Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

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10.

Am nächsten Tage war es neblig. Trotzdem Ragni gut und traumlos geschlafen hatte, war ihr schwer im Kopfe und sie ging umher und sah alles in dem kalten Lichte von gestern; auf nichts ruhte länger Glanz. Erst wollte sie nicht in die Küche gehen; sie bildete sich ein, daß sie von dort aus das Haus sehen könnte, in dem Kule wohnte. Endlich stiegen ihr Zweifel daran auf und sie wagte sich hinaus; – sie konnte es nicht sehen. Dann wagte sie nicht im Garten ihren Morgenspaziergang zu machen; er konnte ja vorbeigefahren kommen. Endlich setzte sie sich an den Flügel, stand aber wieder auf, ohne gespielt zu haben. Dann schrieb sie an Karl einen Brief; sie schuldete ihm auf zwei Briefe eine Antwort – und etwas mußte sie sich vornehmen. Sie schrieb aus ihrer Stimmung heraus, Schlechtigkeit in jeder Form, wie Lüge, Verräterei, Hinterlist, herrschsüchtige Verfolgung, List, Betrug wäre Todeskälte. Gegen diese wehrten wir uns; das Leben wäre die Wärme. Einige Menschen wären mehr als andere der Gefahr ausgesetzt, zu erkalten; ebenso wie einige der Tuberkulose ausgesetzt seien, andere nicht; und sie wäre gewiß eine jener Unglücklichen. Kalt hätte man sie seit ihrer Kindheit angeblasen, und schließlich würde dieser kalte Strom stärker als die Wärme, mit der sie widerstehen könnte; das wäre die ganze Frage.

Der Brief wurde nicht lang; denn beim Denken an ihre Kindheit und was sie auch später noch bis zu ihrer Heirat mit Kule durchgemacht hatte, bekam sie Lust, es aufzuschreiben und es gelegentlich einmal Kallems treuem Gedächtnis zu übergeben. Mündlich konnte sie es nicht erzählen; aber aufschreiben? Ja, das konnte sie nun. Eine unbestimmte Furcht trieb sie auch und am selben Tage begann sie.

Sie bot alle ihre Kraft auf, um gefaßt und ruhig zu sein, wenn Kallem nach Hause kam. Er sah sie forschend an, war aber selbst auf tiefste mit einer ganz andern, neuen Sache beschäftigt. Er wollte eine Operation vornehmen, über die die beiden andern Ärzte und ein dritter weither geholter ihre Bedenken hatten.

Einer der angesehensten Männer der Gegend, Oberst Baier, litt seit einem Monat an Magenhautentzündung mit Anzeichen von Septichämie. Der Militärarzt, Doktor Arentz, war sein Hausarzt und behandelte ihn auf die gewöhnliche Art und Weise mit Wasserumschlägen und Opium. Aber die Krankheit wurde bedenklich, und Arentz wünschte, daß Kallem zugezogen würde. Die Frau widersetzte sich – nicht gerade weil sie sehr christlich, aber weil ihr in Kallems Nähe unheimlich war. Sie war ein gutes, warmherziges Wesen, aber hysterisch und solche ergreifen gern stark für und wider Partei. Pastor Tust hatte sie einmal gerettet; sie war krank an Schwäche, und es gab keine Hilfe; da kam er und richtete ihren Willen am Glauben auf – ein Faktum, das niemand bestritt; seitdem schwärmte sie für ihn. Der Arzt des Nachbarbezirkes und Doktor Kent wurden gerufen; aber beide waren ehrlich genug, zu gestehen, daß hier nichts gethan werden könnte; die Krankheit wäre zu weit vorgeschritten und eine Operation unmöglich.

Nun wurde die Liebe zum Gatten stärker als aller Widerwille; sie ließ anspannen und fuhr selber zu Kallem, der die Operation sofort und unbedingt vornehmen wollte. Ohne sich von den Einwendungen der andern abhalten zu lassen, öffnete er sofort die Bauchhöhle, fand Eiter und öffnete den Dickdarm.

Besonders da die andern abgeraten hatten, nahm das Ereignis alle seine Charakterstärke in Anspruch. Der Oberst galt für einen Ehrenmann; in Stadt und Land war man gespannt und der Zustand der Frau war derartig, daß sie, falls der Mann starb, wahrscheinlich wahnsinnig wurde. Von dem Widerwillen, den sie Kallem gegenüber nährte, ging sie zu einem ganz unbegrenzten Vertrauen über; seine Nähe schien sie magnetisiert zu haben. Alles das machte Kallem sehr bekümmert.

Ragni bekam an anderes als an sich selber zu denken, als sie sah, welche gefährliche Verantwortung er unmittelbar vor der Operation auf sich nahm, und welche noch größere an den nächsten Tagen. Wenn so etwas eintrat, hielt sie mit außergewöhnlicher Kunst alles Kleinliche von ihm fern, stärkte und heiterte ihn auf, lebte ausschließlich für ihn. Und einem solchen Manne etwas sein zu können, gab Wärme genug!

Der Oberst erholte sich und Kallem ging in strahlender Laune umher; Ragni spielte wieder, nahm ihre übrige Arbeit wieder auf, ja, wagte sich sogar in den Garten hinaus und ließ die Augen nach dem Hause hinüberschweifen! Sie hörte den Wagen vorüberfahren, ohne auch nur im geringsten zu zittern; sie wurde von dem nordländischen Dienstmädchen, das mit dem Korbe auf den Markt ging, angesprochen – und trotzdem sie sich wie von einem Wurm gestochen fühlte, starb sie nicht. Sie konnte sogar eines Tages mit ihr sprechen – ja sie konnte sie Morgen für Morgen wieder vorbeikommen lassen, ohne zu fliehen. Das geschah beileibe nicht aus Mut; aber es geschah, und sie befand sich wohl dabei.

Die Witterung schlug um und wurde ganz rauh; die Blätter flatterten im Nordwinde, das Feld fror, jeden Morgen mit Reif bedeckt, in den Öfen stürmte der Wind, sodaß der Lärm mit dem Rasseln der Wagen, die draußen über hohlen Grund fuhren, wetteiferte. Tag für Tag wurde die Frage aufgeworfen, ob sie die Doppelfenster einsetzen und die Thüren des Altans schließen sollten; Tag für Tag wurde sie ausgesetzt. Vielleicht kamen noch einmal schöne Tage.

Eines Tages hatte Ragni Briefe aus Amerika, dem Nordland und aus Berlin bekommen; der letzte kam von Karl; sie hatte sie alle geöffnet, aber kein Wort gelesen; sie hatte zu viel damit zu thun, das Haus für den Winter herzurichten. Den ihrer Schwester las sie jedoch nachmittags durch; und dieser betrübte sie. Der Schwester ging es nicht gut; Ragni dachte daran, sie zu sich zu nehmen. Die zwei letzten Briefe Karls waren von starkem Heimweh durchfärbt gewesen; er war schwermütig; sie hatte daher keine besondere Sehnsucht nach seinem neuen Briefe. In dieser Zeit las sie einen amerikanischen Roman, einen der besten Howells, ein tiefes, spannendes Seelengemälde; den nahm sie zuerst vor, als sie sich abends in das Studierzimmer setzte. Aber als in der Erzählung etwas an Karl erinnerte, legte sie das Buch weg und las seinen Brief. Wie gewöhnlich ganze Bogen, recht interessant, aber der Ton war so seelenkrank. Als sie an den letzten Bogen kam, sah sie mit roter Tinte die Überschrift: »Lesen Sie das für sich selbst!«

Er schrieb: »Ich bin, seitdem ich Ihren Brief über die Kälte der Schlechtigkeit erhalten habe, in Zweifel gewesen, ob ich Ihnen sagen sollte, daß ich ihn sofort verstanden habe. Ich habe lange gewußt, was man von uns erzählte. Die rohe Verleumdung! Diese war's, die mich im Sommer fast wahnsinnig gemacht hätte, als ich es kurz vor unserer Trennung erfuhr. Ist das nicht furchtbar? Ich dachte, es könne unmöglich etwas kommen, das mich tiefer treffen könnte; aber nun ist es gekommen: Auch Sie haben es erfahren, – das bedeutet natürlich Ihr Brief.

»Ich habe mich wochenlang bedacht. Aber um meinet- und Ihretwillen ist es besser, wenn wir davon sprechen! Lassen Sie es Herrn Kallem nicht erfahren! Ich schäme mich so entsetzlich, ich bin so unglücklich – ja, wüßten Sie, wie unglücklich ich bin! – aber verschonen wir ihn damit!

»Deshalb schreibe ich das auf einen Bogen für sich; später will ich es immer so machen.

»Auch etwas andern wegen, das nun kommt, liebe, liebe Frau!

»Von dem ersten Tage an, als Sie gut gegen mich waren, wurden Sie mir unendlich lieb; ich glaubte nicht, daß Sie oder irgend jemand anderes mir lieber werden könnten. Aber nun sind wir gleichsam in dieser Schande und diesem Schmerz zusammengeschmolzen, wir beide haben allein daran zu tragen; und nun lebe, leide und arbeite ich bei Gott nur in dem Gedanken an Sie. Sie sind in all meinem Denken von Morgen bis Abend und in meinen nächtlichen Träumen.

»Ich liebe Sie, liebe Sie, liebe Sie. Ich schreibe das und weine. Ich liebe Sie, liebe Sie, liebe Sie.

» Vielleicht erschreckt Sie das Wort, erschreckt Sie mehr als das andere, das es hervorgezwungen hat. Aber wenn Sie wüßten, welche Freude es mir macht, es nur niederschreiben zu können und zu wissen, daß Sie es lesen! Sie sind so gut und Sie wissen, daß ich die grenzenloseste Ehrfurcht vor Ihnen hege – – –.«

– Als Kallem um acht Uhr nach Hause kam, war im Speisezimmer das Abendbrot aufgetragen; im Studierzimmer war Licht angezündet und geheizt; aber beide Zimmer waren leer, die Stube finster. Sigrid kam mit dem Thee und erzählte, daß die gnädige Frau zu Bett liege. – Sie lag? War sie krank? – »Sie war wohl hauptsächlich müde, glaub' ich.«

Kallem eilte sofort hinauf. Es war finster; aber im Mondschein sah er einen Arm in weißer Nachtjacke sich ihm entgegenstrecken. »Entschuldige,« sagte sie; »aber ich war so müde und dann betrübte mich ein Brief meiner Schwester. – Nein, zünde kein Licht an! Es ist so herrlich so.« – Welch frischer, gesunder Geruch von ihm ausging; seine Stimme klang kräftig, als er antwortete: »Deiner Schwester?« – »Ja sie sehnt sich von dort oben weg.« – »Wenn wir sie nun hierher nähmen?« – »Ich wollte dich gerade darum bitten. Du bist gut!« Und sie weinte. – »Aber, Liebe, warum weinst du? Ich versichere dich, ich habe es bloß aus dem Grunde nicht früher gesagt, weil du so gern allein sein wolltest.« – »Ja, das ist auch so herrlich. Aber wenn nun eins von uns krank würde?« – »Unsinn! Von uns wird niemand krank. Nun bist du ja wieder munter geworden. – Deine Stirn ist etwas warm. Laß mich den Puls fühlen! – Na, du hast bloß Ruhe nötig. Es war richtig, daß du zu Bett gingst. Ich gehe hinunter und esse; ich habe heidenmäßigen Hunger; so kannst du ruhen. – Du hast von Karl einen Brief bekommen?« – »Ja. er liegt auf dem Pult.« – »Gut, den lese ich beim Essen. Dann habe ich viel zu thun. Gute Nacht denn!« Er küßte sie, sie schlang beide Arme um seinen Hals, zog ihn dichter an sich und küßte ihn. »Du herrlicher Mensch!«

Er ging; sie hörte seine raschen Schritte auf der Treppe und dem Vorsaal, hörte, wie er die Stubenthür öffnete und schloß.

Wieder jener Schmerz in der Brust, den sein Kommen gemildert, sein Schritt verscheucht hatte. Etwas Schweres, Entsetzliches, Unerhörtes, das sie niemals wieder loswerden sollte, und dann fror sie. Die Kälte, die Kälte, die Kälte, – nun war sie in das Innerste gedrungen. Nun verstand sie erschauernd, weshalb der »Walfisch« gekommen war und sich in das kleine Haus nebenan hineingewälzt hatte und nicht wieder heraus wollte. Nun verstand sie, weshalb die andern es zugelassen hatten.

»Nein, nein, wie ist es zugegangen, was hab' ich gethan?« klagte sie und verbarg sich vor sich selber. Wie ein Flüstern in der Meeresbrandung klangen Karls Liebesworte. Armer Junge! Sie lag hier im Dunkeln, um nicht gesehen zu werden und um denken zu können. Was sollte sie thun? Den letzten Bogen hatte sie weggenommen; sollte sie ihn Kallem zeigen? – –

Als Kallem etwas nach 12 Uhr heraufkam, um sich niederzulegen, war sie über all diesen traurigen Überlegungen eingeschlafen. Er zündete das Licht hinter ihr an, sah in ihr Gesicht und horchte auf ihr Atemholen. Sie schlief unschuldig, mit offenem Munde.

Am nächsten Vormittag ging sie vor der Südfront des Hauses auf und ab, gleich verstört und gleich ratlos. Zum erstenmal im Jahre war Schnee gefallen und war schon halb wieder geschmolzen. Auf den Bergkämmen lag dichter Nebel, so dichter, daß er ein selbständiges, undurchdringliches Land zu sein schien, das an die Berge angrenzte und sich, wohin man sah, erstreckte. Sie fror, sie konnte nicht weit gehen, ohne daß sie hinter dem Hause hervortrat und von den vorübergehenden Leuten gesehen werden konnte, und heute konnte sie sich nicht sehen lassen; vielleicht niemals wieder.

Der sonderbare Wettkampf zwischen den Baumarten dort draußen vor den Gehöften! Am weitesten von den Häusern entfernt Nadelwald; bei dem trüben Wetter sah er fast schwarz aus; dann mischte sich Laubwald darunter; langhalsige Espen, verrenkte Birken, die sich hellgelb von dem schwarzen Hintergrunde abhoben; noch näher blutrot strahlende Vogelbeerbäume und Ahlkirschen; dazwischen Bergahorn und andere Bäume in verschiedenen Farben, vom linnengelb bis zum rotgelb. Hohe Erlen und Espen, die zu alt waren, um Laub treiben zu können, ragten mit nackten Zweigen über die Farben der andern wie ein blaugrauer Rauch hinaus.

Sie stampfte mit den Füßen, sie wurden nicht warm. Sie wollte nicht weiter, nicht ins Haus gehen, bevor sie wußte, was sie thun sollte! Wenn es Kallem erfuhr, was dann? Und was. wenn er es nicht erfuhr?

Die Wiesen wurden von schwarzem, gepflügtem Ackerland durchzogen. Sonst mattgrüne, im Herbst besäte Roggenflächen und vereinzelte Kleewiesen. Dort aber, weiter von den Häusern entfernt, mißvergnügte graue Stücke Feld, die niemals beachtet wurden, außer wenn sie geplündert werden sollten; es giebt allzu viele derart hier im Lande.

Juanita? Wie kam sie in dieses Herbstbild hinein, die frischeste, lebendigste Erinnerung an den ersten Frühling? Ach, hier draußen erwacht die Sehnsucht nach den Kindern. Jetzt war sie sicher, daß er nicht da war, wo sie waren; – nun konnte sie zu Rendalens reisen und die Kinder sehen!

Solange diese Reise dauerte, brauchte sie auch nicht zu entscheiden, was das richtigste wäre; und sie brauchte Aufschub. Nur einen kurzen Brief an Karl Meek, daß er nun nicht öfter schreiben sollte, vielleicht später; er sollte benachrichtigt werden. Diese wenigen Worte an Karl! Sollte sie telegraphieren? Nicht von hier aus! Aber sie wollte sofort reisen und unterwegs telegraphieren.

Dieser Vorsatz, dieser innere Befehl ergriff sie so stark, als hätte sie nichts weiter zu thun, als noch einmal die Kinder zu sehen. – Als Kallem etwas später nach Hause kam und sie im Zimmer auf und ab ging, um die Füße zu wärmen, hörte er es von ihr selber, daß sie nun die Kinder sehen müsse, und er bekam den bestimmten Eindruck, daß die Erinnerung an ihre Ehe mit Kule in Sehnsucht nach den Kindern umgeschlagen war; das war ganz natürlich. »Reise sofort!« sagte er; »später wird es zu kalt.« Er meinte ja nicht, daß es gerade heute sein sollte; aber sie wollte es so haben und nachmittags begleitete er sie auf den Bahnhof. – –

Unmittelbar nach ihrer Ankunft bei Rendalens schrieb sie einen verzweifelten Brief; das Zusammentreffen mit den Kindern war fürchterlich gewesen; sie erkannten sie nicht! Auch sie erkannte sie nicht! Sie waren gewiß sehr wohl erzogen, aber nicht ihrer Schwester Kinder, nicht mit ihr selber verwandt – dagegen mit ihm; sein Geschlecht war wohl stärker als das ihre. Große, wohlbeleibte Kinder; sie sahen sie an, als verständen sie nicht, was sie wollte. Und alle diese Fremden, die das beständig beobachteten. Sie wäre sofort heimgekehrt, wenn sie sich nicht so erkältet hätte. – Ein späterer Brief war munterer; nicht etwa, weil sie mit den Kindern besser zufrieden war: sie waren genau so fremd und »ungeistlich;« so oft sie sie mit auf ihr Zimmer nahm, um zu plaudern oder ihnen etwas vorzuspielen, merkte sie, daß sie nicht gern bei ihr waren. Aber das Zusammenleben mit den prächtigen Menschen in und außerhalb der Schule erfreute sie; »hätten wir etwas Ähnliches,« seufzte sie.

Von Rendalen bekam er auch einen Brief, der der Freude der ganzen Kolonie darüber, daß man sie in ihrer Mitte hatte, schwungvollen Ausdruck verlieh. Er brachte die einstimmige Bitte vor, sie noch eine Zeitlang behalten zu dürfen; sie wäre auch von der Reise ermüdet und nicht wohl; sie schiene Ruhe brauchen zu können.

Sie blieb acht Tage, und dann weitere acht Tage. Sie kam mittags an einem kalten Wintertage zurück, war bleich, noch erkältet, schüchtern, unfähig zu sagen, wie entsetzlich es ihr war, wieder unter Menschen zu wohnen, die sie für ein ehrloses Frauenzimmer hielten. Kallem erschrak über die Erkältung und über ihr kränkliches Aussehen; das Ergebnis ihres Wiedersehens war eine Untersuchung ihrer Brust und einige matte Erzählungen; sie war müde und wollte zu Bett gehen.

Kallem fragte, ob Karl geschrieben; hierher wäre kein Brief gekommen. – Sie hätte auch keinen erhalten. – Hätte sie denn nicht geschrieben? – Nein; Karl wäre ihr mit einer Vertraulichkeit begegnet, die ihr nicht gefiele. – Es waren schon öfter Uneinigkeiten vorgekommen, von denen er erst hinterher benachrichtigt worden war, und da sie ihren Mann nicht ansah, fühlte er, daß er nicht fragen sollte.

Mehrere Tage lang hütete sie das Bett. Einen leidigen, trocknen Husten wurde sie gar nicht wieder los; sonst waren gar keine gefährlichen Anzeichen vorhanden. Als sie wieder aufstand, kam sie ihm sehr mager vor; das Gesicht hatte einen matten, krankhaften Zug und um die Augen lagen schwarze Ringe. Sie mußte an die frische Luft; aber sie weigerte sich auf das Bestimmteste, außerhalb des Gartens spazieren zu gehen. Erst sagte sie, es wäre so langweilig; aus dieser Stellung wurde sie vertrieben, nahm aber eine stärkere ein; sie begann zu weinen. Er hielt das für ein wunderliches Zeichen; – sie war doch nicht etwa schwanger geworden? In dieser Hoffnung gab er sich zufrieden und wartete. Dann ging sie im Garten spazieren und erzählte es ihm stolz: schwieg aber darüber, daß sie besonders im Halbdunkel spazieren ging. Inzwischen meinte sie selber wieder gesund zu werden, und das meinte er auch.

Es verging einige Zeit; er wartete auf das, was er am liebsten hören wollte, glaubte mehrere Anzeichen zu sehen, ängstigte sich aber auch ab und zu, da sie ihm abzumagern schien; er konnte sie nicht dazu bringen, ordentlich zu essen. Eines Abends war sie während seiner Abwesenheit wie gewöhnlich draußen gewesen, war in der Dämmerung spazieren gegangen und hatte hinterher Frost und Beklemmungen auf der Brust. Sie schlief, als Kallem sich niederlegte, aber ihr Husten weckte sie. Er zündete Licht an und sah, daß sie die Hand vor die Brust hielt. »Thut es weh?« – »Ja.« – »Wo denn?« – »Hier.« Und sie zeigte auf das rechte Schlüsselbein. »Es sticht dich dort, wenn du hustest?« – »Ja.« Und in demselben Augenblick bekam sie einen heftigen Hustenanfall. Er stand auf, kleidete sich an, legte im Ofen an und klingelte; das Mädchen mußte Medikamente holen und währenddem untersuchte er sie und fragte sie gleichzeitig aus. Da erfuhr er, daß sie gestern abend gefroren, und daß sie am liebsten in der Dämmerung spazieren gehe. »In der Dämmerung!« rief er: da verbarg sie den Kopf in den Kissen. – Nun solle sie aber so vernünftig sein und das bleiben lassen; denn nun müßte sie das Bett hüten, und zwar mehrere Tage. Senfpflaster auf der Brust mochte sie nicht leiden; Brustpillen dagegen gingen an. Er verbarg seinen Kummer unter Spaß und Zärtlichkeit – und wirklich war sie nach einigen Tagen so wohl, wie er nur hoffen konnte. Nunmehr gehorchte sie auch; sie blieb vierzehn Tage lang still im Zimmer. Der Husten kam seltener; die scharfen Stöße rissen ja in der Brust, aber sie fühlte sich sonst ganz wohl, nur recht matt und außer Atem; sie hatte daher auch keine Lust, zu spielen.

Im Garten wurde für sie Bahn gemacht, und hier ging sie mitten am Tage mit Kallem das erste Mal aus, aber sofort wieder ins Haus zurück; – er wurde erst ängstlich, sehr ängstlich; aber aus ihrer Art, sich zu benehmen, schloß er, daß es Laune wäre. Sie fühlte sich indessen matter, als sie zugestehen wollte. Tags darauf versuchte sie es mit Sigrid; schon nach wenigen Schritten kam sie außer Atem und mußte ruhen, bat aber Sigrid, nichts zu sagen; es würde vorübergehen, wenn sie sich üben konnte. Das Wetter wurde mild; unter Mittag waren sogar ein paar Grad Wärme; und sie befand sich besser und konnte länger gehen; Kallem freute sich, als er eines Tages sah, daß sie das Klavier öffnete. – –

Eines Abends erschien Sören Pedersen, bleich und allein – beides ungewöhnlich. Was wäre denn los? Ja, Kristen Larsen ginge um! Kallem lachte laut, Sören verzog keine Miene: Kristen Larsen ginge wirklich um! In den letzten Jahren seines Lebens hätte Kristen Larsen niemals auf seiner Violine gespielt und sie Aune geschenkt. Aber nun spiele er in seinem eigenen Hause Violine! – Wohnte niemand dort? – Nein; das Haus wäre verschlossen; aber er spielte dort! Es hätten es mehrere gleichzeitig gehört; es wäre nicht im geringsten daran zu zweifeln. – Dann hätte sich ein oder der andere Schelm in das Haus eingeschlichen. Wer den Schlüssel hätte? – »Das Geschwisterkind der Frau.« – »Wer ist denn das?» – »Aune.« – »Sieh!« – Aber Aune hat selber mit rund um das Haus herum gesucht; und Aune ist furchtsamer als alle andern.« Ein Mädchen, das ein krankes Kind hatte – Kallem kannte sie, er war ihr Arzt – hatte eines Nachts, als sie draußen war, Kristen Larsen am Hause entlangstreichen sehen! Seitdem hatten es mehrere gesehen. »Keiner zweifelte,« sagte er. Was meinte denn der Herr Doktor dazu, daß Frau Baier, die Frau des Obersten, eines Tages in den Sattlerladen gekommen wäre, um ihnen zu sagen, sie hätte Kristen Larsen im Traume in einer langen Stube unter vielen großen, gelehrten Männern sitzen sehen, die alle buchstabieren lernen sollten. Sie hatte sich gedrungen gefühlt, das Sören Pedersen zu erzählen, den Kristen Larsen verführt hatte. »Und denken Sie sich, Herr Doktor, die Nacht hatten wir beide, Aase und ich, geträumt, die Oberstin käme in den Laden!«

»Ich will Ihnen etwas genau so Merkwürdiges erzählen, Sören Pedersen. Am ersten Tage unseres Hierseins trafen ich und meine Frau Maurer Andersen, Karl Meek, Kristen Larsen, Sigrid, Sie und Ihre Frau im Verlauf einer Viertelstunde!« Sören Pedersen rollte fassungslos seine Kugelaugen: daran wäre nichts Merkwürdiges? – »Nein: denn die hundert andern, die wir trafen, beachteten wir nicht. Ebenso wie Sie, Sören Pedersen, nicht die hundert beachten, von denen Sie und Aase träumen, ohne daß Sie sie tags darauf im Laden sehen.« Das überzeugte Sören Pedersen nicht.

Der Aberglaube lag in der Luft. Der eine riß den andern mit fort; bald sprach die ganze Stadt von nichts anderem, und besonders seitdem sich der Pastor hineingemengt hatte. Seit dem Frühjahr hatte er mit seiner Mutter allein gelebt – seine Frau und sein Sohn waren abwesend und waren erst vor kurzem wiedergekommen –; wahrend dieser Zeit war seine Lehre strenger und strenger geworden, in der letzten Zeit mit einem leidenschaftlichen Gepräge, das Unheil verkündete. Nun verkündete er im Bethause, der Gläubige wisse, daß Geister unter uns lebten und wirkten, und daß viele nach dem Tode ruhelos wandern müßten; das seien gutbezeugte Dinge, die sich in jeder Generation zur Warnung wiederholten.

Als Kallem davon hörte, machte er aus dem Gedanken, den er lange hatte, Ernst, nämlich den, Aune in seine Gewalt zu bringen. Mit Aune war das nicht leicht; er war ein erfinderischer Kopf, der es verstand, der Sache aus dem Wege zu gehen: er besaß eine große Überredungsgabe, mit der er auch Kallem genarrt hatte; aber nun sollte er parieren! Die Frau war völlig damit einverstanden und eines Sonntags vormittags brachte ihn Kallem in ihrer Gegenwart in dem Kontor des Krankenhauses in seine Gewalt – hauptsächlich des Branntweins wegen, dann aber auch, um über die Spukerei ins klare zu kommen, die natürlich niemand anders als dieser Schelm ins Werk gesetzt hatte. Und so war es. Nun gab es eine Schwierigkeit: wurde das bekannt, so war Aune zu Grunde gerichtet: die Frau sah das sofort ein und bat für ihn. Deshalb war hier nichts anderes zu thun, als es ihm zu verbieten – und zu schweigen.

Das hinderte natürlich Kallem nicht, auf seiner Vormittagstour dem Doktor Kent, der ebensowenig wie er selber an den Spuk glaubte, zu erzählen, daß er nun den Mann kenne, der den ganzen Spektakel mit Kristen Larsens Umgehen in Scene gesetzt hatte; der Name könne nicht genannt werden, aber das Ganze wäre planmäßig ins Werk gesetzt worden. Als Doktor Kent Josefine bei einem Kranken traf, gab er ihr Kallems Worte wieder, da er wußte, daß ihr nichts lieber war als eine Nachricht von ihrem Bruder. Beim Mittagessen erzählte der kleine Eduard, der sich Tag für Tag mit den Spukgeschichten zu schaffen machte, nun wäre Kristen Larsen auch zweien Jungen erschienen, einem Sohne Aunes und einem des Laienpredigers! Eduard war Feuer und Flamme. Kurz und bestimmt belehrte ihn die Mutter, daß das ein Betrug wäre; einer der Ärzte in der Stadt wüßte, wer den Betrug ausübe; ein Kristen Larsen ginge nicht um.

Als der Junge aufgestanden war, sagte der Pastor, er fände ihr Benehmen rücksichtslos. »Inwiefern rücksichtslos?« – »Daß du das dem Jungen sagst; du hörtest ja, daß er sich sofort dahinter steckte, daß auch ich an Gespenster glaube.« Der Ton des Pastors war nicht überlegen, nicht einmal vorwurfsvoll, und sie fand, daß er recht hatte; deshalb antwortete sie nicht. Aber die Folgen kamen später und kurze Zeit darauf stand sie im Studierzimmer.

»Ich habe über das, was du vorhin sagtest, nachgedacht.« – Er lag auf dem Sofa und rauchte; er richtete sich jetzt auf, um Platz zu machen; es gefiel ihm, daß sie hereingekommen war. Aber sie blieb stehen. »Soll denn das, was du dem Jungen einmal gesagt hast, ihm für wahr gelten, auch wenn es nicht wahr ist?« – »Nein; aber du konntest es mir doch wohl selber überlassen, die Sache zu berichtigen?« – »Ist es sicher, daß du das willst?« – »Was meinst du damit?« »Ich meine, du fährst fort, ihm vieles zu lehren, woran du unmöglich selber glauben kannst.« – »Was soll das heißen?« Er wurde rot; denn er merkte, daß hier eine Entscheidung bevorstand. Sie sagte: »Ich habe in der letzten Zeit oft mit dir darüber reden wollen, und jetzt kann es geschehen! Du glaubst nicht, daß die Welt so etwa vor 6000 Jahren in 6 Tagen geschaffen worden, oder daß die Sage von den ersten Menschen und den Patriarchen etwas anderes als Sage sind. Ebenso die ganze Geschichte vom Paradiese. Die Erde und die Menschen können nicht ursprünglich vollkommen gewesen sein. Aber du lehrst es den Kindern und in der letzten Zeit auch Eduard.« – Er ging in der Stube auf und ab; sie stand zwischen den Thüren, die in die Wohnstube und auf den Vorsaal führten. So oft er sich ihr näherte, warf er ihr starke, ja mächtige Blicke zu; sie fühlte, daß ein böses Gewissen nicht so aussieht. Und um ihr zu zeigen, in welchem Geiste hier verhandelt werden müßte, blieb er stehen und sagte ruhig: »Wollen wir uns setzen, Josefine?« – »Nein« antwortete sie; »ich kam nur, um sofort wieder zu gehen.«

»Was du Sage nennst,« sagte er »trägt die ewige Wahrheit in sich, daß Gott alles und alle geschaffen hat, und daß die Sünde ein Abfall von ihm ist.« – »Aber warum lehrst du es den Kindern nicht so, sondern in unwahren Bildern?« – »Das Kind erfaßt es am besten in Bildern, Josefine.« – »Dann sage ihnen, daß es reine Märchen sind.« – »Darauf kommt nichts an.« – »Es kommt sehr viel darauf an, daß ein Kind nicht ewige Wahrheiten in unwahren Bildern lernt, – glaube ich wenigstens.« – Er sah, wie leidenschaftlich sie das Ganze aufnahm, und bat sie, sich nicht zu ereifern; es müsse auch ohne das gehen. »Nein,« sagte sie, »ich kann nicht, denn du mußt wissen, daß es sich hier um die Zukunft des Jungen handelt, und um deine und meine.« Sie ging nach dem Pulte, um ihm näher zu kommen, und vielleicht auch, um sich zu stützen.

Aber er ließ sich nicht irre machen. »Wärest du selber von der ewigen Wahrheit so durchdrungen, wie du vorgiebst, Josefine, und protestiertest du ihretwegen, dann hätte das für dich ganz untergeordnete Bedeutung. Das, was wir an seine Stelle setzen würden, steht auch nicht fest; wir wissen, daß es kaum so zugegangen sein kann, wie das ehrwürdige Buch uns erzählt; aber wir wissen nicht, wie es in Wirklichkeit gewesen ist. Nur das wissen wir, daß unser Leben von Gott stammt und in Gott glücklich ist, und laß nur Kinder und Erwachsene die Schöpfung nach der Weise der Väter auffassen – wenigstens bis auf weiteres.« In seinen Worten lag die ehrliche Stärke der Überzeugung, und sie wirkten mächtig. Deshalb schwieg sie lange; aber auf einmal ging sie auf etwas anderes über. »Weißt du, daß auch ich ohne diese grenzenlose Verpfuschung meines Denkens und Wollens in meiner Kindheit anders geworden wäre, als ich jetzt bin?« – »Ja, ich höre,« sagte er kalt, »daß du es in der letzten Zeit dahin gebracht hast, daß der Glaube deines Lebens Unglück ist.« – »Das hab' ich niemals gesagt!« fuhr sie erbleichend auf; »es auch niemals gemeint.« Aber sie fuhr ruhiger fort: »Den Glauben an Gott und die Erlösung durch Jesus habe ich niemals als einen Zwang an meinem Verstande gefühlt. Niemals.« – »Wie hübsch!« sagte er, seufzte aber dann tief auf. – »Ja, wenn du nicht auf mich hören willst,« sagte sie, »so sag' ich dir kurz und bündig, was ich will: entweder hörst du auf, dem Jungen Märchen zu erzählen, die nicht unschuldig sind, wenn sie seinen Kinderverstand einengen können – oder ich halte dich nicht mehr für völlig gewissenhaft, Ole!«

Nicht zum erstenmal sprach sie hart; sie hatten lange, schwere Kämpfe gehabt. Aber niemals hatte sie so hart gesprochen, niemals seinen Glauben angegriffen. Sie hatte ihr Recht, auf ihre Weise zu leben, vertheidigt, – freilich auch mit starken Ausfällen gegen seine Art; sie war seinen Herausforderungen mit scharfen Waffen begegnet; aber bis auf diesen Augenblick hatte sie niemals so etwas gesagt oder Bedingungen gestellt. Er hatte es ihr wohl schon lange angemerkt, daß in ihr sich ein Unwetter zusammenzog; – aber ihr fertiger Vorsatz, von solchem Zorn, solchem Willen getragen, – – nun standen sie sich gegenüber, Auge in Auge; sie wollten die Kraft ihres Willens aneinander erproben. Auch in ihm kochte gewaltiger Zorn auf – und um von vornherein jede Einbildung zu zerstören, sagte er: »Der Junge bleibt bei mir!« – »Bei dir?« – Sie wurde aschgrau. »Hast du mehr Recht an ihn denn ich? Bist du seine Mutter?« – »Ich bin sein Vater. Bibel und Gesetz machen den Vater zum Besitzer des Kindes.«

Nun begann sie auf und ab zu gehen; aber nur zwischen dem Fenster und den Thüren, als wären sie Stangen eines Bauers. Ihr Busen wogte; ihr Atem ging hörbar; ihre Gesichtsfarbe, ihre Stimme, ihre Augen verrieten, in welcher entsetzlichen Aufregung sie sich befand; sie hatte nicht geglaubt, daß er dessen fähig wäre. – »Schämst du dich nicht? Wolltest du den Jungen behalten?« – »Das will ich, so wahr Gott es mir befiehlt. Du sollst unsern Jungen nicht verderben!« – »Ihn verderben? Ich? Nein, nun sollst du es wissen. Von Kind auf hast du gerade damit Gewalt über mich gewonnen. Du bekamst meinen Verstand durch deinen unerschütterlichen Glauben in deine Gewalt, ohne daß ich es merkte, da du gut warst und dich hingabst. Damit verpfuschtest du meine Natur – das thatest du; – sie war anders beanlagt. Du bestimmtest mein Leben, gabst ihm Maß und Ziel, ohne daß ich es selber wußte. Ich sage es, wie es ist, ohne dir dafür Schuld zu geben. Aber du sollst wissen, weshalb du nicht auch über mein Kind Gewalt bekommst! Solange ein Funke Leben in mir ist, bekommst du sie nicht – trotz Gesetz und Bibel. Nun weißt du es, und du wirst es sehen!«

Hätte sie gewußt, daß er schon lange, lange erwartete, daß sie einmal so aufstehen und reden würde, dann hätte sie sich's erspart, es mit solcher Leidenschaft zu sagen. Er selber war seiner Gefühle vollkommen Herr. »Ja, ich habe deine göttliche Natur auf Abwege geführt – das habe ich lange gewußt. Ich habe es mit dem Glauben gethan – der nicht der deine wurde! Liebe, das habe ich erkannt, bevor du reiftest.« Er sagte das in breitem, sicherem Tone. »Nun, dann weißt du es!« schrie sie mit derselben sprühenden Leidenschaft; »dann weißt du's! Dein Glaube wurde niemals der meine; er paßte mir nämlich nicht. Aber dann wurde auch kein anderer mein; ich dachte immer, es wäre Sünde, daß ich nicht wie du glauben konnte; es drückte mich, daß ich nicht alle meine Kräfte auf etwas verwenden konnte, das mein war. Deshalb wurde ich auch nicht wie andere. Es wurde alles verpfuscht!« – »Was hättest du denn werden sollen?« – »Ach, laß mich nun das Schlimmste sagen – Kunstreiterin,« antwortete sie, ohne mit den Augen zu zucken. Er stockte; er traute seinen Augen und Ohren nicht. »Kunstreiterin?« lachte er höhnisch. »Ja, es ist ein großer Verlust für die Welt – und für dich, Josefine. daß du es nicht wurdest!« – »Ich wußte, daß du so denken würdest. Wenn ich aber die Leitung eines Cirkus in die Hand bekommen hätte, hätte ich Hunderten Brot und Tausenden ein gesundes Vergnügen verschaffen können. Das ist nicht wenig – das ist mehr, als die meisten thun. Was habe ich so gethan? Womit habe ich herumgepusselt? Was habe ich erreicht? Daß ich nahe daran bin, dich und mich zu verachten. Was ist aus unserem Leben – und was ist aus unserer Ehe geworden? Kannst du noch behaupten, du fühltest Liebe zu mir? Kann ich behaupten, daß ich dich liebe?« – »Nein, Josefine, wir wissen beide, wen du liebst.« – Wenn auch er, wie ihr Bruder, sie geschlagen hätte, hätte sie nicht rasender werden können – erstens weil es überhaupt gesagt wurde (sie wußte kaum, daß es gedacht war), dann weil es der Mann sagte, der dem Bruder und ihr schuldete, was er war, und trotzdem daran schuld war, daß die Geschwister zerfallen waren. – »Ja, er hat, was du nicht hast!« antwortete sie, um ihn richtig zu verletzen. Übrigens ist es gemein von dir, so etwas zu sagen!« – »So? Glaubst du nicht, daß ich weiß, daß ich dich seinetwegen verloren habe, seinetwegen meinen häuslichen Frieden und damit die Freude an meinem Amt verloren habe – und jetzt seinetwegen in Gefahr bin, mein Kind zu verlieren?«

Seine Stimme zitterte, der Zorn, in dem er begann, ging in bittern Kummer über; und dasselbe geschah mit ihr. Sie hätte laut weinen mögen. Aber keines wollte irgend einem weichen Gefühle nachgeben. Sie stand am Fenster und sah hinaus; er ging auf und ab. Eine lange, lange Pause. Währenddessen kam wieder der Zorn über sie. Sein schwerer Gang klang ihr trotzig: in dem Schweigen lag auch Trotz. Und was er vorhin gesagt hatte, war schändlich.

»Ja,« sagte sie, ohne ihn anzusehen: »du kennst nun die Bedingung. Über solche Märchen wie das, daß Kristen Larsen umgehe . . . darüber sprichst du, und hast sie nicht einmal untersucht. Genau ebenso steht es mit den Märchen vom Paradiese; an die glaubst du nicht einmal und erzählst sie trotzdem! Kann ich so etwas achten? – Da ist mein Bruder ein anderer, ein ganz aufrichtiger Mann! Kommst du meinem Jungen weiterhin mit den Märchen, ohne zu sagen, daß es Märchen sind,« – hier wandte sie sich um – »dann hat unser Zusammenleben ein Ende, Ole. Bei Gott, so soll es sein. Es wird dir niemals gelingen, ihn mir dadurch zu rauben.« Sie ging auf ihn zu: »Hierin gebe ich niemals nach, Ole!« Sie verließ das Zimmer.

*

An demselben Sonntag und zur selben Zeit kam Kallem nach Hause, um zu Mittag zu essen; das geschah bei ihm etwas später als beim Pastor.

Schon durch die Küchenthür sah er Ragni in einer großen Schürze, die bis an das Kinn reichte, dastehen und auf der Küchenbank Gemüse schneiden. Er legte im Vorsaal ab und ging zu ihr hinein; in der letzten Zeit hatte er eine sich beständig steigernde Angst, die er zu verbergen suchte. Warf die weiße Schürze einen bleichen Schein über sie oder war es der Bratendampf in der Küche – sie sah so entsetzlich kränklich aus. Und sie hatte sicherlich geweint. Das schnitt ihm ins Herz. Sie blickte nicht von der Arbeit auf, und sagte nur: »Wir haben Besuch zum Mittag.« – »Wir?« – »Ja, Otto Meek, Karls Vater, ist heute vormittag da gewesen und kommt nun zu Mittag.« – »Wie geht es Karl?« – »Nicht gut. Dort kommt Meek!« Der große, mit einer Pelzmütze bedeckte Kopf Meeks wurde draußen sichtbar; er war jenseits des Zauns; nun bog er herein; Kallem eilte ihm entgegen. Damals, als Meek praktizierte, hatte er sich auch besonders mit Brustkrankheiten abgegeben, die in dieser Gegend Norwegens so weitverbreitet sind, und er verfolgte Kallems Arbeiten in Schrift und Krankenhaus mit lebendiger Teilnahme; Kallem sah sein Kommen gern. Während er ihm beim Ablegen des Überrockes half, sagte er, Ragni habe ihm erzählt, daß es mit Karl nicht gut gehe. »Nein, es geht nicht gut.« – »Woran liegt das?« – »Deswegen bin ich eben hierher gekommen,« antwortete Meek. – »Sie haben mit meiner Frau gesprochen?« – »Ja.« Beide gingen in die Stube; hier war es warm und gemütlich; der Flügel war geöffnet. Hatte sie gespielt, als Meek anklopfte? Dann konnte sie nicht so krank sein, als sie aussah; er sehnte sich danach, sie zu untersuchen.

Heute war Meek ernster und schweigsamer als gewöhnlich. »Nun,« sagte Kallem, »haben Sie sich denn mit meiner Frau über Karl geeinigt?« Meek sah ihn ein wenig verwundert an. – »Sie meinen, daß sie ihm schreiben solle?« – »Ja, z. B. das. Es hat ja – wie so oft – eine kleine Verstimmung vorgelegen?« – »Ja«, antwortete Meek und blieb stumm sitzen. – »Vielleicht glauben Sie, ich weiß etwas davon? Nein, ich weiß nicht das Geringste.« Meek sah mehr und mehr bedenklich aus. »Ich habe Ihrer Frau gesagt, daß sie es Ihnen mitteilen müsse. Es ist ja hübsch von ihr, daß sie es nicht thut. Aber das fängt an eine gefährliche Wendung zu nehmen.« Seine schwermütigen Augen blickten in die Kallems. »Gefährlich, sagen Sie?« – »Ja; ich muß ihn nach Hause kommen lassen.« Kallem sprang von seinem Stuhl empor. Meek fuhr fort: »Es ist völlig nutzlos, daß er dort ist.« – »Was ist dann los? Wollen Sie, daß wir es wieder mit ihm versuchen?« – Kallem dachte an die Möglichkeit eines Rückfalles. Meek sah ihn forschend, fast entsetzt an. »Wie geht es eigentlich Ihrer Frau?« fragte er. Kallem wurde rot. Das traf wie ein Schuß mitten in seine eigene heimliche Angst. »Sie bekam eine häßliche Erkältung, die lange angehalten hat; ich glaubte eine Zeitlang . . . wissen Sie was? Können Sie sie nicht untersuchen?« Sein Zweifel war zur Gewißheit geworden, sein Herz schlug, so daß er selbst sie nicht hätte untersuchen können. Meek fuhr fort ihn anzusehen, und Kallems Angst wurde immer größer. »Wollen Sie sie nicht untersuchen?« – »Ja, natürlich. Haben Sie es nicht gethan?« – »In der letzten Zeit nicht. Ich erschrecke sie nicht gern. Dann kommt sie mit ihrer Phantasie, und das ist bei ihr äußerst gefährlich. Außerdem war es etwas anderes . . . Aber, nun will ich –.« Er wollte zu ihr hinausgehen. »Haben Sie ihren Vater gekannt?« fragte Meek. Kallem erschrak: »Haben Sie –?« – »Ja, ich war dort oben Fischerarzt.« – »Hatte er –?«, fragte Kallem atemlos und unterdrückte den Schluß der Frage. Meek nickte nur; Kallem schlug beide Hände vor den Kopf, eilte nach der Thür, kam zurück: »Ja, Sie wollen sie jetzt gleich untersuchen?« – »Wie Sie wollen.« – Kallem führte sie sanft herein; sie hatte die Schürze noch nicht abgelegt; behutsam zog er sie nach den Fenstern hin. Ja, sie hatte geweint – und diese Ringe an den Augen, diese Magerkeit, diese Farbe –! Sie sah seine Aufregung und deutete sie falsch. In der Küche draußen hatte sie gedacht; – nun sprechen sie wohl über Karl; nun erfährt wohl Kallem, weshalb ich nicht mehr mit ihm im Briefwechsel stehe. Als sie nun Kallems Erregung sah, dachte sie: ist er zornig, weil ich nichts gesagt habe? So etwas ertrug sie nicht; es überlief sie kalt und warm. – »Liebe, liebe Ragni – nun will Herr Doktor Meek deine Brust untersuchen.« Das war es also –! Sie erschrak sehr; sie sah ihn an wie ein krankes Tier, das um Schonung bittet. Aber er bat wieder und fing behutsam an, die hohe Schürze abzunehmen, gehorsam, wie sie war, ließ sie sie gewähren.

Gleich an der ganzen Art, wie Meek innehielt und wieder horchte erkannte Kallem, daß jetzt etwas Entsetzliches dazugekommen war. Ihre entsetzten Augen suchten die des Gatten und vermehrten seinen Schmerz – ahnte sie es selber? Oder lag darin ein Vorwurf, daß er es einen andern thun ließ?

Nun lag der große Kopf an ihrem Rücken. An der rechten Seite Verdichtung der Lungenspitze? Löcher im Gewebe? Er dachte das Schlimmste, – und sie auch, er sah es. Wußte sie vielleicht mehr, als sie hatte sagen wollen? Verheimlichte sie etwas, wie sie ihre Furcht verheimlichte? Gott, so kummervoll fragend blicken die Augen nur in der Todesangst! Sie ergriff ihn selbst.

»Haben Sie in der letzten Zeit ungewöhnlich viel gehustet?« Sie schien unsicher zu sein, was sie antworten sollte und sah Kallem flehentlich an. Ihre Hände zitterten und sie wollte es verbergen, Meek sah es. – »Werden Sie sehr matt, wenn Sie spazieren gehen?« fragte er. Wieder blickte sie verzweifelt auf Kallem, als wollte sie ihn dafür um Verzeihung bitten. »Geraten Sie schnell außer Atem?« fuhr Meek fort. – »Ja.« – »Fühlen Sie sich manchmal recht entkräftet – als wenn Sie ohnmächtig werden wollten?« Jetzt sah sie Kallem in schrecklicher Angst an – »Vielleicht sind Sie schon in Ohnmacht gefallen?« – »Ja.« – »Wirklich?« rief Kallem »Ja, heute,« sagte sie eilig, sie bebte. – »Geschah das, nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte?« – »Ja, – da wollte ich ein wenig frische Luft schöpfen und –.« Die Thränen quollen bei diesen Worten hervor.

Meek wartete eine Weile. »Wenn Sie husten – dann haben Sie wohl hier Schmerzen?« Er zeigte auf das rechte Schlüsselbein. Sie nickte – »Haben Sie irgend einmal Ihren Auswurf angesehen?« Sie antwortete nicht. »Haben Sie es niemals gethan?« – »Jawohl gestern abend.« – »Und –?« – Sie schwieg und starrte zu Boden – »War Blut darin?« Sie nickte, die Thränen strömten, sie wagte nicht mehr aufzublicken.

Kallem stand sprachlos. Meek fragte nicht weiter. Sie ordnete ihre Kleidung. Meek reichte ihr schweigend ein Tuch, das sie abgenommen hatte, als die Untersuchung begann. Und während sie hilflos dasaß und mit dem Anziehen beschäftigt war, that Kallem, als ob er sich erinnere, daß er im Studierzimmer etwas holen wollte. – Er kam nicht wieder. Sie verstand weshalb, und eine Zeitlang zweifelte sie daran, daß sie aufstehen könnte, und hatte das Gefühl, als solle sie ohnmächtig werden; aber der Gedanke an ihn, der im Studierzimmer saß, überwand die Schwäche: sie wollte zu ihm. Deshalb bat sie Meek, sie entschuldigen zu wollen, stand auf und ging auf die Speisezimmerthür zu, und durch sie hindurch und weiter. Auch sie blieb weg.

Meek wartete und wartete. Dann ging er auf den Vorsaal, zog seinen Rock an, benachrichtigte das Mädchen in der Küche, daß er gehen müsse und bestellte Grüße.

Sigrid suchte sie in der Wohnstube; klopfte an die Thür des Studierzimmers, bekam keine Antwort, horchte und öffnete trotzdem. Kallem lag auf dem Sofa, Ragni kniete vor ihm und lehnte sich an ihn. Sigrid sagte leise, das Essen wäre fertig, und Doktor Meek wäre gegangen. Keiner antwortete, keiner sah auf.

Kallem und Ragni hatten bis jetzt geglaubt, der Tag, an dem Ragni nach Amerika abreiste, wäre der schlimmste ihres Lebens gewesen; brieflich und mündlich hatten sie ausgesprochen, sie hätten das Gefühl, als sollten sie sterben. Aber der Tod ist anders; der ist nichts anderem gleich. Das erfuhren sie jetzt. –

Diesem Tage folgte eine lange Zeit hoffnungslosen Kampfes, wortloser Verzweiflung, und freudloser, herzlichster Liebe. Ragni hatte einiges »zu ordnen«, womit sie sich still beschäftigte; sie hatte auch verschiedenes zu schreiben, und das that sie, so oft sie konnte; schrieb, strich wieder aus – nach langer Arbeit war das Ganze sehr kurz. Aber so lange sie mit dem beschäftigt war, was sie sich vorgenommen hatte, fertig zu stellen, so lange ging es ihr halbwegs gut; Kallem war erstaunt.

Er selber hatte allen Mut verloren. Er sah das Schlimmste vor sich. Am längsten sträubte er sich, ihren Auswurf zu untersuchen; er wußte im voraus, daß er den Tuberkel-Bacillus finden würde – den Feind, für dessen Bekämpfung er Leben und Vermögen eingesetzt hatte. In seinem eigenen Hause hatte er ihn überwunden. Aber eines Tages mußte er daran gehen – und fand ihn. Er lief nicht im Laboratorium auf und ab, er weinte nicht, er rang nicht die Hände; er versuchte nur, ob er ohne sie denken könnte; aber immer dachte er an sie. Alle die kleinen Züge, die unbedeutendsten Anzeichen ihrer Anmut und Begabung, ihre Schwachheiten ebenso wie ihre stille poetische Liebe – das alles erlebte er noch einmal mit derselben Freude und demselben Schmerze; alles war ihm gleich lieb, gleich unentbehrlich; – zahllose Erinnerungen voll von Laune, Wärme, Furcht, Schönheitssinn, Hingebung an den Augenblick; sie sahen ihn alle wie mit Augen an. Wo sollte er nun hin, was sollte er noch weiter unternehmen? Sie war auch bei all seiner Arbeit. Ihr Porträt aus dem dritten Jahre ihres Aufenthaltes in Amerika stand dort auf dem Rande des Kamins; es war seiner Zeit gekommen als der erste Abdruck von dem, was ihre geistige Weiterentwickelung an Gesicht und Augen geformt hatte, als eine schöne Bestätigung der Ahnung, die ihn erfüllte, als er sie nach Amerika sandte. Von dem Porträt schauten ihre Augen jetzt wie immer zu ihm herüber; ihr Lächeln hatte ihn während der Wartezeit alles Gute erhoffen lassen; – und welchen Wert hatte es nicht dadurch für ihn gehabt? Nun strömten die Erinnerungen an ihr erstes Wiedersehen hinzu, die ersten Worte, die erste Verlegenheit über das Fremde, das hinzugekommen war, das erste volle ganze Wiedererkennen, die erste Umarmung.

Nur um sich sagen zu müssen, daß nun alles zu Ende ging. Auch alles, was er während des Zusammenlebens mit ihr gedacht und gethan hatte, die Freude darüber, die Kraft, der Glaube. Was war in aller Welt geschehen? Er mußte einmal mit ihr darüber sprechen; es lag etwas vor, das sie verheimlichte. Eine Unvorsichtigkeit, die sie nicht zu bekennen wagte. Was konnte es sein? – Aber er wollte nicht darauf dringen.

Als er dann eines Tages nach Hause kam, fand er sie nicht unten. Und als er hinauf kam, lag sie. Sie streckte ihre Hand aus – wie mager sie geworden war! – und richtete die großen Augen auf ihn mit einem matten, halbverschleierten Ausdruck. »Ich habe mich ein wenig niedergelegt,« flüsterte sie; – »nur eine Weile.« – Sie sah nicht so kränklich aus; vielleicht weil sie lag. Er setzte sich vor ihr Bett und umschloß mit seinen beiden Händen ihre lange, magere Hand.

»Bei alledem,« sagte er, »wirkt etwas mit, von dem ich nichts weiß. Einmal war ich auf ganz falscher Fährte; aber auch später ist es schneller gegangen, als ich dachte – aus dem Grunde, weil ich nicht wachsam genug gewesen bin. Hier steckt etwas dahinter, eine oder die andere große, vielleicht wiederholte Unvorsichtigkeit, mit der ich nicht gerechnet habe. Sag mir es jetzt, Liebe; ich bekomme keine Ruhe.« – »Ich will es dir sagen. Ich habe eben darüber nachgedacht. Unten in meinem Pulte liegen einige Papiere; in dem ersten Fache links; sie sind alle für dich. Die sollst du lesen, wenn –.« Sie unterbrach sich selbst. »Später,« fügte sie hinzu und drückte leise seine Hand. – »Jetzt erfahre ich's also nicht?« – »Ja, das, wonach du fragst, ja. Ich kam nur nicht weit genug.« Sie bat ihn, sie etwas anders zu legen; er half ihr. – »Ja, du sollst es erfahren. Ich habe es bloß deinetwegen verheimlicht« – ihre Augen füllten sich mit Thränen – »du mein –« – wieder ein schwacher Druck und ein Lächeln. Er trocknete die Thränen mit seinem Taschentuch. Sie lag da und sah ihn an und sprach nicht; hatte sie es vergessen oder bedachte sie sich? Er beugte sich zu ihr nieder: »Nun –« fragte er; »du willst es mir nicht sagen?« – »Doch, ja. Das Blatt, das zu oberst liegt, von Karls Hand geschrieben, das kannst du sofort lesen. Das andere nicht.« – »Steht es denn in Karls Brief?« Sie nickte fast unmerklich; dann schloß sie die Augen. »Der Schlüssel?« flüsterte er. »Ja,« antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen und ließ seine Hand lös.

Er ging hinunter, öffnete das Fach und nahm den Brief heraus, den wir kennen; er setzte sich, um ihn genau zu lesen.

Sein Entsetzen! Und sein Zorn – und seine Ohnmacht! Hätte er seiner Zeit etwas davon gewußt! Wie rasend schritt er durchs Zimmer, setzte sich nieder wie gelähmt; – er machte Pläne und verwarf sie wieder, wollte alle Welt aufsuchen und erzählen, daß sie logen. Er wollte eines Tages in das Bethaus einbrechen, wenn es gedrängt voll war, wollte auftreten und sie des feigsten, gemeinsten Mords anklagen . . . und dann dachte er daran, daß Ragni, selbst wenn sie ganz gesund gewesen, an so etwas gestorben wäre.

Er selber lebte und that für seine Mitmenschen nur Gutes, so weit es in seinen Kräften stand, und kein einziger von ihnen war ehrlich, oder dankbar oder nur empört genug, um ihm zu sagen, daß er seinen und seiner Frau guten Namen, die Ehre seiner Ehe schützen mußte. So gering war das Gefühl der Verantwortlichkeit. So viel Raum und Platz war dieser christlichen Gesellschaft für Bosheit und Verleumdung. Nun verstand er seine Schwester: sie glaubte an diesen Klatsch! Besonders also, um mit ihm darüber zu reden, hatte sie ihn an jenem Abend erwartet –! Und aus Zorn über das, woran sie fest und sicher glaubte (was können die Leute nicht alles von einem Freidenker glauben?) hatte sie den »Walfisch« hier in ihre unmittelbare Nähe geholt! Alle glaubten und alle, die nicht sieben gerade sein ließen, verurteilten; – niemand widersprach, niemand kam!

Das sollte Ragnis Lohn für ihre Herzensgüte gegen Karl sein. Sie war um so uneigennütziger gewesen, als sie anfangs – und auch später oft – nur mit Überwindung ihrer eigenen Natur daran ging; erst jetzt hinterher erfuhr er es. Er kannte kein besseres Wesen als sie! Ihre seelensgute Gesinnung, die sollten sie . . .! Die Schurken, die gewissenlosen Seligkeitswächter, die psalmensingenden Egoisten, die kalten Betschwestern! Er las Karls Brief noch einmal; er mußte ihn herzlich bemitleiden. Der arme, arme Junge! Seine Liebe kam ganz natürlich; welcher brave Mann mußte nicht das Wesen anbeten, dem die Leute seinetwegen so bitter unrecht thaten? Die Dankbarkeit und Bewunderung des Jungen mußte dann schließlich Liebe werden. Sobald Karl zurückkehrte, sollte er hierher kommen dürfen! Und hier sollte er bleiben, bis sie den letzten Atemzug tat! Und Kallem wollte sich auf ihn stürzen, auf ihn und keinen andern . . . an jenem fürchterlichen Tage, wo sie hinter ihrem Sarge gingen! Er warf sich auf das Sofa und schluchzte. –

Vielleicht war er allzusehr in seinem Berufe aufgegangen, er hätte mehr mit den Leuten umgehen, sie mehr unter sie führen sollen: dann wäre das niemals geschehen. Keiner, der einen festern Eindruck von ihrer seelenreinen Güte bekommen hätte, hätte es wagen können – freilich wer weiß? Dogmenblinde Gewohnheitstiere sehen nicht.

Sigrid kam gelaufen: Die Frau Doktor wäre so krank geworden – ein Hustenanfall. In neun – zehn Sätzen eilte er durch die Zimmer, über den Vorsaal, die Treppe hinauf; als er kam, war der Hustenanfall vorüber; aber sie lag so in Schweiß gebadet, und so matt, so erschöpft, daß sie gewiß einer Ohnmacht nahe war. Ihr Auswurf war grünlich, mit Blut gemischt – er kannte das. Er erklärte sich: er war zu lange weggeblieben, ihre Spannung war gewachsen, sie war heiß geworden, hatte sich entblößt und dann –. Sie lag mit geschlossenen Augen, und er verhalf ihr zu Schlaf. Seitdem verließ sie das Zimmer nicht wieder.

Von ihrem Bette weg ging er sofort an den Schreibtisch und teilte Doktor Meek mit, was geschehen war, und ohne weitere Umschweife schrieb er: »Wenn Karl gekommen ist, sehen wir ihn wohl bald. Ich weiß nun alles.«

Er ging aus, um eine Krankenwärterin für sie zu besorgen, und sobald er zurückkam, ging er sofort wieder zu ihr; sie fühlte sich wohler und schlief, und als sie endlich erwachte, fielen ihre Augen sofort auf ihn. Er half ihr, gab ihr zu trinken, liebkoste sie, und die Fragen, die ihre Augen an ihn richteten, beantwortete er dadurch, daß er ihre magere Hand küßte, während sein Mund bebte und die Thränen die Brillengläser benetzten.

Aber sie sprachen von ganz andern Dingen – davon, daß ihre Schwester nicht kommen könne, daß er selber Sissel Aune geholt hatte, die bei Ragni wachen sollte: sie passe von allen, die er kenne, am besten dazu, und wäre ihnen treu ergeben. Ragni nickte zustimmend. Sie fuhren fort, einander anzusehen, als wenn sie es nie satt werden könnten. Und beide dachten an das, was beide nun wußten – an die Ursache ihres Siechtums. »Armer Karl!« flüsterte sie. »Armer Karl!« antwortete er.

Er mußte aufstehen und that, als ob er unten etwas vergessen hätte; es gab ja immer einen Vorwand.

Hätte er nur mit ihr reden können! Aber er wagte es nicht – und er hatte auch keine Zeit, mit sich allein zu sein. Er machte seine Besuche im Krankenhause und empfing ein paar Besuche; alles übrige gab er auf, um bei ihr sitzen zu können.

Wie grausam dünkte es ihn, daß er den Leuten sein Vermögen und seine Arbeit geopfert hatte, und sie ihm damit vergalten, daß sie sein Lebensglück mordeten! Mit welchem Maße messen die Leute, wenn nicht ihr bloßer Anblick sie lehrt, daß sie die feinste, reinste kleine Person unter ihnen sei – das konnte er sich niemals erklären; ihre Blindheit war ihm allzu empörend. Von denen, die er kannte, schloß er auf die meisten; – ein gewöhnlicher Mittelschlag, ganz angenehm für gewöhnlich, keiner über mittelmäßig, versteht sich; alle waren Kirchengänger, viele auch Besucher des Bethauses, Pastor Tusts Leibwacht. Unter den letztern hatte er mehrere, gleichfalls ehrbare und vorsichtige Menschen gefunden. Trotzdem so gewissenlos in ihrem Urteil, so liebevoll grausam – lauter fehlerfreie Mörder.

Nicht einer, den er beim Kragen nehmen, dem er sagen konnte: du bist es; dich will ich zur Rechenschaft ziehen! – alle und keiner. Sanfte Mitwisser, liebevolle Mitschuldige. Eine aber stand von allen andern getrennt – Josefine. Josefine hatte die Verleumdung nicht erfunden; das lag nicht in ihrer Natur. Aber wohl konnte sie an die Verleumdung glauben, wenn es sich um jemand handelte, den sie haßte. Mit eiskaltem Schweigen ließ sie dann den bösen Glauben der andern bestehen – oder ließ ihn wachsen. Wie zürnte er ihr jetzt! Trotzdem sie zweifellos nicht Urheber war – das mußte er immer wiederholen, sie hätte kaum die Verleumdung über ihre Lippen gebracht, dazu war sie zu vornehm. – Josefine war für diesen Mord am meisten verantwortlich! Er war davon überzeugt, das die christliche Dogmensucht auch in ihr, so wenig christlich sie selber war, sich von dem Unglauben des kleinen Menschenkindes beleidigt gefühlt hatte und davon, daß eine so fehlerhafte Person ihren Glauben zu verwerfen gewagt hatte. Daher die große »Gerechtigkeit«, die so sicher und wohlwollend tötete.

Aber so weit war er mit ihr verwandt, daß auch sein Inneres von den Gefühlen heißester Rachsucht durchtränkt war. Auch er nannte sie »Gerechtigkeit«, und hatte keine Ahnung davon, daß er log. Wenn er bei Ragni saß, fühlte er nichts davon; schon ihre Nähe machte ihn gut. Dort wurde er, wenn ihm diese Gedanken kamen, aufs tiefste bewegt, drückte ihre Hand, strich über ihre Stirn, sah ihr in die Augen, half ihr – bis er gehen mußte; sonst wäre er niedergekniet und hätte seine Selbstbeherrschung völlig verloren.

Da saß nun die prächtige Sissel Aune. Ihre schwarzen Augen wachten mit verständiger Ruhe und sahen zuweilen teilnahmsvoll nach ihm. In ihr hatte er alle die zugegen, denen er etwas gewesen war, und die gern geholfen hätten, wenn sie es jetzt konnten. Aase oder Sören Pedersen schlichen jeden Morgen in die Küche, um zu erfahren, wie es ginge; und nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, kamen mehr und immer mehr, alle still und teilnahmsvoll. Sigrid war es schwer, zu Ragni zu gehen, da sie weinen mußte; sie kam aber trotzdem, z. B. wenn die Frau Oberst Baier eine hübsche Topfpflanze in der strengen Kälte unter dem Mantel getragen brachte, die sie im Winter durch liebevolle Pflege gezogen hatte; die mußte in das Krankenzimmer gestellt werden, damit Ragni sie sehen konnte. Ein Mädchen, dessen Kind Kallem von einer harten Krankheit gerettet hatte (dieselbe, die Kristen Larsen umgehen sah!), sie besaß auch eine Blume, eine einzige, und brachte sie, als sie von der Gabe der Frau Oberst hörte. Sie stand freilich in einem sehr einfachem Topf, aber immerhin –.

Als Kallem eines Tages im Krankenhause gewesen war, und zurückkehrend in Gedanken durch den Vorsaal ging, sah er dort fremde Reisekleider hängen. Bevor er selber ablegte, öffnete er die Stubenthür; am Verandafenster standen Otto und Karl Meek. Karl drehte sich zuerst um, kam herbei und umarmte Kallem. Er sah kränklich aus und hatte etwas Unruhiges, beinahe Verwirrtes in seinem Wesen. Sein langes Haar war in Unordnung, sein schon an und für sich großes, ovales Gesicht schien noch größer geworden zu sein; in den Augen glänzte ein schmachtendes Feuer, das Kallem nicht kannte. Sie folgten unverwandt den seinen. Auf Schritt und Tritt verfolgte ihn eine Bitte um Nachsicht, eine Geschichte von einem großen Schmerz, die diese Augen erzählten. Karl konnte seine Bewegung nicht bemeistern, nicht ruhig sein, und als Kallem auch mit dem Vater sprechen mußte, begann er sich umzusehen, stand am Flügel, ließ die Hand über die Tische gleiten, betastete die Blumen, blätterte in den Noten – ging dann ins Speisezimmer, ins Studierzimmer, war dort allein, ging dann in die Küche zu Sigrid und hier blieb er. Kallem sah sich wiederholt nach ihm um; Doktor Meek bemerkte es und sagte: »Wir Meeke haben alle starke Gefühle. Wir haben versucht, sie zu zähmen; aber der dort kann die seinen nicht zähmen; auf der einen Seite werden sie eingeschränkt, um auf der andern wieder auszubrechen.« Karl kam ganz verweint herein; Kallem wünschte, er solle nicht zu Ragni hinaufgehen; auf jeden Fall mußte man warten, bis er ruhiger geworden wäre. Er selber versicherte, daß er oben sofort ruhig werden würde; er bat herzlich darum, sie sehen zu dürfen; aber es nützte nichts. Diesen ganzen Tag kam er nicht zu Ragni; abends ging es mit ihr am schlechtesten, deshalb erfuhr sie nicht einmal, daß er da war.

Als am nächsten Vormittag in Ragnis Zimmer alles hergerichtet war, benachrichtigte Kallem sie, daß Doktor Otto Meek in die Stadt gekommen und gestern dagewesen wäre, um sich nach ihr zu erkundigen. »Und Karl?« sagte sie. – Ja, Karl wäre mitgekommen. Sie lag eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. »Ich muß es hören können, wenn unten gespielt wird.« – »Ja, wenn die Stubenthür geöffnet wird; aber dürfen wir –?« Der Vorfall war warm und abgeschlossen, durch ihn wurden auch die Zimmer oben gelüftet, – wenn nichts im Wege stand. »Aber glaubst du, daß du Musik ertragen kannst?« – »Ich sehne mich nach Musik,« antwortete sie. Sissel Aune sah den Doktor an; sie meinte sicher, es ginge nicht. »Karl darf dich nicht begrüßen?« Ragni faltete mit der einen Hand den Zipfel der Betttücher zusammen; in der andern hielt sie das Taschentuch; sie antwortete nicht; es behagte ihr offenbar nicht. »Aber Doktor Meek darf dich wohl begrüßen?« – »Kann das nicht vermieden werden?« Kallem wünschte, daß er sie sähe. Im Verlaufe des Tages kam Doktor Meek, und Kallem erzählte ihm alles. Karl bat demütig, hinter den andern an der Thür stehen zu dürfen. Er wollte kein Wort sagen, keine Bewegung machen und sofort wieder gehen. Kallem fühlte mit ihm Mitleid und konnte es ihm nicht abschlagen. Er ging zuerst ins Zimmer und meldete Doktor Meek an; dann kam dieser. Doktor Meeks breiter Rücken verdeckte Karl, der an der Thür stand. Ragni lag dem Fenster ab- und der Thür zugewandt. Sie sah Karl nicht, aber er sah flüchtig ihr abgemagertes, hohlwangiges Gesicht, die Fieberrosen und die trockenen Lippen; die Augen glichen in ihrem Glanze langen Notrufen. Sissel trat von der andern Seite heran, um Ragni zu stützen und den zehrenden Durst, der sie Tag und Nacht plagte, zu löschen.

Meek stellte verschiedene Fragen, sie antwortete zerstreut und blickte scheu nach beiden Seiten an ihm vorüber; ahnte sie, daß Karl zugegen war? Später legte sie sich wieder und Sissel ging wieder beiseite; da hätte sie Karl sehen können, aber er war schon gegangen.

Später fanden sie ihn zusammengekauert und verzweifelt in der Stube. Er bat, dableiben zu dürfen, und sein altes Zimmer wieder zu bekommen; – selbst wenn er sie nicht wieder zu sehen bekäme – er könnte nicht aus dem Hause gehen. Kallem wagte nicht, es abzuschlagen; der Vater schien es auch zu wünschen. Etwas an seinem ganzen Zustand ängstigte beide.

Am nächsten Vormittag spielte Karl; die Thür stand unten offen, die des Krankenzimmers war angelehnt; es klang gedämpft und schön. Er hatte Fortschritte gemacht; das Stück kannte sie nicht, aber es ergriff sie; sie ließ ihn grüßen und danken. Später spielte er noch ein Stück, den nächsten Vormittag auch. Schließlich durfte er heraufkommen und sie begrüßen. Karl versprach still zu sein, ach so still! und nur einen Augenblick zu bleiben. Schon auf dem Vorsaal ging er auf den Zehen und glitt wie ein Schatten ins Zimmer. Trotzdem fiel es ihm sehr schwer, sich zu beherrschen. Aber sobald er wie in vergangenen Tagen unter der Macht ihrer Augen stand, fühlte er, daß sie sich vor ihm fürchtete und es am liebsten sah, wenn er ginge. Dies entmutigte ihn; er stand da wie eine zaghafte Bitte, bleiben zu dürfen. Sie merkte die Veränderung in ihm; Kallem ergriff ihre Hand, und sie wurde nun ruhig. Je länger er dastand, um so mehr bemitleidete sie ihn. Er hatte gelitten, er war ein guter Mensch, sie versuchte zu lächeln, ja sie streckte ihre magere Hand aus. Karl sah Kallem an und ergriff sie nicht; er ging auch nicht vorwärts; aber die Bewegung stürmte auf ihn ein, und wie um sie zu beschwichtigen, flüsterte sie: »Guter Karl!« Er ging.

Seit diesem Besuch war er still und in sich versunken, als ob er über ein Unternehmen nachgrübelte. Er sprach seltener mit Kallem, sonst mit niemand. Jeden Vormittag durfte er einen Augenblick im Krankenzimmer sein; spielte unten für sie und war den ganzen Tag mit sich allein.

Als er eines Vormittags wieder spielte, hörte sie gleich an dem ersten Anschlag, daß es eine eigene Komposition war. Früher hatte er schon ein paarmal kleine Stückchen gespielt, die sie als sein Eigentum erkannte; jetzt folgte er neuen Vorbildern; das Eigentümliche seiner Begabung litt darunter. Dieses neue Stück war der Anlauf zu etwas Größerem, eine wilde Einleitung, Leidenschaften in Sturm – Gott, das soll er gewiß selber sein, dachte sie. Mitten in dem Brausen wurde es still, und da kam eine treuherzige, muntere Melodie; die soll wohl ich sein? Dann begann es rings um diese friedliche kleine Melodie zu schreien und zu heulen – einige Takte Melodie und mehrere Takte Jammer und Geschrei, das erste Thema brauste und schäumte über das andere; es war natürlich gemacht – zu natürlich, denn es wurde unwiderstehlich komisch. Sie mußte sich zwingen, um nicht zu lachen; sie ertrug so etwas nicht. Sie sah Aune an, um sie zu bitten, hinunterzugehen und der Sache ein Ende zu machen; aber Sissel Aunes kluges Gesicht war selber so verwundert über diese natürlichen Schreie – nein, können denn die Leute auch in der Musik schreien? Der letzte, noch erhaltene Rest von Ragnis alter Lustigkeit machte sich in einigen Lachsalven Luft – und dann kam der Husten! Wieder und wieder Husten – schlimmer, als sie ihn bisher gehabt hatte.

Karl hörte während des Spielens, daß es in der Küche läutete; er hörte Sigrid die Treppen hinaufstürmen und kurz darauf zurückkommen und nach dem Doktor rufen. Karl wußte, daß er ins Krankenhaus gegangen war, lief selber ohne Mantel und Hut hinaus, fand ihn aber nicht sofort, sie kamen daher erst zurück, als der Anfall schon vorüber war. Im Auswurf mehr Blut als gewöhnlich; Karl, der mit hinaufgegangen war, ohne es selber zu wissen, sah, daß Kallem sehr erschrocken war, und zog sich daher auch gleich zurück.

Im Verlauf des Vormittags wurde das Zimmer gelüftet und Kallem blieb oben; da kam Karl hinauf und hörte ihn reden; er wagte daher hineinzusehen. Ragni lag ermattet da, aber Kallem hatte eben gefragt, ob sie sich nun nicht erleichtert fühle. Sie erblickte Karl, sah sein großes, entsetztes Gesicht. Sie erinnerte sich, daß sie ihn ausgelacht hatte und hatte von Kallem gehört, daß er in seiner Angst ohne Hut und Rock nach ihm gelaufen war. Da gab sie Kallem ein Zeichen, daß Karl hereinkommen könne. Sie lächelte ihm zu, hob sogar ein wenig – freilich sehr wenig – die Hand; war es, um zu danken? Er wagte sich näher heran, wollte heute die Hand fassen. Er wollte mehr, wollte sich über sie beugen; da kam ein Glanz in seine Augen. Kallem, der an Ragnis rechter Seite stand, sah es, sah zugleich, daß sie in der Hand, über die er sich beugen, die er vielleicht küssen wollte, das Taschentuch hielt und sagte daher schnell: »Thu es nicht, Karl!« – Karl richtete sich auch wieder empor, und sah beide an; aber wieder kam dieser wunderliche Glanz in seine Augen, und im Nu hatte er sich über Hand und Taschentuch gebeugt und beide geküßt. Bevor ein Wort gesprochen werden konnte, hatte er sich wieder erhoben und stand da, als ob er sich schlagen wollte, oder als hätte er eine große That ausgeführt. Ragni lag mit hoffnungs- und verständnislosen Augen da; seine kriegerische Haltung, seinen hohen Vorsatz verstand sie nicht, aber um so sicherer seine entsetzliche Unberechenbarkeit. Bald war er verschwunden.

Wenn er mit ihr sterben wollte, war es ein Irrtum, der unter andern Umständen hätte spaßhaft wirken können, besonders wenn man in Betracht zog, daß sie selber eben von ihrem Anfall hergestellt und das Taschentuch frisch war. Aber Kallem dachte nur daran, daß verrückte Leute die besten Absichten in das ärgste Gegenteil verkehren können; – sie war erschreckt worden.

Sobald als er konnte, suchte er Karl auf; dieser stand eben fertig angezogen, um auszugehen. Aber Kallem rief: »Wo willst du hin?« Karl antwortete nicht, er war erregt und wollte durchaus fort. Kallem zog ihn ins Zimmer, sah ihm fest ins Auge und legte dann den Arm um seinen Nacken. Da brach Karl in Thränen aus. Er wäre ein unmöglicher Mensch, klagte er, überflüssig und fertig, bevor er begonnen, er taugte zu nichts. Kallem konnte lange gar nicht zu Worte kommen; er wollte auch nichts von Trost wissen, er wäre zu elend und unwürdig, er besäße auch ganz und gar keine Begabung. Seine letzte Komposition, die wie keine andere seinem Leben entsprungen, so wahr, wie er nur etwas schaffen könnte, hätte er heute vormittag gespielt und da sei sie ihm komisch, fürchterlich komisch vorgekommen! – Aha, dachte Kallem, ist das der Haken?

Und so war es. In ihrer Nähe bekam er auch unwillkürlich ihr Urteil.

Kallem erkannte, welcher Fehler es war, ihn hierher kommen zu lassen! mit Schrecken dachte er daran, was Ragni seiner Zeit mit ihm hatte ausstehen müssen. Es kostete ihn jetzt selber nicht geringe Mühe, ihn im Gleichgewicht zu erhalten.

Als sie eines Tages nach Karl fragte, sagte er: »Du hast gewiß mehr Mühe mit ihm gehabt, als ich erfahren habe?« Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und lächelte.

Karl kam nicht mehr zu ihr hinauf, bat auch nicht mehr darum. Während all seiner Selbstquälerei konnte er nicht spielen; Kallem mußte ihn geradezu dazu zwingen, ein paar seiner eignen kleinen Stücke zu spielen. Das geschah hinter geschlossenen Thüren; aber Ragni hatte es trotzdem gehört und sagte Kallem, sie wären gut, was er auch selbst meinte. Hierüber freute sich Karl wieder; in aller Stille kehrte ein Teil seines Selbstvertrauens wieder zurück – und allmählich wurde er liebenswürdig.

Sobald es in Kallems Umgebung ruhig geworden war, kam die Reihe an ihn. Seine Kraft war nicht immer dem Kampfe gewachsen, und Karl bekam endlich ein Gefühl davon, daß es hier noch andere gab außer ihm, die litten und deren man sich annehmen konnte. Und nun schlug er ganz um und lebte ausschließlich für Kallem, aufmerksam und erfinderisch in seiner Fürsorge. Ein Trostmittel, das niemals versagte, wandte er oft an: er sprach von Ragni, schilderte sie eingehend. Er konnte das Eigentümliche in ihrem Wesen und ihrer Natur feinsinnig wiedergeben; ein Wort oder eine Handlung von ihr künstlerisch zeichnen; und nach der Vergötterung, mit der er sein Bild ausstattete, verlangte Kallem gerade; er verlangte nach der leuchtenden Wärme des Mitgefühls; denn je mehr ihre Entkräftung zunahm, um so mehr sank seine Kraft. Sie konnte den Kopf nicht auf dem Kissen halten, bald glitt er nach dieser, bald nach jener Seite; ihre Augen hatten etwas Übersinnliches, das alles, was sie ansah, verklärte; ihre dünnen stimmlosen Lippen standen in Atemnot offen; wie sie in dem weißen Zimmer zwischen den weißen Laken in weißer Tracht dalag, glich sie einem Etwas, das federlos in einem verlassenen Daunennest nach Luft schnappte. Oft, wenn Kallem von ihr kam und seinen Kummer nicht bewältigen konnte oder zu müde wurde, war es Karl, der ihn dazu vermochte, zu ruhen oder das rechte Wort fand oder auch in einem endlosen Lobgesang auf sie ihn allmählich die Gegenwart vergessen ließ.

Sie konnte nur wenig sprechen, hatte auch keine Lust dazu; aber was sie sagte, deutete darauf hin, daß sie keinen Augenblick, wie andere Brustkranke zu thun pflegen, ihren Zustand verkannte. Eines Tages bat sie Kallem durch Zeichen, sich tiefer zu ihr niederzubeugen. »Kristen Larsen,« flüsterte sie; »dort in der Ecke.« Dann lächelte sie und fügte kurz darauf hinzu: »Nun fürchte ich mich vor ihm nicht mehr.« Ein andermal ließ sie Kallem holen, bloß um ihm zu sagen: »Du darfst meinetwegen niemand gram werden.« Sie nannte keinen Namen. Kallem drückte ihre dünne Hand; ihre Augen umflossen ihn in einem Himmel von Güte. Zuweilen versuchte sie ihre Worte mit einem Lächeln zu begleiten, das sie nicht mehr besaß. Sobald sie Thränen in seinen Augen sah, winkte sie ihn zu sich nieder und strich ihm mit ihren Fingern durchs Haar. Als er ihr einmal in dieser Stellung für alles von der ersten Begegnung bis jetzt dankte, versuchte sie ihn an den Haaren zu zupfen; er solle so etwas unterlassen.

Seitdem sprachen sie kaum noch ein Wort miteinander; sie bedienten sich der Augen- und Zeichen-Sprache. Sie waren einig in ihrem Schmerz, und hatten alles gesagt, was sie zu sagen hatten. Um der Dankbarkeit, die sie erfüllte, und dem Grauen vor der Trennung Ausdruck zu geben, reichten die Worte auch nicht aus. Die Stunde kam.

Eines Nachmittags hörten sie Sissel klingeln, klingeln und immer wieder klingeln. Sigrid, Kallem, Karl stürzten hinauf; dieser blieb draußen stehen. Er hörte, daß wieder ein entsetzlicher Hustenanfall eingetreten war. Er faßte es nicht, daß sie noch so viele Kräfte hatte; jeder Ausbruch des Hustens riß und schnitt durch seine Brust. Ihr Schmerzensgestöhn in den Pausen trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, er konnte es nicht mit anhören und wagte nicht zu gehen. Das mußte ihr letzter Augenblick sein. Er hörte Sigrid weinen, er hörte sie sagen: »Frau Doktor!« – und bald darauf: »sie stirbt!« Da öffnete er die Thür. Das erste, was er sah, war Blut, er wurde ohnmächtig und sank zusammen.

Er erwachte auf seinem Bette; Sigrid saß davor und weinte. Das bemerkte er zuerst; dann erinnerte er sich an das andere und fragte: »ist sie tot?« – »Der Doktor glaubt, nun geschieht es bald!«

Später durften beide ins Krankenzimmer kommen. Sie lag wie schlafend im Bett, weiß wie die Betttücher, zwischen denen sie lag. Kallem hielt ihre Hand; die Hinzukommenden sahen sein Gesicht nicht, aber zuweilen ein Rucken in den Schultern, und hörten ihn stöhnen. Auf der andern Seite stand Sissel. Wie wunderlich es war, so verschiedene Grade des Schmerzes zu sehen. Wenn auch ihr starkes, offenes Gesicht viel Mitgefühl zeigte: – es war das eines Fremden, meilenweit entfernt von der stummen Verzweiflung Kallems. »Ist sie tot?« flüsterte Sigrid. Sissel schüttelte den Kopf. Und Ragni hörte die Frage; sie blickte auf. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft wollte sie sie noch einmal dadurch erfreuen, daß sie – man kann nicht sagen, zu lächeln, denn das vermochte sie nicht: nein – ihnen einen Gruß zu senden versuchte. Sigrid und Karl fingen ihn auf; aber sie blickten sofort auf Kallem. Kurz darauf war sie tot.

Die andern gingen; Kallem blieb sitzen.

Als er herunterkam, fand er niemand. Karl war in sein Zimmer gegangen, Sissel und Sigrid saßen im Zimmer der letztern. Die Küche stand leer, die Stuben leer, das Studierzimmer leer. Er hatte ihr versprochen, etwas, das sie geschrieben, zu lesen . . . ja, es lag unter Karls Brief und trug die Aufschrift: »Später.« Aber er konnte nicht und auch kaum, so lange sie im Hause war. Er stellte sich vor ihr Bücherbrett und sah in ihm – ein Bild von ihr. Wie oft hatte er das gethan und gelächelt beim Lesen der Büchertitel. Seine Augen fielen jetzt auf den Rücken von Henrik Ibsens »Wildente.« Groß, wie er war, konnte er das Buch von oben sehen und bemerkte daß am Schluß einige Blätter ausgeschnitten sein mußten; deshalb nahm er das Buch heraus. Sie hatte die Blätter, auf denen Hedwigs traurige Geschichte abschließt, wie sie sich erschießt und was dann weiterhin folgt, herausgeschnitten. Sie hatte es herausgeschnitten: das hätte nicht geschehen sollen.

Nichts hätte ihn tiefer ergreifen können. Er warf sich auf das Sofa und weinte wie ein mißhandeltes Kind. Sie war natürlich zu fein und zu furchtsam; die Welt, in der wir kämpfen, ist noch zu roh; eher können solche Wesen nicht leben, als bis sie besser geworden ist. Sie versuchte, ob sie nicht das, was ihr nicht gefiel, aus der Welt herausschneiden könnte: aber sie war herausgeschnitten worden.



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