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Draußen auf dem Lande, fünf Kilometer von der Stadt entfernt, hatte sich das junge Volk versammelt. Der Hügel, auf dessen der Bucht zugewandtem Teile sie saßen, war von ihren Sommerkleidern, besonders denen der Mädchen, bunt gefärbt;
»gelbe, schwarze, braune, weiße,
grüne, blaue, violette –«
– einige einfarbig, mehrere gesprenkelt, gewürfelt, gestreift; Filzhüte, Stroh- und Tüllhüte, Mützen, unbedeckte Köpfe, Sonnenschirme. Harmonischer Gesang stieg jetzt eben von diesem Farbenmeere empor; Töne eines gemischten Herren- und Damenchors in langen, farbigen Bogen. Kein Leiter; ein junges Mädchen von dunklem Teint in braungewürfeltem Kleid lag mitten in der Schar, auf den einen Ellbogen gestützt, und sang vor, mit freierem, hellerem Sopran, als die andern; und ihr folgten sie. Sie waren gut eingeübt. Unten in der Bucht lag vor ihnen ein neubemaltes Schiff mit zur Hälfte aufgebundenen neuen Segeln; das Wasser lag völlig ruhig da.
Der Gesang und das Schiff gingen einen lichten Bund ein dort auf dem schwarzen Gewässer, das von nackten Bergen, die höher und höher aufstiegen, überschattet und eingeklemmt wurde. Die Bucht glich einem Bergwasser, das sich einmal bei der Überschwemmung gebildet hat und dann vergessen ist. Die Berge, so schwerfällig und stumpf in Linien und Farben, knorrig und bleiern schwer, die hintersten schwarzblau mit schmutzigem Schnee auf der Kuppe, alles Ungeheuer.
In dem schwarzen Wasser lag das Schiff, fertig zum Tanze hergerichtet; es gehörte zu einer frohern Gesellschaft, als jener hohen Beisitzer des Natur- und Menschenlebens. Der Gesang und das Schiff waren ein Protest gegen alles Überragende, Herrschsüchtige, alles Stumpfe und Rohe – ein frei schwebender Protest, stolz vor Farbenfreude.
Im übrigen merkten die Berge von dem Protest nicht mehr, als die Jugend fühlte, daß sie ihn erhoben. Das Große, in einer Natur wie der des westlichen Norwegens geboren und aufgezogen zu sein, liegt gerade darin, daß die Natur die Menschen zum Widerstande zwingt, wenn sie nicht unterjocht werden wollen; entweder unter oder über. Und sie waren über; denn das Volk im Westlande ist das lebhafteste, höchstbegabte Skandinaviens. In dem Maße sind sie Herren über die Natur, in der sie leben, daß auch nicht einer von diesen jungen Leuten diese Berge als schwer oder farbenkalt fühlte; die ganze Natur schien ihnen hier stark und frisch wie nirgends sonst in der Welt.
Auch hatten nicht bloß die lichten Halden und das weite Meer die, die jetzt hier saßen und sangen und zuhörten, geboren und auferzogen; nein, sie waren nicht minder Kinder der Berge. Kurz vor dem Gesang hatte zwischen ihnen ein Wortwechsel stattgehabt, so unbarmherzig hart, so bleigrau wie nur ein Berg. Gerade um dieses steinerne Unbehagen in sich selber zu überwinden, hatten sie den harmonischen Gesang lange, strahlende Bogen zwischen den Spitzen über den Abgründen bauen lassen. Der Sommertag war an sich selbst etwas grau; aber zuweilen, wie gerade jetzt, brach die Sonne hindurch in den Gesang hinein, über Segel und Landschaft.
Hier saß ein Paar, auf das Sonne und Gesang keine Wirkung ausübte. Sieh ihn an, der dort unten, rechts, im Grase liegt, auf den Ellbogen gestützt; ein langer Bursche in hellem Sommeranzug, ohne Hut; ein runder Kopf mit kurzgeschnittenem Haar, breite, schmale Stirn, die wie gegen jeden Stoß gefeit aussah; die Stirn mußte in seiner Knabenzeit gute Stöße ausgeteilt haben! Unter der Stirn eine Nase wie ein Schnabel und scharfe Augen, die gerade jetzt etwas schielten; entweder verdeckten es die Brillengläser, so daß es kaum zu sehen war, oder es war an sich unbedeutend. Das ganze Gesicht hatte etwas Strenges, der Mund war straff, das Kinn scharf. Aber sah man näher zu, so veränderte sich der Eindruck; das Scharfgeschnittene wurde mehr zu Energie als zu Strenge, und der Wille, der in dieser Berggegend seinen Sitz aufgeschlagen hatte, konnte sicherlich auch freundlich und schelmisch sein. Selbst jetzt, wo er dasaß und wütend war und sich weder um Gesang noch Sonnenschein kümmerte – er wünschte mehr eine Schlägerei – selbst jetzt schoß ein Schein von Humor über die finstern Brauen. Er war offenbar der Sieger.
Zweifelte jemand daran, so brauchte er bloß einen Blick auf die andere Seite der Schar zu werfen, auf ihn, der dort links, an einen Baum gelehnt, saß. Das war das Bild eines verwundeten Kriegers, leidend und die zitternde Unruhe der Schlacht noch in seinen Zügen. Ein langes blondes Gesicht, das nicht dem Westlande angehörte, vielmehr der Gebirgsgegend oder dem Oberlande. Entweder war er fremd oder stammte aus einem eingewanderten Geschlecht; er ähnelte auffällig den gewöhnlichen Bildern von Melanchthon, aber vielleicht war der Blick etwas schmachtender, die Augenbrauen vielleicht etwas zu sehr in die Höhe gezogen; die Ähnlichkeit im ganzen, besonders in Stirn, Augenstellung und Mund war so groß, daß er unter seinen Studiengenossen den Namen Melanchthon führte. Es war Ole Tust, jetzt Student der Theologie, der bald ausstudiert hatte; und der andere, der Sieger mit dem Adlerschnabel (der jetzt wohl hart zugehauen hatte), das war sein Jugendkamerad, der Mediziner Eduard Kallem.
Seit mehreren Jahren waren ihre Wege auseinandergegangen, ohne daß es deshalb zum Zusammenstoß gekommen wäre; jetzt geschah das, was die Entscheidung herbeiführen sollte.
Mitten zwischen ihnen, also mitten auf dem Hügel, von den Sängern umgeben, saß eine hochgewachsene Frauengestalt in geblümtem Seidenkleide, um den Hals eine breite gelbe Spitze, die in tiefen Falten über den Leib bis an den Gürtel reichte. Sie selbst sang nicht; sie ordnete einen ganzen Berg von Feldblumen und Gräsern zu einem Kranze. Man konnte sofort erkennen, daß sie die Schwester des Siegers sein müsse, nur daß ihre Haut und ihr Haar dunkler war. Dieselbe Form des Kopfes, wenn ihre Stirn auch verhältnismäßig höher war, wie das ganze Gesicht verhältnismäßig größer, zweifellos allzu groß war. Die scharfe Nase des Geschlechts hatte in ihrem regelmäßigen Gesicht eine sanftere Beugung; seine schmalen Lippen waren hier voll, sein Kinn gerundet, seine unebenen Augenbrauen ebenmäßig, die Augen größer – und doch war es dasselbe Gesicht. Der Ausdruck der Gesichter war verschieden, der des ihrigen, wenn nicht kalt so doch verschlossen und ruhig; keiner konnte schnell diese tiefen Augen deuten; – und doch war auch der Gesichtsausdruck noch verwandt. Der Kopf saß auf einem starken Hals, von prächtig geformten Schultern getragen; auch die Büste war kräftig. Das dunkle Haar war zu einem ihr eigentümlichen Knoten verschlungen. Der Hals stand frei; aber das Kleid mit der gelben Spitze schloß dicht an den gebräunten Leib, wie die ganze Kleidung den Gedanken an etwas Zugeknöpftes wachrief; – und so war auch ihr Wesen. Sie flocht wie gesagt einen Kranz und sah weder nach dem einen noch nach dem andern von den beiden, die miteinander gestritten hatten.
Den Kampf hatte ein großer schwarzer Hund verursacht; nun lag er und that als ob er schliefe; sein nasser, schwerer Pelz glänzte in der Sonne. Einige hatten Stöcke in das Meer hinausgeworfen und den Hund hinter ihnen hergejagt; die, die die Stöcke warfen, hatten jedesmal: »Simson, Simson!« gerufen – das war der Name des Hundes. Eduard Kallem sagte zu einigen in seiner Nähe Stehenden: »Simson bedeutet Sonnengott.« – »Was?« fragte ein junges Mädchen. »Simson bedeutet Sonnengott?« – »Ja gewiß; ja, die Theologen freilich hüten sich, das zu erzählen.« Er sagte es in jugendlich leichtsinnigem Tone; übrigens nicht, um jemanden zu ärgern oder um mehr zu sagen. Aber Ole Tust hörte es zufällig und fragte etwas überlegen: »Weshalb sollten es die Pfarrer nicht wagen, den Kindern zu erzählen, daß Simson Sonnengott bedeutet?« – »Ja, weil dann die ganze Sage von ihm als Vorbild für den Christusmythus unbrauchbar wird.« – Das Wort »Christusmythus« saß, und das sollte es auch. Lächelnd und überlegen sagte Ole: »Simson kann doch wohl als Vorbild gebraucht werden, ob er nun Sonnengott heißt oder nicht?« – »Ja, ob er nun Sonnengott heißt oder nicht; aber wenn er nun Sonnengott war?« – »Er war also Sonnengott?« rief Ole und lachte. – »Der Name sagt es ja.« – »Der Name? Sind wir Bären oder Wölfe, weil ein Bär oder ein Wolf in unserm Namen vorkommt? Oder Götter, weil wir nach Göttern zubenannt sind?« Mehrere von der Gesellschaft standen da und hörten zu; andere kamen jetzt näher, unter ihnen auch Josefine und beide wandten sich sofort ihr zu.
»Das Schlimme ist,« sagte Eduard »daß die Geschichten, die von Simson handeln, erst Sinn bekommen, wenn wir wissen, daß er Sonnengott war.« – »Ach, jetzt sollen ja die Ahnen und die Urgeschichte aller Völker mit der Sonnensage zu thun haben.« Ole erzählte ein paar amüsante Parodien auf diese wissenschaftliche Mode. Man amüsierte sich, auch Josefine lachte. Sofort wurde Eduard eifrig und begann zu erklären, daß unsere eigenen Götter, die indische Sonnengötter waren, wirklich auch zu Ahnen gemacht wurden, als wir eine neue Religion bekamen; ihre Altäre, an denen das Volk geopfert hatte, wurden zu ihren Grabstätten gemacht. Auf dieselbe Weise wurden auch die alten Sonnengötter der Juden zu Ahnen, als die Jahveverehrung sie als Götter verdrängte. – »Ja, wer weiß denn nun das?« – »Weiß? Versuch' es mit Samson! Wie sinnlos ist es, zu glauben, daß einer seine Stärke im Haar hat! Aber sobald wir davon ausgehen, daß es die Sonnenstrahlen sind, lang zur Sommerszeit und verschnitten im Schoße des Winters, dann bekommt es Sinn. Und wenn die Strahlen gegen das Frühjahr wuchsen, dann verstehen alle, daß der Sonnengott wieder die Weltsäulen umfassen konnte. – Niemals haben die Bienen in ein Aas Honig gelegt; aber wenn wir hören, daß, so oft die Sonne ein Sternbild, z. B. den Löwen, durchschritt, daß es dann hieß, die Sonne schlachte den Löwen – ja, dann verstehen wir, daß die Bienen in das Aas des geschlachteten Löwen Honig legten, d. h. in der wärmsten Zeit des Sommers.«
Alle waren ganz Ohr geworden und Josefine im höchsten Grade verwundert. Sie sah nicht zu ihrem Bruder auf, weil sie merkte, daß er sie ansah; aber der Eindruck war klar. Was Eduard zuerst ohne jeden andern Gedanken als den, etwas zu protzen, angefangen hatte, das bekam dadurch, daß Josefine zwischen ihnen stand, ein bestimmtes Ziel. »Bei den Ägyptern,« erzählte er, »begann der Frühling, wenn die Sonne das Lamm schlachtete, d. h. durch das Zeichen des Lamms ging, und in der Freude über den Anbruch der neuen Zeit schlachteten alle ägyptischen Familien an diesem Tage ein Lamm. Daher haben es die Juden. Es ist eine Fälschung, wenn die Juden das später zu etwas gemacht haben, das sie von den Ägyptern unterscheiden sollte. Es ist wie mit der Beschneidung; denn die haben sie auch aus Ägypten. Aber so etwas verschweigen die Geistlichen.«
Von all dem wußte Ole Tust wenig oder gar nichts. Er hatte sein eifriges Studieren streng auf die Theologie beschränkt; er hatte auch keine Zeit zu anderm, und sein Glaube war altes Bauernerbgut und in sich selbst viel zu fest, als daß er sich um wissenschaftliche Zweifel bekümmern sollte. Hätte er nun das gleich gerade herausgesagt, so wäre kaum mehr daraus geworden. Aber auch er fühlte, daß Josefine zwischen ihnen stand und ließ sich verleiten. So begann er höhnisch alles lose Vermutungen zu nennen; die heute glänzen, morgen verblichen sind.
Das ertrug die Eitelkeit des andern nicht. »Den Theologen fehlt die allereinfachste Ehrlichkeit,« schrie er. »Sie verschweigen, daß die wichtigsten Teile ihres Glaubens nicht den Juden offenbart sind, sondern einfach anderswoher entlehnt sind. Z. B. der Unsterblichkeitsglaube; der stammt aus Ägypten. Dasselbe gilt von den Geboten. Niemand klettert auf einen hohen Berg hinauf, um im Donnerwetter sich offenbaren zu lassen, was das Volk schon tausend Jahre lang gewußt hat. Woher kommt der Teufel? Woher die Höllenstrafen? Woher der jüngste Tag und das Gericht? Woher die Engel? Die Juden wußten nichts davon. Die Geistlichen sind – na kurz, Leute, die nicht ehrlich untersuchen und dem Volke so etwas erzählen.« Josefine beugte sich; die Jugend, besonders die männliche, war offenbar auf Kallems Seite; Freidenkerei war Mode, und außerdem war's so prächtig, über den angeerbten Glauben ein wenig lachen zu können.
Ein junger Mann verspottete die Schöpfungsgeschichte; Kallem hatte geologische und paläontologische Kenntnisse und machte guten Gebrauch davon. Hier konnte Ole Tust noch weniger aufkommen; er wiederholte nur einige Versuche, die einmal gemacht waren, die Lehre der Bibel mit gewissen neueren Entdeckungen in Einklang zu bringen; aber es wurde ihm übel mitgespielt. Und nun ging es von einem Dogma zum andern, Trumpf für Trumpf wurde ausgespielt; am längsten stritten sie über die Versöhnungslehre; die stammte aus so uralter, so roher Zeit, wo die persönliche Verantwortlichkeit noch nicht bestand, nur die des Stammes und Geschlechts. Tust verzweifelte; das galt ihm etwas, er begann mit lauter Stimme, bewegt und stark seinen Glauben zu bekennen. Als ob das helfen konnte! Behauptungen, Behauptungen, – komm mit Beweisen! Ole Tust erkannte zu spät, daß er zu viel verteidigt und deshalb alles verloren hatte. Er fühlte tiefen Schmerz, kämpfte hoffnungslos, aber kämpfte trotzdem und rief laut, wenn eine einzige Wahrheit zweifelhaft erscheine, so trage er die Schuld; er könne sie nicht verteidigen. Aber Gottes Wort stände unangetastet bis in die letzte Stunde der Welt! – Ja, was wäre denn Gottes Wort? – Das wäre die Gesamtheit der Bibel und ihr Geist, die Schöpfung (nein!), der Sündenfall (nein, nein!), der Erlösungstod (nein, nein, nein!) – er schrie, sie schrieen; Tust kamen die Thränen in die Augen, die Stimme zitterte, er war bleich und schön.
Die Jugend ist lange nicht so unbarmherzig wie die Kinder; aber von derselben Art. Einigen that Ole leid, viele wollten ihn gerade nun schrauben, und nicht zum wenigsten Eduard Kallem.
Aber Josefine trat unvermerkt an das braunhaarige Mädchen mit der Sopranstimme heran. Sofort stimmte diese einen ihrer Gesänge an, und die andern kamen nach – die Herren etwas später als die Damen. Die Gesellschaft bestand gerade – bis auf wenige Ausnahmen – aus einem Damen- und Herrenchor; sie hatten sich in den drei letzten Wintern mit einem Fleiß und einer Eintracht eingeübt, wie sie nur in einer kleinen Stadt möglich sind.
Josefine setzte sich mitten auf den Hügel, die andern um sie herum. Sie sang nicht, sie hatte ihre Blumen.
Die Gesellschaft war auf dem Schiff hierher gekommen, das im hellen Sonnenscheine dalag. Da hatten Josefine, Eduard und Ole dicht bei einander gesessen; denn es war nicht viel Platz vorhanden. Keiner konnte aus ihrem fröhlichen, oft flüsternden Gespräch ahnen, daß zwischen Ihnen auch nur das geringste andere als Freundschaft und Güte waltete. Nun, drei Stunden später, saß Ole wie verstoßen da. Wie weh es ihm that! Ein Angriff auf seinen Beruf, auf seinen Glauben vor aller Augen. Und noch dazu von Eduard! So grausam, so beharrlich höhnisch! Und Josefine? Kein Wort der Teilnahme von ihr, keinen Blick!
Ole und sie hatten von Kind auf zusammengehalten, einander geschrieben, als er in Christiania war, er alle 14 Tage, sie, so oft sie etwas zu schreiben hatte. Wenn er in den Ferien zu Hause war, trafen sie sich täglich. Die beiden Jahre, als sie in französischer Pension und in Spanien war, ging auch von ihrer Seite der Briefwechsel flotter als sonst, und als sie wieder nach Hause kam, war sie ihm gegenüber völlig dieselbe, so sehr sie sich auch sonst verändert hatte. Er wurde von ihrem Vater in seinem Studium unterstützt, so daß er allen Fleiß darauf verwenden konnte. Er sollte zu Weihnachten sein letztes Examen ablegen; alle prophezeiten ihm, daß es eine der glänzendsten theologischen Prüfungen werden würde. Die Hilfe verdankte er ohne Zweifel ihr, vielleicht aber auch ihrem Bruder. Beide hatten ihn seiner Zeit bei ihrem Vater eingeführt, beim Rektor, Apotheker und auch sonst; sie verschafften ihm überall Zutritt. Gewöhnlich war sie wortkarg und oft recht schwer umgänglich, aber unverbrüchlich treu in dem Freundschaftsverhältnis. Sie konnte ihn tadeln (er paßte ihr nicht immer); aber das gehörte zu ihrem Verkehr, er legte nicht weiter großes Gewicht darauf, und sie auch nicht; vom ersten Tag an war sie ja sein Vormund gewesen. Noch hatte er nicht zu sagen gewagt, daß er sie liebe; das hatte auch keine Eile, und im Grunde war es dafür zu heilig. Er vertraute auf sie so fest wie auf seinen Glauben. Er war Bauer, sein Wesen war Einheit, sein Grundton Sicherheit. Gott sorgte für seinen Glauben; für sein Wohlergehen und seine Zukunft sorgte – natürlich auch Gott; aber durch Josefine. In seinen Augen war sie das schönste, gesundeste, tüchtigste Mädchen der Stadt, ja des Landes, und sehr reich. Das letzte zählte mit; er war von kleinauf ein ehrgeiziger Träumer gewesen; nur daß die Träume in einer andern Richtung gingen.
Die Studiengenossen wußten damit gut Bescheid; neben Melanchthon nannten sie ihn das Bischofsamt der Fjords oder den Fjordbischof. Es war ihm ein Bedürfnis geworden, so angesehen zu werden; etwas Kindliches machte diese lächelnde Sicherheit kleidsam; – er hatte auch ein so hübsches, offenes, rötliches Gesicht – und da stößt der Ehrgeiz nicht ab.
Nun fühlte er, daß er von seiner sichern, lächelnden Höhe heruntergestürzt war! Wer immer sicher gewesen ist und dann zum erstenmale eine gründliche Niederlage erleidet, kommt dadurch ganz aus dem Gleichgewicht. Das schlimmste war, daß Josefine sich nicht zu ihm bekennen wollte; er blickte wiederholt nach ihr, aber sie ordnete ihre Blumen und Gräser als wäre er nicht vorhanden.
Zuletzt schien es wirklich, als ob alle fortglitten, oder als ob er nicht da wäre. Er saß, ohne zu sitzen, hörte, ohne zu hören, sah, ohne zu sehen. Oben vor dem Hause deckte man den Abendtisch, sie gingen hinauf, sobald der Tisch fertig war, sie aßen, tranken, schwatzten, lachten; aber er war nicht dabei, er stand da und starrte auf die andere Seite der Bucht hinüber – oder weit, weit fort. Ein junger Kaufmann sprach mit ihm über die Dampfschiffslinien, sie wären sehr unglücklich geordnet; ein Mädchen mit schiefen Zähnen, roten Flechten und Sommersprossen – er war ihr Lehrer gewesen – versicherte ihm, daß die Seeleute nicht so gebildet wären, als man von so weit gereisten Menschen erwarten könnte. Die Wirtin kam und fragte ihn, warum er nicht esse und der Wirt stieß mit ihm an; sie bewiesen ihm damit etwas von der alten Achtung; aber beide richteten einen hastig forschenden Blick auf seine Augen, der ihn erbeben ließ. Er fühlte den Zweifel. In dem unablässigen, immer mehr zunehmenden Schmerze sah er überall Zweifel und Hohn, selbst darin, daß die andern fröhlich waren. Eduard Kallem war übermäßig heiter und alle scharten sich um ihn; Eduards wegen war ja auch – er war erst vor etwa vierzehn Tagen gekommen – die ganze Ausfahrt veranstaltet. Ole sah wie in einem Traum, daß jetzt Josefinens Blumen auf dem Tische standen, und hörte, daß sie ihrer Farbenzusammensetzung wegen gelobt wurden; sie selbst hatte mit zwei Freundinnen an einem kleinen steinernen Tische Platz genommen, an dem nicht mehr sitzen konnten; etwa damit er nicht mitkommen sollte? Er sah sie plaudern und lachen, alle jungen Herren warteten auf, Eduard war mehrmals dort; er brachte sie auch zum Lachen. Alles das bemerkte er mit einem merkwürdigen Gefühl von Furcht. Der Lärm schnitt ihm durch Leib und Seele, das Lachen verhöhnte ihn, das Essen konnte er nicht verschlucken, das Getränk war bitter, die Menschen hatten einen Mechanismus in sich, das Haus, die Bucht, das Schiff, die Berge lagen beängstigend nahe.
Da Windstille eingetreten war, mußte die Gesellschaft nach der Stadt gehen. Sie begannen in geschlossener Reihe unter Gesang zu marschieren; aber bald kamen Sommergäste aus den Gehöften herübergesprungen und als es Bekannte waren, machte man Halt. Dann schlossen sich die Neugekommenen ein Stück Wegs an; später kamen andere dazu; jedesmal wurde Halt gemacht und jedesmal lösten sich mehrere Gruppen los. So konnte sich Ole unbemerkt zurückziehen. Er hielt ihre Gesellschaft und ihre Lust nicht mehr aus.
Erst jetzt sammelte sich nämlich alles um Josefine. Die Veränderung Eduards und sein Überfall, die Schmach der Niederlage, das beleidigte religiöse Gefühl . . . alles floß mit dem Gedanken zusammen, daß sie ihn nicht unterstützt hatte, mit keinem Wort, keinem Blick: vorher war sie ihm ausgewichen, jetzt hatte sie ihn verlassen! Das konnte er nicht ertragen, denn sie war ihm viel zu teuer geworden: er wußte das und schämte sich nicht. Was sein höchster Erdenwunsch einmal gewesen, Missionar zu werden, das war wie eine Haut von ihm abgestreift, als sie sich nicht länger darum kümmerte. So oft die Mutter gesagt hatte, er solle nicht Missionar werden, hatte er Gott mehr als den Menschen gehorchen müssen. Als aber Josefine in ihrer kräftigen Art in eine nähere Wirklichkeit hineinwuchs, gab er es auf, ohne daß sie ein Wort zu sagen brauchte. Er sagte sich selbst, daß es sich strafte, einen Menschen so sehr zu lieben. Aber er konnte nichts dafür.
In diese und tausend ähnliche Gedanken versunken, blieb er zurück und ging von der Straße ab auf ein Gehölz zu; dort legte er sich nieder und wartete, bis die Sommergäste zurück und vorbei kämen. Er wälzte sich bald auf sein Gesicht; das kühle Gras, das ihn in Wange und Stirn stach und die feuchte Erde, in die er atmete, behagte ihm. Solch dürftiges im Schatten wachsendes Gras duftet nicht; ähnlich war es mit ihm; denn durch sie war er auf die Sonnenseite gekommen, ohne sie kam er auf die Schattenseite.
Der Bruder hatte sie ihm genommen, schrie es in ihm.
Der Bruder, der bis vor wenigen Tagen sich nicht im geringsten um sie gekümmert hatte, während Ole von Kind auf um sie gewesen war, mit ihr gerudert, ihr vorgelesen hatte, ihr Schwester und Bruder zu gleicher Zeit gewesen und ihr treu geschrieben hatte, wenn sie getrennt waren; so etwas hatte ihr Bruder niemals gethan. Sogar seine Niederlage setzte er auf das Kreditkonto; denn hätte er es nicht ihretwegen mit dem Examen so gewissenhaft genommen, wozu ihn ihr Vater unterstützte, so hätte er etwas mehr von dem gewußt, um das es sich heute handelte; dann hätte er vielleicht keine Niederlage erlitten; – auch das traf ihn nun seiner Treue wegen.
Eduard war, so lange Josefine Kind und halberwachsen war, selten mit ihr zusammen gewesen, ohne sie zu necken. Sie blieb lange mager, mit großen schwarzen Augen, gewöhnlich ungeordnetem Haar, mit roten Händen, schlank aufgeschossen; er nannte sie die junge Ente, und als sie einmal Schaden genommen und hinkte, die lahme junge Ente. Er konnte mit ihr niemals zurecht kommen, trotzig und scheu wie sie war – immer blieb sie in der Entfernung. Und dann veranlaßte sie es ein über das andere Mal, daß er Prügel bekam. Sie hielt es für gerecht, jedesmal wenn er etwas Dummes gemacht hatte, es zu erzählen. Und schlug er sie dafür, so war es gerecht, das mitzuerzählen. Sie wurde ihm zuwider. Bald kamen sie auch dadurch auseinander, daß er das Haus seines Vaters verließ. Nach jenem unglücklichen Tage, wo sich Vater und Sohn auf dem Wege nach Groß-Tust trafen, erbarmte sich der Apotheker seines alten Freundes und nahm den Jungen wie seinen Sohn zu sich. Und was dem Vater nicht geglückt war, glückte jetzt. Der Junge wurde sofort aus der Schule genommen und seinem Hauptinteresse, den Naturfächern, hingegeben. Chemische und physikalische Analysen oder botanische Ausflüge waren das höchste, was er kannte, und zwei Jahre lang trieb er weiter nichts als das, was hierher gehörte. Die zum Studentenexamen nötigen Fächer lernte er schnell durch Privatunterricht; nach dem zweiten Examen begann er seine medizinischen Studien. So lange er zu Hause war, sah er seine Schwester nur, wenn sie ihn in der Apotheke besuchte, und da ihre Interessen auseinandergingen, fand fast gar kein Verkehr statt. Später nahm ihn der Apotheker fast während aller Ferien mit ins Ausland; Eduard hatte ja so viele Sprachkenntnisse, und die hatte der Apotheker nicht. So geschah es, daß auch in den Ferien Bruder und Schwester nur selten zusammenkamen. Aber seitdem er als Student mit dem Apotheker die erste Reise ins Ausland unternommen hatte, und sie den heimgekommenen, erwachsenen Bruder sah und hörte, modern in Kleidung und Gedanken, feurig, kräftig, das Ideal der gesamten Jugend, besonders der weiblichen – seitdem hatte sie ihn heimlich bewundert. Er seinerseits übersah sie oder zog sie sogar auf; es kostete ihr stundenlange Qualen; aber sie ertrug sie, um wieder dort sein zu können, wo er war, wenn auch nur still in einem Winkel.
Ole verstand sie, wenn sie sich auch nicht verriet. Auch ihm gegenüber nannte sie Eduard selten anders als: »das Ekel,« »der Wicht« u. s. w. Ole aber sammelte sich durch die treuen Dienste, die er ihr erwies, wenn sie von ihrem Bruder übersehen oder beleidigt dasaß, Schätze in ihrem Herzen.
Mit Eduard war nun eine große Veränderung vor sich gegangen; seine Neugier war zur Wißbegierde, seine Unruhe zu Energie geworden. Aber gleichzeitig durchlief auch die Schwester mehrere Stufen der Entwicklung, wovon er nichts merkte. Jetzt waren gerade zweieinhalb Jahre verflossen, seitdem er sie zum letztenmal gesehen: sie war zwei Jahre in Frankreich und Spanien und in den letzten Ferien, als sie zu Hause war, war er mit dem Apotheker auf einer Reise nach England; auch heuer waren sie ein paar Monate zusammen gereist. Die Schwester, die er jetzt sah, kannte er nicht. Nach der ersten Begegnung war er von ihr ganz eingenommen.
Sie wäre nicht schön, sagte er zu Ole (zu dessen größter Verwunderung), als sich die beiden trafen. Aber er wurde nicht müde, von dem neuen und eigenen Eindruck zu sprechen, den sie hier unter all den andern machte. Ihre Mutter mußte sich mit einer Spanierin versehen haben, als sie mit ihr schwanger war. Wäre nicht dieses Unsagbare mit den Augen gewesen, das Volk von Volk auf der ganzen Welt scheidet – wäre das mit den Augen nicht gewesen, so hätte sie unter Spaniern sicher für eine Spanierin gelten können. Wie das in einem norwegischen Hause wirkt! Sie sprach gut, lebendig und schnell; aber sie war eigentlich wortkarg – und hielt sich zurück. Kühn in ihrer Kleidung, satte Farben liebend, ganz modern, so daß sie die Leute fast herausforderte, aber in allen andern Beziehungen zurückhaltend.
Von jetzt ab war Eduard ihr Bruder. Ihr Vater war auswärts und währenddessen wohnte sie beim Rektor und war nicht immer zu haben; aber wenn es sich machen ließ, waren sie zusammen. Sie hatte ein Gefühl davon, daß er sie entdecken wollte und war auf ihrer Hut; aber wenn mehrere zusammen waren, schmeichelte es ihr, daß er seine Worte an sie richtete und seine Augen immer die ihrigen suchten.
Während Ole tief unglücklich sein Gesicht in das Gras des Waldes drückte, standen die Stunden vor seinem Sinn, wo sie in der Gesellschaft saß und den Bruder mit der einen oder der andern tanzen sah, – zuweilen mehrere Tänze mit einer und derselben und nur eine Gnadentour mit ihr.
Aber jetzt?
Jetzt war sie Eduards teure Schwester geworden – und Ole und sie sollten sich trennen.
Weshalb brach Eduard in ein Verhältnis ein, das er nicht kannte, maßte sich Rechte an, die er sich ganz und gar nicht verdient hatte? Nach einem Zusammensein von wenigen Tagen wollte er entscheiden, wer für sie passe, wer nicht . . .?
Weshalb warf er sich vor aller Augen auf ihn und verhöhnte ihn in seinem Lebensberuf, und verhöhnte nicht ihn allein, sondern auch Gott?
Als Ole diesen Gedanken dachte, breitete sich ein wunderbar heller Lichtschein aus und darin erhob sich dort weit hinten auf der andern Seite des Fjords über den Bergen eine gewaltige Erscheinung. Er selber lag mit dem Gesicht tief ins Gras gedrückt und fühlte es im Nacken. Da flüsterte es und dieses Flüstern erfüllte den ganzen Raum von dort bis hierher: »Was hast du mit mir gethan?«
Ach, er wurde plattgedrückt, er wurde auf die Erde niedergepreßt. Nun verstand er, warum der Schmerz wie mit einem Schermesser das Kranke aus seinem Fleisch schnitt. Er hatte heute verloren, weil er wie ein Lügner dastand. »Du sollst nicht fremde Götter haben neben mir!« Nein, nein, vergieb mir, schone mich! – »Deine fleischlichen, deine eitlen Träume! . . . Brauche nun wie Israel die Nacht, um mit mir zu ringen – Wurm, der du dich krümmst!« – – –
Der Raum über ihm sauste von tausendfachem Flügelschlag.
Es war nicht das erste Mal, daß der Ernst des alten Testaments auf ihn von den Höhen herabstürzte und eindrang. Diese Fragen ob ›groß‹ oder ›klein‹; ob er das Größte wagen . . . oder wie die andern sich mit dem Mittelmäßigen begnügen sollte – sie waren nicht neu.
Aber traf er dann Josefine in guter Laune, so waren die Fragen verschwunden. Sie vertrieb sie mit einem einzigen freundlichen Handschlag. Sie that es auch jetzt. Ohne jedweden Übergang erhob sich von ihr aus ein frischer Protest in seinem Sinn. Niemals konnte sich Josefine heute von ihm abgewandt haben, weil es der Bruder wünschte; niemals! Hätte sie es so verstanden, dann hätte sie das Gegenteil gethan. Nein, sie wandte sich deshalb von ihm ab, weil er ein erbärmlicher Mensch war, nur deswegen. Vielleicht auch, weil sie nur ungern streiten wollte; sie war so zurückhaltend. Sie wandte sich auch nicht gerade dem Bruder zu. Sie saß mitten in der Schar auf dem Hügel und später, als sie aßen, mit ein paar Freundinnen an einem besondern Tische. Als sie aufbrachen, blieb sie nicht dort, der Bruder versammelte die meisten um sich . . . Weshalb hatte er nicht früher daran gedacht? Sie war ja treu; wahrhaftig, sie war treu! Er stand auf; weshalb in aller Welt hatte er es nicht vorher gesehen?
Er hatte gewünscht, daß sie ihm auf die eine oder die andere Weise helfen, wenigstens ihn trösten sollte, ihm zeigen, wie leid er ihr that. Aber alles das war wider Josefinens Natur. Wie konnte er an so etwas denken? Besonders, wenn es Aufsehen erregt hätte und die Leute auf ihr Thun aufgepaßt hätten.
Er war ein großer Esel gewesen. Im Gefühl dieser frohen Entdeckung sprang er durch das Gehölz, über den Straßengraben hinüber und heimwärts.
Gott im Himmel, wie er sie liebte! Er sah sie vor sich, wie sie sein konnte, wenn er ihr zu kindlich schien; er sah wie sie aus all ihrer Majestät heraus einen großen guten Blick auf ihn richtete.
Der späte Sonnenuntergang hinterließ keinen rötlichen Himmel; die Nacht war grau und trübselig; die Gegend, durch die der Weg am Fuße einer kahlen Anhöhe hinführte, war dürftig; kleine Wirtschaften mit Häusern auf der Anhöhe, spärliche Anlagen, hier und da einige armselige Sommerwohnungen, niedrige Bäume und zerstreute Büsche.
Er sah das und sah es nicht, während er an seine Angelegenheiten dachte. Niemand auf der Straße, ja doch, in weiter Ferne einer, der nach der Stadt ging. Er ging langsamer, um diesen einen nicht einzuholen, und merkte nicht, daß vor dem, der ging, einer war, der kam. Da unterschied er sie. Liebe . . . das war doch nicht etwa . . .? Oder irrte er sich? . . . Nein, er erkannte den Hut, nun auch den Gang, die Figur; es gab nur eine solche! Josefine kam zurück, um ihn zu holen! So war Josefine.
»Aber wo bleibst du denn?« sagte sie. Ihr großes Gesicht war gerötet, ihr Busen wogte, die Stimme war gedämpft, der Sonnenschirm, den sie unten mit der linken Hand hielt, war nicht ganz ruhig. Er antwortete nicht; er blickte ihr Gesicht, ihr Kleid, ihre Hutfeder, ihre große Gestalt an, bis sie unwillkürlich lächelte, denn so viel stumme Bewunderung und Dankbarkeit durchbricht all und jeden Panzer. »Josefine, ach, Josefine!« Vom Kopf bis zu den Füßen war er nur ein Wiederschein von Glück und Bewunderung. Da kam sie heiter heran, legte ihre rechte Hand auf seinen linken Arm und schob ihn leise vorwärts; er sollte gehen.
Sein Gesicht war von dem Gras gezeichnet, in das er sich vorhin geworfen hatte; sie glaubte, er habe geweint: »Du bist dumm, Ole,« sagte sie.
Die graue Sommernacht, die weder schlafen noch wachen läßt, erweckt sonst ein Gefühl des Unbefriedigtseins. Diesen beiden wurde sie, was ein halb erleuchtetes Zimmer für heimlich Verlobte ist. Sie ließ ihre Hand auf seinem Arme liegen, und als seine Augen den ihren begegneten, sah sie ihn an, wie wenn man ein Kind zudeckt. »Ich dachte, siehst du,« sagte er, »ich glaubte, ja, denke dir, ich glaubte . . .« Die Thränen standen ihm in den Augen. »Du bist dumm, Ole!« flüsterte sie wieder. Und damit waren die Stürme des Tages abgethan.
Die Hand blieb auf seinem Arme liegen; es sah aus, als führte sie einen Arrestanten. Er fühlte nur leise den Druck, aber dieser ging ihm durch Mark und Bein. Ab und zu berührte das Seidenkleid sein Bein; sie gingen im Takt, der elektrische Strom ihrer Nähe trug ihn. Sie waren ganz allein und es war ganz stille; sie hörten ihre eigenen Schritte und das Rauschen des Seidenkleides. Er hielt den Arm, auf dem ihre Hand lag, ängstlich still, als könnte sonst die Hand herunterfallen und entzweischlagen. Die einzige Unvollkommenheit war – denn immer soll ja etwas unvollkommen sein – daß er eine zunehmende Lust fühlte, die Hand zu nehmen und sie auf die gewöhnliche, schickliche Weise im Arm zurechtzulegen; dann konnte er sie drücken. Aber er wagte es nicht.
Sie gingen und gingen. Er sah vor sich hin und bemerkte, daß kein Mondschein war. »Der Mond ist nicht da!« sagte er. – »Es wäre heller, wenn er da wäre,« antwortete sie lächelnd. »Viel heller.« Die Stimmen waren zusammengetroffen, der Klang hatte sich vereinigt und hallte lange nach wie Vögel in der Luft.
Aber gerade deswegen wurde es schwer, mehr Worte folgen zu lassen. Während Ole darüber nachdachte, was er nun sagen sollte, wurde er gerührt und stolz. Er erinnerte sich des Samstag Abends im Schneeschmutz, als sie auf dem Schulhofe ihn verspottet hatten und er nach Groß-Tust eilte; er erinnerte sich seines damaligen Elends; aber von daher schrieb sich seine Erhöhung, jetzt, wo er von der andern Seite in die Stadt hineinkam und sie am Arme hatte . . . nein, nicht ganz ordentlich. Das war das Unvollkommne daran.
Sollte er's sagen? Würde sie es allzu dreist finden? »Wir sind nun wohl ganz allein, wir beiden?« – er wollte auf Umwegen zum Ziele kommen; aber die Stimme war nicht fest; sie verriet ihn. Und da antwortete sie nicht. Es wurde zwischen ihnen still, sehr still. Da glitt ihre Hand von selbst auf seinen Arm hinüber, wie es bei Verlobten Sitte ist. Durch sein ganzes Wesen ging ein Beben und mutig drückte er sie leise, wagte sie aber nicht anzusehen. Sie gingen weiter.
Bald lag die Stadt unter einem Schleier vor ihnen, das Takelwerk der Schiffe floß in dem Nebel zu einem massigen Turme zusammen; oder es glich den zusammengelaufenen Masten der Schiffe aus Zuckerzeug. Die Häuser in unbestimmten, farblosen Umrissen; alles eingepackt und verwahrt; die Berge standen und hielten Wacht. Ein einziger schwacher, unbestimmter langer Laut, ein matter Streifen durch das hellgraue Schweigen. »Willst du nicht etwas erzählen?« sagte sie schnell, als könne sie auf einmal nicht mehr. Er fühlte sich dadurch wie befreit und fragte, ob er vom – Lichte erzählen solle. »Ja, vom Licht« antwortete sie; war es ironisch gemeint? –
Er begann damit, machte es aber nicht klar. Als sie das erste mal schnell eine Frage an ihn richtete, um eine bestimmtere Erklärung zu bekommen, fühlte er, daß er es nicht konnte; er war in dem Stoff nicht genügend zu Hause. »Nein, dann will ich dir lieber das Ende von Jeanne d'Arc erzählen« sagte er; »du weißt, wo wir gestern unterbrochen wurden?« – »Ja, erzähle von Jeanne d'Arc!« sagte sie, noch munterer; sie lachte. »Du willst nicht –? – doch, doch!« Und das sagte sie sanfter, als wollte sie das erste wieder gut machen. Dann erzählte er den Schluß der Geschichte von Jeanne d'Arc nach einem vor kurzem erschienenen Buche, das er in den Ferien von ihrem Vater geliehen hatte. Dieser Stoff lag ihm passend; seine westländische singende Sprechweise verlieh ihm etwas Schwebendes, seine schulmäßig genaue Behandlung der Worte, dem frühern Bauern eigentümlich, getragen von dem etwas gemilderten Tonfall des Dialekts, machte den Eindruck wie alte Schrift; sein sanftes, leuchtendes Melanchthongesicht schwärmte; sie blickte zu ihm auf und jedesmal in sein reines Herz.
So kamen sie nach der Stadt. Die Erzählung ergriff sie, und beide waren so eifrig geworden, daß sie nicht daran dachten, ob sie vielleicht jemand begegneten oder daß sie zu beiden Seiten Häuser stehen hatten; er dämpfte nur seine Stimme und fuhr fort.
Als sie aber in die Nähe der Straße kamen, in der seine Tante wohnte, und in die er einbiegen sollte, da hörte er auf, ohne die Erzählung abgeschlossen zu haben. Durfte er sie nach Hause begleiten? Der Rektor wohnte einige Häuser weiter. Durfte er nicht mitkommen, so mußte er sie hier verlassen. Die Frage stammte nicht von heute abend.
Gerade deswegen erwachte sie auch in ihr; ihr hatte dieses »klettenhafte Anhängen« niemals behagt, das sich darin zeigte, daß einer bis an die Hausthür mitging, obgleich sein eigner Weg ein anderer war. Das geschah seit ihrer Kinderzeit, als sie mit ihm geneckt worden war. Aber sie wußte, daß er großen Wert darauf legte.
Das kurze noch übrig bleibende Stück Weges gingen sie beide in größter Spannung. Sollen wir uns hier verabschieden oder –? Ursprünglich so kindisch, hatte es allmählich größern Wert bekommen. Sie konnte sich den Grund nicht klar machen; aber als sie am Kreuzwege standen, nahm sie ruhig ihre handschuhlose Hand aus seinem Arm und reichte sie ihm zum Abschied. Sie sah seine Enttäuschung. Und um es sofort wieder gut zu machen, warf sie ihm einen strahlenden Blick aus ihren schwarzen Augen zu, drückte ihm fest die Hand und sagte ihm ein »Dank für heute abend« von einer ganz andern Art und Farbe, als in all den vergangenen Jahren. Die Worte klangen von Herz zu Herz wie ein Versprechen fürs Leben, und so waren sie gemeint. Für seine Treue dankte sie ihm, für seine Liebe jetzt und immerdar. Er stand bleich da. Sie sah es und überlegte etwas; – zog die Hand zurück und ging. Oben wandte sie sich noch einmal nach ihm um – dafür dankbar, daß er weder in Worten noch in Thun etwas anderes als ihren Willen ausführen wollte. Sie nickte ihm zu; er zog den Hut.
Einige Minuten später stand sie in ihrem Zimmer, allzu heiß, um sich zu Bett zu legen und zugleich völlig wach. Sie wollte überhaupt nicht schlafen; jedenfalls wollte sie erst die Sonne auf den Dächern oder den hellen Tag sehen. Ihr Zimmer ging auf den Hof hinaus, den großen Schulhof, den die Turnhalle abschloß; einige Turnapparate standen auch draußen. Auf der Straßenseite lag ihr Schlafzimmer im zweiten Stockwerk, auf der Hofseite war es das erste; als Kind war sie hundertmal aus dem Fenster hinausgesprungen, anstatt durch die Hausthür zu gehen. Sie schlug das Fenster auf und dachte daran, auch jetzt herauszuspringen und auf dem Platz spazieren zu gehen. Am meisten Lust hätte sie gehabt, die ganze Nacht mit Ole umherzustreifen; das verstand er nicht. Vielleicht hatte sie ihn deswegen schon dort oben verabschiedet, weil er es nicht vorschlug.
Aber bei näherm Nachdenken wagte sie nicht auf den Hof hinauszugehen. Es geschah nicht selten, daß junge Leute, die von einer Land- oder Bot-Fahrt oder aus einer Gesellschaft heimkehrten, darauf verfielen, wenn sie an ihrer alten Schule vorbeikamen, den Spielplatz ihrer Jugend aufzusuchen und ein wenig zu turnen; sie wollte nicht mit halbbetrunkenen jungen Leuten zusammentreffen. Sie setzte den Hut ab und blieb, vornübergebeugt, am Fenster stehen – überdachte das, was eben geschehen war und sie noch jetzt hinauszog.
Da hörte sie draußen auf der Treppe und dann im Sande Schritte sich nähern. Sollte es Ole sein? War er so sentimental, daß er zu ihren Fenstern emporsehen wollte? Möchte er nicht kommen. Gott helfe ihm, wenn er käme! – Sie lauschte gespannt: – nein – der Schritt war zu schnell; das war, . . . . sie wußte es, dort stand er; es war ihr Bruder.
Ja, es war wirklich Eduard. Er wunderte sich nicht, sie zu sehen; er kam direkt auf sie zu. Und als er unter das offene Fenster gekommen war, streckte er seine rechte Hand hinauf, die sie ergriff. Seine Augen schielten etwas, das sichere Zeichen, daß er bewegt war. »Das ist gut, daß du munter bist; sonst hätte ich geklopft.« Seine Augen suchten forschend die ihren und die Hand ließ nicht los. »Kamst du eben?« – »Ja, jetzt eben.« Sie war auf einmal in seiner Gewalt; er hätte sie nach allem möglichen fragen können, sie hätte ihm geantwortet, wo die Augen sie derartig ansahen. »Als du nicht unter den letzten zu finden warst, dachte ich mir, daß du zu Ole zurückgegangen wärest.« – »Ja.« Er hielt inne; die Stimme zitterte: »Ich habe dumm gehandelt; nun seid ihr wohl verlobt?« – Sie zauderte ein Weilchen, trotzdem die Antwort sofort in ihren Augen zu lesen war. »Ich glaube,« sagte sie.
Liebreich, aber bekümmert sah er sie an. Sofort fühlte sie den Drang in sich, laut zu weinen. Hatte sie denn etwas Dummes gethan? Sie wurde so ängstlich. Da faßte er ihren Kopf mit beiden Händen, zog ihn an sich und küßte sie auf die Stirn. Sie brach in Thränen aus und schlang beide Arme fest um seinen Hals; sie lagen Wange an Wange.
»Ja, ja – ist es einmal geschehen . . . dann meinen Glückwunsch, Josefine, liebe Josefine.« Sie umschlangen sich noch fester. Dann ließen sie einander los.
»Ich reise heute ab,« flüsterte er, indem er ihre Hand ergriff; sie gab ihm beide. – »Heute, Eduard?« – »Ich habe mich dumm benommen. – Lebwohl, Josefine?« Sie machte ihre Hände frei, um das Taschentuch zu ergreifen und vor das Gesicht zu pressen. »Ich werde kommen und Lebewohl sagen,« schluchzte sie hinter dem Tuche. »Nein, thu mir das nicht! Nein . . . nicht noch einmal.« Und um schnell darüber hinwegzukommen, umschlang er sie wieder, küßte sie und ging, ohne sich umzusehen.