Björnstjerne Björnson
Auf Gottes Wegen
Björnstjerne Björnson

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Mannesalter.

1.

»– – Die Rechtfertigung hat ihren Ursprung in Gottes Gnade. Sie kann ihn nicht im Sünder, in seiner sittlichen Arbeit an sich selbst, haben; er ist ja ungerecht. Als solcher verdient er sie auch nicht, so wenig als er Rechtsansprüche erheben kann. Nur Gottes erhabener Wille kann ihn rechtfertigen.«

Der Pastor ging auf und ab, nach dem Hefte, das er in der Hand hielt, aus dem Kopfe vor sich hin murmelnd. Die Sonne schien hell durch beide Fenster; sie lagen nach Südwest und standen weit offen; durch das entferntere strömten die Strahlen milchweiß über den grau gestrichenen Fußboden; unruhiges Laub junger Espen zeichnete sich auf den Scheiben ab; die Espen standen zitternd draußen am Staket. Vom Garten strömte der Duft von Aurikeln, Flieder und Goldregen herein; der Pastor unterschied jede Mischung in den Luftströmungen, denn er hatte die Bäume und Blumen selber gepflanzt; sie schmeichelten ihm ordentlich. Wurde der Luftzug nur ein klein wenig stärker, dann sandten die eben ausgeschlagenen Birken und frischen Nadeln der Tannen, die außerhalb seiner Herrschaft lagen, eine kräftige Woge herein, die rücksichtslos die des Gartens wegspülte; jedesmal strömte eine ganze Menge verschiedenartiger Gerüche vom offenen Felde nach.

Still!

»– – Was kann Gott dazu bringen, gegen die armen Sünder so gnädig zu sein, die aus sich selbst heraus nicht das Geringste vermögen? Seine unbegreifliche Liebe zum Sünder, seine unverdiente Barmherzigkeit kann ihn dazu bringen.«

Nun pfiff das Dampfschiff zum dritten Male; – nein, der Pastor konnte nicht widerstehen, er mußte den Dampfer sehen, der in einem großen Bogen von der Brücke aus über den See fuhr und den Wasserspiegel in zwei Hälften teilte; der größere Teil fiel der Insel draußen zu, der kleinere dem Strande vor der Stadt. Der Pastor nahm sein Fernrohr aus dem Pulte. Unten war die Landungsbrücke voll von bunten Sonnenschirmen und dazwischen verstreuten meist dunklen Männerhüten; hier und da Kopftücher, gewöhnlich mehrere zusammen.

Im Sande rechts hörte man Schritte; sie kamen aus dem Garten seiner Mutter und wollten sicherlich in diesen hinein – Schritte eines Erwachsenen, und zu jedem Schritt des Erwachsenen zwei Kinderschritte. »Du, Mutter, was hat das Dampfschiff im Magen?« – »Ha, ha!« – Ein Weib kam zum Vorschein, das einen kräftigen Eindruck machte. Ein starker Hals und volle Brust, außergewöhnlich schöner Wuchs; dunkles, ziemlich großes Gesicht mit gebogener Nase; das Haar fast schwarz. Sie trug ein cremegelbes, mit hochroten Blumen überstreutes Mousselinekleid mit Kragen und Gürtel von hochroter Seide. Zu ihrer dunkeln Haut, dem schwarzen Haar und den tiefen Augen bildete es einen bezaubernden Gegensatz; sie pries den warmen Frühlingstag mit kundiger Farbenpracht. Aber sobald sie den lächelnden Melanchthonkopf am Fenster sah, senkte sie ihren roten Sonnenschirm, sodaß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. An der Hand führte sie ihren vierjährigen Knaben, einen feinen Jungen mit blondem Haar und einem Gesicht wie der Vater. Der Knabe ließ die Hand der Mutter fahren, öffnete die Thür zwischen den beiden Gärten und sprang vorbei, um die nächste auf den Weg hinaus zu öffnen. Als die Frau hinterher kam, flüsterte der Pastor: »Ich gratuliere! Du siehst prächtig aus!« Das klang bittersüß. Konnte eine Pastorsfrau sich wie sie kleiden?

Ohne den Sonnenschirm zu senken, schritt sie nach der offenen Thür und weiter auf dem Wege nach der Stadt. Der Junge beeilte sich die Thür zu schließen und hinterher zu springen. »Wo wollt ihr hin?« – »Hinunter und sehen,« rief der Junge, während er lief. Ihr Nacken unter dem Hut, ihre Gestalt im Sonnenlicht, der Gang, die Farben . . . Der Pastor lag im Fenster, trommelte auf den Rahmen und pfiff lautlos. Die warmen Augen folgten ihr – bis er alle Finger auf den Rahmen stützte, und sich mit einem kräftigem Ruck erhob.

»– – Gott straft nicht, er bedauert: er will erlösen. Doch nicht wie ein Heerführer einen Waffenstillstand gewährt, oder ein König Amnestie erläßt (ja, vielleicht verstehen »Amnestie« nicht alle; was soll ich sagen? – Erlaß . . . Nein, das ist nicht genug; »Gnadenerlaß«; also –:) doch nicht wie ein Heerführer einen Waffenstillstand gewährt oder ein König einen Gnadenerlaß, nicht so kann Gott rechtfertigen; nein, das widerspräche der ewigen Heiligkeit Gottes. Die Rechtfertigung ist gewiß eine Gnade; aber sie ist auch eine Gerichtshandlung. Sie muß eine rechtliche Grundlage haben, d. h. den Ansprüchen des Gesetzes, die Gottes eigene sind, muß Genüge geleistet werden.«

Eigentlich ist das sehr juristisch.

Der Pastor sah in das Heft, das auf dem Pult zwischen den beiden Fenstern aufgeschlagen dalag; er verglich es mit dem, das er in der Hand hielt. Dabei hörte er das laute Getöse des Dampfers; er fuhr gerade auf dem See vorüber. Der Pastor mußte durch das Fenster sehen und die Folge war. daß er, ohne es zu wissen, sich dort hinauslehnte. Die Sonne schien auf das weiße Zelt des Dampfers, die Schaumlinie zwischen Land und Insel lag da wie eine straffe Schnur; am Himmel kein Wolkenstreifchen, sodaß der Rauch sich von freiem Grunde abhob, und ebenso hörte man den Lärm ungedämpft. Der Pastor sah von dem Dampfer aus die Stadt, den Strand, über den See, nach den Bergen auf der andern Seite des Sees: die entferntesten blauen waren noch nicht ganz vom Schnee befreit. Das Getöse des Dampfers legte sich über den ganzen Anblick wie eine Rede, die seine eigne ablöste. Ein bescheidener Duft aus seinem Garten lockte die Augen von dem Großen auf das Kleine. Das hatte er und der kleine Eduard alles gethan, d. h. er hatte es gemacht, und Eduard war dabei gewesen, um Schaden anzurichten. Der Pastor sah besonders auf die Beete, auf denen noch nichts gewachsen war, dann auf die, die zuerst fertig geworden waren und leider schon jetzt gejätet werden mußten. Dabei konnte auch der kleine Schlingel Eduard mithelfen. Langweilig war's; aber er hatte sich's nun einmal selber versprochen, daß in diesem Jahre kein anderer den Garten anrühren sollte; außerdem war es so gesund, sich zu bücken; die Galle mischte sich mit dem Blute. Ohne es zu wollen, dachte er daran, wenn die Frau mit einem Glas Wein oder einem Stück Kuchen kam; es liegt in der Natur des Weibes, unsere Schwachheit zu ahnen und ihr nachzugeben. Er sah hinüber, wo sie verschwunden war, richtete sich gerade auf und sagte: »– – Den Ansprüchen des Gesetzes, die Gottes eigne sind, muß Genüge geleistet werden. Könnte das durch den Sünder selbst geschehen, so wäre die Rechtfertigung keine Gnade; selbstverständlich muß das durch den Geist geschehen.

Aber auch die Genügeleistung durch einen andern muß aus Gottes erlösender Gnade fließen, wenn sie nicht die Rechtfertigung (ach, so juristisch!) aufheben soll. Und soll fernerhin diese neue Gnadenhandlung allen zu gute kommen können, dann muß die Genügeleistung für das ganze sündige Geschlecht gelten. Wenn nur Gott eine solche Genügeleistung einen solchen Vergleich, eine solche Sühne zu stande bringen kann.

Dem Christen ist es eine Thatsache des Glaubens, daß diese Grundlage für eine Weltsühne, diese Lösung von aller Sünde des Menschengeschlechts einmal für allemal durch Jesus Christus gewonnen ist, und daß sie jedem einzelnen Sünder zu gute kommen kann.«

Der Pastor sah hinaus. Wie lange wohl das Dampfschiff . . . nein, ist es nicht schon da? Er ging ans Fenster und blieb stehen. In gerader Linie schoß das Boot auf die Landspitze zu, die sich so weit hinaus erstreckte, daß sie fast bis an die Insel reichte. Der mächtige Bezirk dort auf der rechten Seite, dessen Nase die Landspitze gleichsam bildete, schrägte sich auch in dieser Richtung nach und nach ab; der See lag dazwischen. Hof an Hof sonnte sich, grün und fruchtbar; es waren große Betriebe, wie der Abstand zwischen den Gehöften bewies. Aber die Seite, die sich nach der Insel hinaus erstreckte, hatte die Form einer flachen Zange; und dort, durch den Sund hindurch sollte das Dampfschiff in den großen Fjord verschwinden.

Das dumpfe Getöse des Dampfers! Ist es nicht, als ob die Natur Stimme bekommen hätte? d. h. die ganze Landschaft, nicht bloß ein Teil. Gesetzt, über die Landschaft wäre eine Saite gespannt und ein Bogen striche darüber, dann klänge es wie das Getöse des Dampfers. – –

»Still!«

»– – Gott hat es gewollt und hat es durchgesetzt, daß ein Sünder durch Gottes Gnade gerechtfertigt werden kann, dadurch, daß Christus Genüge geleistet hat. Christi Verdienst, Christi Gerechtigkeit hat quittiert. Jeder kann sich gleichsam seinen Teil von der Gerechtigkeit abschneiden, die Christus für die Welt gewonnen hat.« Nein, das klingt vielleicht zu stark? Aber das ist damit gemeint.

Bald darauf lag er, auf seine Ellbogen gestützt, im Fenster, als wollte er nicht wieder aufstehen. Er sah auf den Weg, den Josefine mit den Kleinen gegangen war, auf den See und die Insel hinaus und dachte an das Inselchen; das dort draußen links lag; von hier aus sah er es nicht; aber er wußte, daß es dort war und daß es so hübsch war. Von den Bergen wieder geschwind zum Dampfer hinab, der sich durch den Sand hindurcharbeitete. Dort draußen hatte die Insel einen Waldhut auf, der eben jetzt vom Rauche des Dampfschiffes ein Florband bekam. Der Luftzug ging wohl dort draußen in anderer Richtung? Nein, ging er jetzt auch hier so? Um diese Zeit schlägt der Wind oft um. Nun duftete es nicht länger vom Garten herein oder von den Bäumen und Feldern; bald wird wohl der Wind schwarze Streifen im Wasser pflügen. Eine Dampfpfeife stöhnte und mühte sich links unten auf dem See; ein Eisenbahnzug ging ab, oder ein Güterzug wurde rangiert.

Wie still es sonst war! Er hörte in weiter Ferne ein paar Kinderstimmen, ja alle ihre Schwingungen. Ab und zu klopfte und sägte es in dem neuen Hause unten an der Ecke des Strandweges und der Straße, die hier herauf führte; der Klang war so, wie es aus einem leeren Raum zu erwarten war. In der Ferne dauerten die gedämpften Staccato-Töne des Dampfschiffgetöses fort. Das Haus, in dem er wohnte, stand frei, und diesem Umstande war es zu verdanken, daß er so weit hinaus sehen und hören konnte; wenn aber die Felder in Bauplätze zerlegt werden sollten, so war es damit vorbei.

Darüber verfiel er in Gedanken; sollte er nicht selber aufkaufen? Er wollte so gern; aber es war ja seine Frau, die Grund und Boden und alle Habe besaß. Sein eigener kleiner Vermögensrest stak in dem elenden Hause mit dem Garten, das rechts daneben lag und von seiner Mutter bewohnt wurde.

Es hat viele Vorteile, mit einer reichen Frau verheiratet zu sein, selbst wenn im Ehekontrakt steht, daß sie allein über ihr Vermögen verfügt; es fallen viele Bequemlichkeiten ab, die das Leben freundlicher und die Arbeitsbedingungen leichter gestalten; es giebt auch verschiedene Gelegenheiten, zur Macht zu gelangen – besonders einem Pastor. Man kann viel Gutes thun, was sich andere versagen müssen, und das schlägt in Macht um. Er hatte es gefühlt, und das Behagen daran gefühlt. Ihm gefiel es.

Aber –. Alle »aber« haben ihren Ursprung darin, wie sie ist, die über das Vermögen verfügt. »Gleichwie die Gemeinde Christus unterthan ist –.«

Still! – Er begann wieder zu lesen, diesmal laut:

»Die äußere Grundlage für die Rechtfertigung war also, daß Jesus den Gesetzen Genüge leistete; die innere Bedingung ist die, daß der Sünder daran glaubt. Wie versöhnt der Herr auch mit der Welt sein kann, so kann er dem Sünder allein seine Gnade schenken, der mit Christus dadurch in Gemeinschaft steht, daß er an ihn als an den Erlöser glaubt

Das Heft sank; der Pastor wußte selber nicht, was er las. Denn die Stelle im Epheserbriefe hielt seine Gedanken gefangen. Ist das Weib nicht unterthan in allen Dingen, . . . ja, dann ist gerade das, daß die Frau über das Vermögen verfügt, eine Saat der Ungleichheit.

So tief war seine Überzeugung davon, so stark die Beweise die er dafür zurechtlegte, daß er nichts mehr sah und nichts mehr hörte – alles nur wie durch die Erzählung eines andern vernahm. Er trommelte auf den Fensterrahmen und sah auf die Straße hinunter. Zwei eben erwachte Sommervögel, die über und unter seinem Fenster sich in unendlichen Schwingungen umkreisten, hatten keine Ahnung von all den Beschwerlichkeiten, die daraus fließen, daß man ein Vermögen hat, über das man nicht verfügen kann. Etwas weiter entfernt läutete, geschützt durch einen Schemel des Jungen, der hier einige Tage unbeachtet gestanden hatte, eine liebliche declytera mit langem Blütenstengel voll von roten Glocken, zur Hochzeit, zur Hochzeit, ohne sich im geringsten um den Epheserbrief 5,24 zu kümmern. Deshalb übersah sie der Pastor. Ja, nicht einmal die Bienen des Gärtners Reargaard – vielleicht waren sie heuer das erste Mal hier oben (wenn sie nur den Weg jetzt zurückfanden, wo der, Wind umschlug und der Duft warnte!) – nicht einmal die Bienen hörte er um die frischen Schößlinge im Schutz des Hauses summen. Eheliche Bekümmerungen über Epheser 5,24 verdüstern einem das Gesicht, selbst wenn die Sonnenstrahlen aufs Haar scheinen. Über den sanft abgeschrägten Bezirk dort unten rechts mit dem dreifach verschiedenen Grün, dem der Wiesen, Äcker und des Waldes glitten die Augen so blind hin wie der Wind. Jetzt gerade eine schwarze Furche auf dem See wie zur Probe, einige vereinzelte lange Streifen; – er war mitten drin und sah es nicht. Eine angebundene Kuh brüllte von dort oben nach Wasser, Wasser! Alles um ihn herum wartend und ungesehen . . . bis ein verzweifelter Kinderschrei die warme Frühlingsluft durchschnitt, . . . ein einziger langer. Er hörte jede Schwingung darin, er packte ihn wie eine feste Hand bei der Brust; er sprang auf, blieb atemlos stehen, um den nächsten zu hören. Der nächste Schrei blieb aus, das Kind mußte ohnmächtig geworden sein . . . nein, da klang es wieder schneidend! Der erste Schrei war verzweifelt gewesen, dieser war das Entsetzen selber, und der nächste wieder, und der folgende . . .! Der Pastor stand bleich, alle Sinne gespannt. Da hörte er rasche Schritte im Sande rechts; seine Mutter kam an der Thür zwischen den beiden Gärten zum Vorschein, ein altes, dürres Weib mit schwarzer Kappe über kreideweißem Haar, das an den Wangen klebte und steif in ein vorsichtiges, etwas trockenes Gesicht hineinragte.

»Gott sei Dank,« ruft der Pastor aus, »daß es nicht Eduard ist: so weint er nicht. Er schreit gerade drauf los, nicht so gebrochen.«

»Wer's auch ist – jedenfalls ist es schlimm,« antwortete sie.

»Du hast recht, Mutter,« und er betete in seinem Herzen sofort für den Armen, der so schmerzlich schrie. Aber als er das gethan, dankte er, daß es nicht sein Junge war; das mußte ihm erlaubt sein.

Währenddessen kam ein hochgewachsener Mann in heller Kleidung, mit Stanley-Hut über die Straße. Er sah die ganze Zeit Haus und Garten an; der Pastor sah ihn auch an, erkannte ihn aber nicht. Er wandte sich nach der andern Straßenseite, jetzt gerade auf die Treppe los – ein großer Mann mit kurzem, sonnverbranntem Gesicht, Brille, einem eigentümlichen schnellen Gang; aber in aller Welt –? . . . Zu gleicher Zeit trat der Pastor zurück; der Mann erreichte die Treppe, die er in zwei Sätzen genommen haben mußte, denn jetzt hörte er Schritte im Vorsaal. Es klopfte.

»Herein!«

Die Thür wurde völlig geöffnet; – aber der Mann stand noch draußen.

»Eduard!«

Der andere antwortete nicht. »Nein, Eduard! Du hier! Ohne erst sich anzumelden? Bist du's wirklich!« Der Pastor ging ihm entgegen und zog ihn in die Stube: »Willkommen! herzlich willkommen, Lieber!« Sein Gesicht war rot vor Freude.

Eduards sonnverbrannte Hände drückten zur Antwort die des Schwagers, seine Augen erglänzten hinter der Brille; aber er hatte noch nicht gesprochen.

»Hast du mir kein Wort zu sagen, Junge!« rief der Pastor, ließ seine Hände los und legte die seinen auf Eduards Schultern. »Trafst du nicht deine Schwester?« – »Ja wohl, sie sagte mir, wo ihr wohntet.« – »Und dann liefst du von ihr weg? Du wolltest schneller vorwärts? Mit dem Jungen ging's zu langsam?« fragte der Pastor; seine warmen Augen blickten in die das andern mit ungeteilter Freude. – »Nicht bloß deswegen. Hier wohnst du hübsch.«

»Ja, du wirst ebenso hübsch wohnen, wenn ich auch den nördlichen Stadtteil der Mitte vorgezogen hätte.« – »Aber ich hatte ja keine Wahl.« – »Nein, die hattest du nicht. Wolltest du das Krankenhaus kaufen, mußtest du die Doktorwohnung mit kaufen; die beiden gehören zusammen. Übrigens ein guter Kauf, das meinen alle. Und es ist bequem, und so viel Land dabei! – Ja, nun bist du ja lange genug in der Fremde gewesen. Es war wirklich lange, so auf einmal. – Warum hast du denn nicht geschrieben und dich angemeldet? Herr Gott, weshalb erkannte ich dich auch nicht sofort! Du bist ja wahrhaftig fast unverändert.« Er blickte dem Schwager ins Gesicht, das ihm einen milderen Ausdruck zu haben schien. Und er fuhr fort ohne Aufhören. Sie gingen neben einander oder standen vorn am Fenster. Jetzt wandte sich Eduard ihm zu und sagte: »Aber du, Ole. du bist nicht unverändert?« – So? Das wollte ich meinen. Ja, das sagen auch alle.« – »Ja, du hast einen geistlichen Anstrich bekommen.« – »Einen geistlichen? Ha, ha! Du meinst, ich sei etwas dicker geworden? Ich versichere dich, ich thue alles, was ein anständiger Mensch thun kann, um hier abzuhelfen; ich arbeite im Garten, ich mache weite Spaziergänge; aber nein! . . . Ja, siehst du, meine Frau pflegt mich zu gut.« – »Du solltest es wie ich machen.« – Was thust du denn?« – »Ich laufe auf den Händen.« – »Ha, ha, ha, auf den Händen? Ich in meiner Stellung?« – »In deiner Stellung? Wenn du durch das ganze Kirchenschiff auf den Händen liefest, würde es eine Predigt sein!« – »Ha, ha, ha! Kannst du wirklich noch auf den Händen laufen?« – »Ob ich kann?« Im selben Augenblick ging er auf den Händen; seine lose, kurze, rohseidene Jacke hing ihm über den Kopf, der Pastor sah sie und die Rückenstücke der Weste, die Leinwand zwischen der Weste und dem Hosenbund, ein Stück von den Hosenträgern und oben von den Strümpfen, die braunen Leinwandschuhe mit hohen Guttaperchasohlen; nun war Kallem fast um das ganze Zimmer herumgelaufen. Der Pastor wußte nicht recht, wie er es auffassen sollte. Kallem stand atemringend und rot auf, nahm die Brille ab, putzte sie und begann kurzsichtig die Bücherregale anzusehen.

Da fühlte der Pastor, daß etwas vorgefallen war, etwas, worüber sich sein Schwager ärgerte. Hatte die Schwester etwas gesagt, was ihn verstimmte? Was konnte es sein? Sie, die ihn bewunderte? Er wollte offen und ehrlich fragen; weshalb nicht gleich Klarheit schaffen? Kallem hatte die Brille aufgesetzt und ging an das Pult; darüber hing ein Christus von Michel Angelo in Holzschnitt; er sah flüchtig zu ihm auf, dann in das Heft, das aufgeschlagen auf dem Pulte lag. Und bevor der Pastor fragen konnte, sagte Kallem: »Johnsons systematische Theologie? Die kaufte ich mir gleich in Kristianssand.« – »Die? Du?« – »Ja, ich habe sie früher nicht bekommen können. Nun lag sie dort auf dem Ladentische. Mir war genau so, als bekäme ich die Heimat in Sicht.« – »Aber sie bedeutet nicht mehr Norwegen,« sagte der Pastor. »Das meiste pure unmögliche Juristerei.« Verwundert über die Antwort des Pastors und ihren Ton wandte sich Kallem nach ihm um. »Ist diese Denkweise unter den jüngern norwegischen Theologen gewöhnlich?« – »Ja. Ich habe sie jetzt nur eingesehen, um morgen alle die verschiedenen Meinungen über die Versöhnungslehre genau auseinandersetzen zu können.« – »Ach, so, das ist gut.« Kallem sah zum Fenster hinaus; es war zum vierten oder fünftenmal. Gewiß war etwas vorgefallen. »Da sind sie!« sagt er. Er stand an dem am weitesten entfernten Fenster, der Pastor an dem andern, und von hier aus sah er den roten Sonnenschirm seiner Frau über dem Musselin-Kleide; sie kam langsam und führte den Jungen an der Hand, der zweifellos in einem fort redete; denn sein Gesicht war ihr zugewandt, während er den unebenen Weg stampfte. Sie hielten sich auf der andern Seite. Aber unmittelbar am Zaun ging eine Dame. Jetzt hob sie gerade einen grünen Sonnenschirm auf (wie hübsch er war), eine Dame, nicht so hoch wie Josefine, aber schlank; sie sah sich um, sie wandte sich so leicht, hatte rotblondes Haar; eine schottische Reisetracht; der Schnitt fremd; es mußte eine Fremde sein. Ja, da war es nicht zu verwundern, daß Eduard vorausgelaufen war; er wollte allein sein und sie allein lassen. »Wer ist die Dame, die mit Josefine kommt? Kam sie mit demselben Dampfschiff?« – »Ja.« – »Du kennst sie?« – »Ja, es ist meine Frau.« – »Deine –? Du bist verheiratet?« – er sagte es so laut, daß beide Damen heraufsahen. Der Pastor wandte sich um; aber er sprach ins Leere; der Doktor hatte seinen Kopf immer noch draußen. Von draußen antwortete er auch: »Das bin ich seit sechs Jahren.« – »Seit sechs –?« Der Pastor steckte seinen Kopf wieder zum Fenster hinaus; das verwundertste Gesicht sah Kallem an. Seit sechs Jahren, dachte er. Wie lange war es doch . . .? Lieber, es ist ja kaum sechs Jahre her, daß . . .?

Die Damen waren nun ganz in der Nähe; die Fremde am äußersten Zaun, während Josefine und der Junge herübergekommen waren. »Du, Mutter, weshalb fällt ein kleiner Junge gerade auf den Kopf?« Keine Antwort. »Du, Mutter, weshalb fällt er nicht auf die Beine?« Keine Antwort. »Weil der Oberkörper am schwersten ist, mein Junge!« Das sagte Kallem. Alle drei sahen empor.

Sogleich verließ er das Fenster, um ihnen entgegenzugehen; der Pastor hinterdrein; aber auf der untersten Stufe der Treppe blieb er stehen.

Die Augen der Dame füllten sich mit Thränen, während Kallem kam; sie versuchte es vergebens dadurch zu verbergen, daß sie nach allen Seiten sah. Die Augen Josefinens waren kalt. Der kleine Eduard war zu seinem Vater hinaufgelaufen und erzählte nun, daß Nikolai Andersen die Leiter hinaufgeklettert und dann gefallen sei. Der Junge zeigte nach dem neuen Hause hinunter. Und die »neue Dame« hätte ihm ihr Taschentuch um den Kopf gebunden. Das schien den Pastor gerade jetzt nicht so stark zu interessieren, als der Junge erwartet hatte; deshalb lief er in das Haus der Großmutter, um es dort zu erzählen.

»Ich brauche sie wohl nicht vorzustellen?« sagte Eduard Kallem, während er die Hand seiner Frau faßte und dem Pastor ins Auge sah. Dieser suchte vergebens nach Worten, fand aber keine und guckte nach seiner Frau hinüber, die keine Miene machte, ihm zu helfen.

Vor kaum acht Tagen hatte der eifrige Geistliche gegen die vielen Scheidungen mit darauffolgender neuer Ehe im »Morgenblatt« einen Artikel geschrieben mit der Überschrift: »Ehe oder Ehebruch?« Und da hatte er mit unwiderleglichen Beweisen gezeigt, daß es nach der heiligen Schrift keinen andern Scheidungsgrund als Untreue gäbe. Wer seinen Ehegenossen bei einer Untreue ertappte, war frei und konnte sich wieder verheiraten; sobald aus anderem Grunde Geschiedene sich wieder verheirateten, während der andere Teil noch lebte, so bestand die erste Ehe gleichwohl, und die neue war Ehebruch. Vor noch nicht acht Tagen hatte er das in voller Übereinstimmung mit seiner Frau geschrieben. Und gerade weil jenes Ereignis zwischen Kallem und Ragni Kule so frisch vor seiner Erinnerung stand, schrieb er, einmal sei die Frau eines kranken Mannes der Stellung, die Gott für sie ausgewählt hatte, müde geworden und habe heimlich mit einem andern ein Liebesverhältnis gehabt; aber gleich nach der Entdeckung sei sie fortgezogen und habe sich scheiden lassen. Gesetzt nun, schrieb er, eine solche Frau verheiratete sich noch obendrein mit dem, der ihr geholfen hatte, ihren Mann zu betrügen? Wer könnte eine solche Ehe anders nennen als fortgesetzten Ehebruch?

Wort für Wort hatte er so geschrieben. Seine Frau war mit ihm völlig einig; sie haßte die Frau im voraus, die ihren Bruder verführt hatte. Da standen sie nun beide vor ihr. Und nun war Ragni des Bruders Frau.

Etwas Unmöglicheres konnte das Wiedersehen nicht bieten. Und sie waren so sicher gewesen, daß sich der Bruder von allem leichtfertigen Wesen abgewandt hatte! Jetzt war er ein gelehrter Mann, dem eine Professur angeboten war, unter den jüngern Ärzten vielleicht der, dem die Kameraden am meisten zutrauten.

Das war eine fürchterliche Enttäuschung! Und nun sollten sie sogar zusammenleben, ihren Bekannten in der Gemeinde die beiden als Herr und Frau Kallem vorstellen? Und das, nachdem er mit Namensunterschrift ihr Zusammenleben als Ehebruch erklärt hatte!

Kallem hatte es natürlich gelesen; er, der sich so sehr um das geistige Leben Norwegens kümmerte, daß er Johnsons Dogmatik las . . . er las natürlich vor allem die Zeitungen! Er hatte es gelesen, und das erklärte alles! Sie stand da und wußte nicht, wohin, sie klammerte sich bloß an ihn. Und er? – Er hielt nun seinen rechten Arm um ihren Leib gelegt, als wollte er sich laut zu ihr bekennen. Sie hielt mit ihrer Rechten hartnäckig den Sonnenschirm über den Kopf, als solle er decken; aber auf die Dauer ging das nicht, das Taschentuch mußte hervor, und da sie das ihre nicht hatte, nahm sie verstohlen das ihres Mannes.

Der Pastor sagte mechanisch: »Wollen wir nicht hineingehen?« Man willfahrte ihm. Er führte sie im Hause umher, während Josefine ging, um Erfrischungen zu holen. Vom Studierzimmer, das nach dem Garten zu gelegen war, gingen sie in die große, der Straße zugewandte Stube, in die dahinter liegende Speisestube, von dort aus nach der Küche an der Nordseite des Hauses mit besonderem Eingange vom Hofe aus. Auf derselben Seite eine Speisekammer und ein Gastzimmer nach dem Garten zu neben dem Studierzimmer des Pastors, vorn mit einem Altan, der mit der Treppe am andern Ende der Façade harmonierte. Oben mehrere Schlafzimmer u. s. w. Das Herumführen währte kaum fünf Minuten; von Seite des Pastors die notwendigsten Worte, von Kallem eine spöttische Bemerkung darüber, daß er an mehreren Zeichen erkannte, daß der Pastor zur Zeit im Gastzimmer schlief und Josefine mit ihrem Sohne oben; dann eine Bemerkung von einer seltenen Sammlung von Bildern berühmter Theologen, die um Luthers Bild gruppiert waren und an der großen Wand der Stube hingen. Die Erfrischungen, die Josefine anbot, schlug er aus, nahm Abschied und ging.

Ragni war wie unsichtbar mit umhergegangen. Nun zum Schlusse strich ihre lange schmale Hand durch die des Schwagers und der Schwägerin wie der Schwanz eines Iltis durch ein Mauerloch. Die Augen huschten schüchtern über sie weg wie der Schatten eines Flügels. Der Pastor gab bis an die Treppe das Geleite; Josefine blieb an dem großen Fenster stehen.

Kallem ging so schnell, daß Ragni bei jedem dritten Schritte einen Sprung thun mußte; der Pastor sah es. Diese Hast vermehrte noch die Aufregung, in der sie sich befand, und als sie daher ungefähr bis in die Mitte zwischen der Strandstraße und dem Hause des Pastors gekommen waren, bat sie ihn, stehen bleiben zu dürfen. Sie begann zu weinen.

Kallem stutzte über eine von der seinigen so verschiedene Gefühlsscala; denn er war zornig. Aber bald fiel ihm ein, daß sie vielleicht gerade über seine Art, sich zu benehmen, weinte. Er zog sie mit sich an den Zaun und stellte sich selbst mit dem Rücken dagegen: »Hab' ich mich nicht richtig benommen?« – »Du warst so bös – o, so bös, und nicht bloß gegen sie und ihn, auch gegen mich; und besonders gegen mich. Du sahst mich nicht an, du nahmst nicht die geringste Rücksicht darauf, daß ich dabei war.« – »Aber, Liebe, es war gerade deinetwegen –!« »Ja, dann will ich lieber zurückreisen! So etwas kann ich nicht aushalten!« Sie umschlang ihn. »Aber, liebe Ragni, sahst du denn nicht, wie Josefine war?« – »Jawohl,« antwortete Ragni, während ihr Kopf sich wieder erhob, den Hut im Nacken, das Haar in Unordnung: »Sie tötet mich einmal!« und wieder warf sie sich an seine Brust. – »Na, na,« sagte er; »sie soll dir kein Härchen krümmen können. Aber soll ich dich denn nicht verteidigen?« – Sofort richtete sie sich wieder auf: »Nicht so! Ich hätte auch nicht geglaubt, du wärest so! Das war so . . . so unfein, Eduard,« sie erfaßte seinen Rockkragen und zupfte daran. – »Höre nun,« sagte er ruhig, »das, was der Kerl über uns geschrieben hat, das war unfein. Und ihr Schweigen? Ich meine, das war schlimmer, als alles, was er geschrieben hat.« Darauf antwortete sie nichts. Ein Weilchen später hörte er: »Ich passe hier nicht hinein.« Er beugte sich über ihren Kopf, der Hut fiel jetzt herunter, niemand merkte es; er sprach leise auf ihr rötliches Haar hernieder; sie sollte nicht ganz verzweifeln, nicht gleich davon sprechen, zu sterben oder fortzuziehen. »Wir müssen es mutiger anfassen; verstehst du mich?« – »Ja.« Ihr zerzauster Kopf richtete sich wieder empor. »Aber du darfst nicht vergessen, daß du mich mit hast; du kannst dich nicht benehmen, als wenn du allein wärst.« – Nein, das verstand er wohl und stand mit bösem Gewissen da.

*

Zur gleichen Zeit war Josefine wieder in der an der Straße gelegenen Stube; hier gab es nur ein Fenster, größer als zwei gewöhnliche, und sie lehnte jetzt ihren Kopf gegen das Fensterkreuz. Der Pastor stand hinter ihr. Er nannte es einen bösen Zufall, daß er das im »Morgenblatt« geschrieben hatte. »Dein Bruder erzählte, er wäre sechs Jahre verheiratet?« – Josefine wandte sich völlig ab. Aber als sie ein Weilchen nachgedacht hatte, sagte sie bloß: »Unsinn!« – und wandte sich wieder nach dem Fenster. Der Pastor meinte auch, es müsse Spaß sein. Sie hätten sich doch nicht trauen lassen können, bevor sie gesetzlich geschieden war? – »Er war so auffällig,« sagte er; – »er ging auf den Händen.« Sie wandte sich ganz verwundert ihm wieder zu. »Er ging auf den Händen,« versicherte der Pastor, »um das ganze Studierzimmer herum. Er wollte, ich solle so zum Altar gehen. Wenn er Luther verhöhnt, muß ich mich wohl darein finden, auch verhöhnt zu werden.«

Sie wünschte offenbar nicht, daß er gerade jetzt weiter über die Begegnung sprach; es schmerzte sie zu sehr. Er zog sich in das Studierzimmer zurück; sah aber gar nicht mißvergnügt aus, als er sich eine Pfeife stopfte.

Josefine hatte so unendlich viel Wert auf die Begegnung und das Zusammenleben mit dem Bruder gelegt. Sie hatte keine Andeutung geduldet, daß es vielleicht anders kommen könnte, als sie erwartete. Was sie jetzt litt, war vielleicht gut für sie.

War er selber heute gewesen, wie er sollte? Das glaubte er doch. Möchte er es immer so sanftmütig nehmen; denn bei dem einen verblieb es nicht; das wußte er wohl.

Die Pfeife schmeckte gut und das Predigtheft wurde wieder vorgenommen; – aber die Gedanken an Josefine mengten sich hinein. Er konnte niemals die Sicherheit in ihrem ehelichen Verhältnis finden, die andere genossen. Sie hatte ihre schlimmen Zeiten, und diese letzte war bös gewesen. Zweifellos, weil all ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, der kommen sollte.

»Still!«

»– – Die Rechtfertigung ist eine That des Augenblicks in uns, fertig für alle Zeit. Alle Sünden sind ausgelöscht; in Gottes Augen sind wir ebenso rein und heilig als Christus.«



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