Tür hinaus begleitete, auch die Treppe hinunter, und erst auf der Straße den Doktor freiließ, dem die Ohren summten und surrten.
Er beachtete dies jedoch nicht so sehr, da er wenigstens etwas hatte erreichen können.
Die nächsten Gedanken des Doktor Hallern beschäftigten sich damit, auf der eingehaltenen Spur, die zur Schuld Franz Walthers führte, weiterzufolgen.
»War er der Dieb der goldenen Rose?«
Könnte es möglich sein, hierfür einen Beweis zu erbringen, dann wäre dieser zweifellos überführt.
Wie aber sollte er das erreichen?
Er wußte ja nicht einmal, wann der Diebstahl begangen wurde.
Das aber mußte er erfahren, wenn er etwas durchsetzen wollte.
Der Doktor sah auf die Uhr.
Halb elf!
Um diese Zeit mochte der Bankdirektor wohl aus dem Bureau sein.
Aber seine Frau konnte er allein antreffen. Vielleicht sprach diese mehr mit ihm?
Diesen Vorsatz führte Doktor Hallern sofort aus; er fuhr mit dem nächsten Trambahnwagen die Bayerstraße hinaus, bis zur unmittelbaren Nähe des Paulsplatzes.
Bald war er dann vor der Wohnung des Bankdirektors, aus der eben Franz Walther trat.
Doktor Hallern kannte diesen nicht, aber durch die Erzählung des Kommissars wurde er auf diesen aufmerksam.
Mit vorgestrecktem Kopfe und eingezogenen Schultern machte der junge Bursche auf Hallern den gleichen Eindruck wie auf den Kommissar. Verschüchtert und vertölpelt!
Hierdurch aber ließ sich Doktor Hallern keineswegs beeinflussen!
Konnte dieser nicht trotzdem die Tat begangen haben?
Konnte man die Gesinnung und die Pläne des Menschen nach seinem äußerlichen Erscheinen beurteilen?
Der Doktor ließ sich der Frau Bankdirektor Walther melden.
Er wurde vorgelassen und stand wenige Minuten später der kleinen, unscheinbaren Frau gegenüber, deren Haare bereits stark ergraut waren, die noch mehr gealtert erschien, wohl durch die schreckliche Tat, während der letzten Tage.
Doktor Hallern stellte sich vor und sagte hierauf:
»Mich führt ein peinlicher Vorfall zu Ihnen, gnädige Frau, das Interesse an meinem Freund Hans Olden. Er war der heimlich Verlobte Ihrer Tochter.«
Die alte Frau schrak bei diesen Worten des Doktors jäh zusammen. Dieser aber fuhr unbeirrt fort:
»Sie haben wohl schon Mitteilung darüber, daß er als Mörder gefangen gehalten wird. Aber ich glaube bestimmt an seine Schuldlosigkeit, ebenso wie an die Schuldlosigkeit Ihrer Tochter. Sie hat die goldene Rose nicht genommen!«
Hier ergriff die unglückliche Mutter die Hand des Doktors und sagte lebhaft:
»Nein, ganz gewiß nicht! Das hat Luise nie getan!«
Diese Gelegenheit benützte der Doktor, der sich aber sehr wohl hütete, auf den Sohn irgend welchen Verdacht zu lenken.
»Ich weiß das und möchte gerne den Beweis hierfür erbringen, da ich dadurch auch den Freund von jenem schweren Verdachte befreien könnte. Ich müßte aber vorher noch verschiedenes fragen und weiß nicht, ob ich Sie darum bitten darf.«
»Gewiß! Fragen Sie nur! Ich will Ihnen gerne helfen, damit dieser unglückselige Mensch nicht noch länger unschuldig leiden muß. Luise mußte ja noch schrecklicher büßen; aber sie hat es schon überstanden.«
»Kann ich vielleicht erfahren, wann diese goldene Rose verschwunden ist; den Tag vielleicht genau.«
Die alte Frau nickte zustimmend und antwortete dann sofort:
»Freilich! Es sind jetzt drei Jahre her! Kurz vor Weihnachten war es, mein Mann war eingeladen und wollte deshalb die Nadel tragen, aber sie war nirgends zu finden.«
»Aber weshalb hat dann der Herr Bankdirektor den Sohn verstoßen?«
Die Mutter seufzte schwer auf und erzählte dann etwas zögernd:
»Das ist eine schwere Geschichte. Franz ist nicht nach uns geraten; er ist verstockt. Aber ich will ihm keine Schuld geben, er hat nur den Vater immer zu sehr gefürchtet und deshalb ist er wohl so geraten.
Als dann der Vater den Verlust der Rose bemerkt hatte, sie war in einer Schatulle im Kasten, stellte er Luise und Franz zur Rede.
Während das Mädchen aber jede Schuld bestritt, blieb der Junge verstockt und sagte nichts zur Erwiderung. Er ist so verschüchtert.
Der Vater aber hielt dies für ein Schuldbekenntnis, da ja nicht leicht eine dritte Person die Rose entwendet haben kann und jagte den Jungen auf die Straße. Es war dies eine schwere Zeit für mich!«
Auch hier hatte Doktor Hallern erfahren, was er zu wissen wünschte.
Er drängte deshalb sehr rasch zum Abschied, um baldmöglichst mehr für den Freund erreichen zu können.
Jedenfalls verstärkte sich fortgesetzt der Verdacht gegen Franz Walther.
Ehe er das Haus des Bankdirektors verließ, bat ihn die alte Mutter noch einmal:
»Tun Sie, was Sie unternommen haben! Ich kann ja dem jungen Menschen nicht zürnen; er hat vielleicht denselben Verlust erlitten wie wir, wenn er sie geliebt hat.«
Doktor Hallern gab noch diese Zusicherung ab, dann strebte er weiter, wieder seiner Pflicht nach.
Er dachte daran, ob er nicht Kommissar Scharbeck von den bisherigen Erfolgen verständigen sollte, da ihm dieser bei seinem weiteren Vorsatze gut hätte von Nutzen sein können.
Aber der Doktor kam hiervon ab. Er allein wollte es durchführen.
Seine nächste Aufgabe erblickte er darin, bei allen Versatzämtern und Trödlern nachzuforschen, ob bei diesen nicht einmal diese goldene Rose versetzt und wieder ausgelöst worden war.
Nach seiner eingezogenen Information im Adreßbuche fand er in der ganzen Stadt über dreihundert Trödler.
Und alle diese mußte er aufsuchen, wenn er einen wirklichen Erfolg erzielen wollte!
Er wollte es auch tun!
Aber für diesen Tag war er zu ermüdet!
Er ging deshalb nach Hause, um alle Adressen sich aufzunotieren und so zu ordnen, wie er sie besuchen wollte.
Der nächste Tag sollte ihn wieder bei der Ausführung seiner Pflicht finden.