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Der Leiermann und sein Pflegekind.


Im Hafen.

Es war ein tolles Gewirre am Landungsplatz von Bremerhafen. Lastträger, Reisende, Kommende und Gehende, schossen durcheinander, als hätte sie eine Windhose ergriffen; – denn das vorletzte Zeichen war gegeben, das Schiff hißte schon die Segel auf, und noch standen Hunderte armer Auswanderer umher, deren Fahrniß sich verspätet, deren Gepäck noch ruhig am Strande lag. Jeder hatte nur Auge und Stimme für das eigene Geschäft, Keiner kümmerte sich um den Andern, und dennoch trieb eine Feder dies ganze summende, brummende Räderwerk – die Sehnsucht nach der neuen Welt, nach dem gelobten Lande der Europamüden.

Von Geräthschaften aller Art umgeben, deren Fortschaffung er mit finsterem Blick hütete, stand ein bleicher, langer Mann inmitten von Kindern, die, ihrer Sechs, den Orgelpfeifen gleich, mit großen Augen in das Getümmel und auf das weite Meer hinausglotzten, als wollten sie fragen: Was sollen wir denn da draußen? Mit gesenktem Kopf, anscheinend theilnahmlos an dem Gewimmel um sie her, saß eine hagere, verkümmerte Frau auf einer der Kisten, ein Bild der geduldigsten Entbehrung, und tränkte schweigend einen Säugling, blaß und dürftig wie sie selbst. Nur ein kleines, kräftiges Mädchen, mit lieblichem, thränenbedecktem Gesichtchen, lehnte aufrecht an dem stummen Mann und flüsterte: »Thu's nicht, Vater! schleppe uns nicht in das enge, schwimmende Haus, führe uns nicht auf das große Wasser! Sagt doch der Prophet: Bleibe im Lande –«

»Und verhungere redlich!« fiel der Mann bitter lachend ein und stieß das Kind von sich. Die stille Mutter erhob langsam den Kopf, sah den Ergrimmten aus großen, eingesunkenen Augen durchdringend an und sagte fast tonlos: »Das können wir in der neuen Welt auch!« – »Was?« fuhr der Mann sie an. »Ehrlich verhungern!« meinte die Frau ruhig. – »Du bist unsinnig, Grete, wenn Du vor den Kindern so etwas sagst; dort erwartet das Glück, das Wohlleben, der Reichthum den Fleißigen. Ein Narr, der noch so viel hat wie wir, um hinzukommen, und sein deutsches Elend nicht von sich wirft!« – »Den Fleißigen verläßt der liebe Herrgott nirgends, der kann eben so gut in der Heimath gedeihen als in der Fremde; Arbeit erhält überall!« – sagte die Grete sanft, indem sie dem kleinen Mädchen, das sich an ihr niedergekauert hatte, die Thränen abwischte. Dann erhob sie die Stimme ein wenig und fuhr fort: »Läßt Du Dein Laster nicht in der Heimath zurück, Stephan Balder, so werden wir im neuen Holland das alte Elend finden – Du selbst schleppst es dann über Meer uns nach!«

Der Stephan wollte eben heftig antworten, als ein Zeichen vom Schiff ertönte, die Träger herbeieilten, die letzten Kisten aufpackten, und Alles nach dem Damm drängte. Die bleiche Mutter wickelte ihren Säugling fester in das Umschlagetuch, die kleinen Buben sprangen schreiend und händeklatschend um die Lastträger her, denn es sollte ja fortgehen, gleichviel wohin; das Mädchen aber klammerte sich krampfhaft an den Arm des Vaters und schrie in wahrer Todesangst: »Vater, thu's nicht, der Engel hat mir's ja im Traum gesagt, Du gehst in's Unglück! Bleib da, bleib da!« Sie hing so an dem Stephan, daß er nicht von der Stelle konnte. »Laß mich los, Rieke, oder ich schlage zu!« schrie er wüthend. – Da humpelte auf seinem Stelzfuß ein alter Leiermann an die Gruppe heran, legte eine Hand auf des Kindes Achsel und sagte heiser lachend: »Laß Du nur, Kind, 's ist ganz hübsch da drüben! War auch dort, könnt' ihm Vieles erzählen, aber Keiner glaubt's, Jeder meint, ihm sei ein Extrabrod gebacken. Soll's nur selber versuchen – zu einem Leierkasten wird er's drüben doch noch bringen können, und der nährt seinen Mann überall!« Damit drehte er seine Schraube, ließ sein: »Was ist des Deutschen Vaterland?« weithin erschallen; Hunderte aber schrieen mit dem Stephan: »Australien! Australien!« und stürmten nach dem Strand, denn das letzte Läuten ertönte vom Schiff. – Unsere Auswanderer waren mit einem kleinen Zug Theilnehmer sehr spät nach Bremen und deshalb zu spät nach dem Hafen gekommen, um sich auf dem Schiffe einrichten zu können wie die früher Eingetroffenen. So drängte nun Alles mit fiebernder Hast nach den schwanken Brettern, die von der Höhe des stattlichen Dammes auf den Segler hinausführten und, einer schwebenden Brücke gleich, über dem grünen Wasserspiegel hingen, der tief drunten wogte, eine Reihe angelegter Fischerboote lustig schaukelnd.

Das kleine Mädchen hatte sich die thränenden Augen mit den Händen bedeckt, es war dem Kind zu Muthe, als säße es in einer Radschaukel. Alles bewegte und drehte sich, Alles summte und surrte um sie her; sie lief willenlos immer fort, von der tosenden Menge gefaßt, sie glaubte sich zwischen den Ihren, als sie plötzlich einen tüchtigen Rippenstoß fühlte und eine rauhe Weiberstimme ihr zurief: »Was heulst Du, Balg? Mach' die Augen auf, wenn Du nicht in's Meer plumpen willst wie eine blinde Katze!« Das Mädchen wischte sich die Augen, und sah in der Ferne das schwarze Haar des Vaters mit seiner rothen Kappe bedeckt und die zwei kleinsten Buben auf seinen Armen über den Trubel herausragen, sie schrie laut auf: »Vater! Mutter!« und drängte sich unter die Masse hinein, die eben die schwankende Brücke betrat. – Die Schiffsglocke ertönte jetzt schrill und mahnend durch die Luft, man drückte und preßte, das kleine Mädchen klammerte sich, niedergestoßen, athemlos an ein kräftiges Bein, das sie im Fallen ergriff, das Bein schleuderte sie hinaus, sie stürzte, fiel – es ward Nacht um sie –: Niemand kümmerte sich um das Kind, Niemand bemerkte sein Verschwinden, Jeder hatte ja nur einen Gedanken: nicht zurückzubleiben.

Jetzt hatten sie das Schiff erreicht, das Gewimmel am Bord glich dem eines Ameisenhaufens; ein frischer Wind blies in die Segel, und rasch flogen sie dahin die Armen, der heimischen Erde die letzten Grüße zuwinkend, und ihre Hoffnungsfahne wehte lustig nach dem unbekannten Strand einer fremden Welt.

Der lahme Spielmann leierte am Damm noch ein Weilchen den Packträgern sein »Was ist des Deutschen Vaterland?« vor. Das kleine Mädchen aber, von Gott nicht vergessen wie von den Menschen, war auf das zusammengereffte Segel eines Fischerbootes gestürzt, und lag – wenn auch bewußtlos, doch wohlgeborgen – in dem einsamen, sanft schaukelnden Fahrzeug.

*

Der Leiermann.

Es war im Frühjahr, die Abendluft noch ziemlich kühl, und heute sprühte zum Ueberfluß ein feiner, kalter Regen nieder, der das Verweilen im Freien, Glock halb neun Uhr, nicht sehr einladend machte. Dennoch stand der lahme Leiermann noch vor einem ziemlich großen Hause am Hafen, rauchte gemüthlich seine Cigarre und orgelte: »Ja, das Gold ist nur Chimäre,« während sein Auge gierig durch die Fenster einer matt erleuchteten Kneipe starrte, in welcher Matrosen, Lastträger und Gesindel aller Art das Geld vertranken und verspielten, das sie am Tage im Schweiße des Angesichts erworben. »Der Wetterkerl, der Wilms, hat wieder gewonnen! Solch ein lumpiges Markstück sollte doch wohl von dem lüderlichen Gesellen zu erschnappen sein!« brummte der Alte, seine Walze drehend, daß der Kasten bis in's Mark hinein krachte. Kaum war dies gesprochen, so taumelte ein kräftiger, hübscher Bursche, mit funkelnden, schwarzen Augen, wohl kaum achtzehnjährig, aus der offenen Thür. »Hollah, Wilms!« schrie der Leiermann mit weinerlicher Stimme, »geh' mir nicht vorüber, Glückskind! Leiere den ganzen Tag umsonst, muß noch heute nach Bremen zurück, hab' keinen Zehrpfennig verdient, und die alte Unke hungert.« – »Daß Du hungerst, Frieder, glaub' ich Dir nicht,« lachte der Wilms hell auf; »aber durstig bist Du immer, alter Kellerhals! Da, nimm schnell, eh' sie drin merken, daß ich mir den Mammon nicht wieder abjagen lasse; sauf' Dich einmal satt – wenn's möglich ist.« Damit warf er ihm Geld in die Mütze und schlenderte den Damm hinab. Der Alte machte große Augen, das Geldstück glänzte im Wiederschein des Lichts, das aus der Kneipe drang, wie Gold: ein Dukaten lachte ihn an. »Donner! da hat er mir statt eines Stübers einen Holländer verehrt, der muß ein paar goldne Gänse heute gerupft haben!« – Er wickelte das Goldstück sorgfältig in ein Papier und schob es in eine Falte seiner zerlumpten Weste.

Drunten auf dem Wasser war es indeß lebendig geworden. Zwei Stunden mochten seit Abfahrt des Schiffes verstrichen sein. Draußen auf der hohen See schrie die arme Mutter wohl längst vergebens nach dem verlorenen Kinde, dessen Abwesenheit sie vielleicht spät erst entdeckte, als Ruhe und Ordnung sich am Bord herstellten; aber das arme Kind hörte den Ruf der fernen Mutter nicht. Besinnungslos, allein, unbeachtet, mitleidig geschaukelt von dem leeren Boote, das sie rettend aufgenommen, lag es da. Ohne das leichte Heben und Sinken der Brust hätte man das blutbedeckte Kind für eine Leiche halten können. Ein scharfer Nordost, der sich seit einer Viertelstunde erhoben, blies jetzt nach und nach die dunkeln Haare von der blassen Stirn zurück, der feine kalte Regen drang allmälig durch das dünne Röckchen, die See ging höher, das Boot schwankte immer rascher auf und nieder, stieß wohl zuweilen mit dem Nachbarboot oder der hohen Damm-Mauer, an die es angelegt war, dröhnend zusammen, und solch ein dumpfer Klang, solch ein harter Stoß mochte es sein, der die Kleine endlich aus der wohlthätigen Betäubung erweckte. Wer aber möchte das Entsetzen beschreiben, mit welchem sich das unglückliche Geschöpf in dem engen Raum des schwankenden Boots wiederfand, zerschlagen und durchnäßt von Wogen und Regen! Mit welchen Tönen rief die Verlassene in das Brausen der Wellen, in, die unheimliche Wasserwüste, die vor ihr lag, jammernd hinaus: »Mutter! Mutter! hast mich verlassen? Vater, zogst du ohne mich fort? Ach fort! Alle fort!« – wimmerte das verzweifelnde Kind – »die Brüder, das Schwesterchen auch, Alle, Alle fort! Ich bin allein, Niemand denkt mein, Niemand hört mich!« Dann warf sich die Kleine laut schluchzend auf das Segeltuch und drückte die Augen fest zu, als wollte es seinem Schicksal nicht mehr in's Gesicht sehen. Doch plötzlich fuhr sie erschrocken auf, das blasse Gesichtchen belebte sich, sie faltete die zitternden erstarrten Händchen und blickte zu dem dunkeln Himmel empor. »Vater unser, der du bist im Himmel,« betete sie inbrünstig, »ach, ich bin ja gewiß nicht allein, du siehst, du hörst mich, du denkst an mich, du fütterst die jungen Raben, sagt die Mutter, wenn die alten sie aus dem Neste werfen. Siehe, ich bin auch vom Nest gefallen, lieber Gott, du wirst mich ja auch beschirmen!«

In ihrer Angst und Noth hatte das Kind nicht gesehen, daß sich hoch über ihr am Kai ein häßliches, einäugiges Gesicht, mit rother Nase und struppigem grauen Bart, über das Geländer neigte, um nach dem Gewimmer drunten zu lauschen. Sie hatte nicht gesehen, daß der häßliche Alte eifrig mit einem kräftigen Burschen sprach, daß dieser den Damm entlang lief bis zur Wassertreppe, dort in das erste Boot stieg, sich immer das nächstliegende mit einer Hakenstange heran zog und sich so von einem Boot in's andere schwang, bis er mit einem Sprung vor dem knieenden, entsetzten kleinen Mädchen stand. Ohne ein Wort weiter als: »Halt' Dich fest, Kröte!« schleuderte er das Kind auf die Schulter und ging nun, wenn auch nicht ganz so rasch, doch eben so sicher wie er gekommen, auf der schwanken, schaukelnden Schiffbrücke zurück, um seine Bürde nach wenig Minuten vor dem lahmen Alten niederzusetzen. »Wilms,« brummte dieser, »das vergesse ich Dir zeitlebens nicht! Bist auf mein Rufen umgekehrt, hast den Hals gewagt, wenn die besoffenen Seehunde Dich erwischt, um mir das Mädel da zu holen! Bist doch ein braver Kerl, trotz der Würfel und des Kartenspiels!« – worauf der Bursche lachend erwiederte: »Wie Du, Frieder, trotz des Kümmels und Wachholders. Gute Nacht!« Damit ging er pfeifend den Damm hinunter, und diesmal rief ihn der Alte nicht zurück.

Er schaute das Kind an, dieses ihn, Beide stumm, Beide gedankenvoll. Die Kleine zitterte vor Frost und Angst an allen Gliedern, der Alte vor Mitleid und Rathlosigkeit. Der Stelzfuß ergriff des Kindes Arm, zog sie zu dem hellen Fenster der Kneipe, setzte sie auf eine dort befindliche Bank und betrachtete sie aufmerksam. »Das ist ja, straf' mich Gott, das Kind von dem Auswanderer, das nicht über Meer wollte! Wie kamst Du da hinunter in die Fischerbucht?«

Die Kleine erzählte mit klappernden Zähnen und unter stürzenden Thränen, was sie wußte, und der Leiermann faltete verwundert die Hände. »Du mußt zu 'was Besonderem aufgespart sein,« sagte er mit einer Art Ehrfurcht, »denn Dich hat der Herr gar wunderbar erhalten.« – Das Mädchen sah ihn minder scheu an als früher: er sprach ja Worte der Bibel, die sie so wohl kannte; er war also doch nicht so gottlos, wie er aussah.

Als er bemerkte, daß sie sich mit der Schürze die Stirn abwischte, daß sie aus einer Wunde an der Schläfe blutete, und endlich, daß sie ganz durchnäßt sei, wurde dem armen alten Mann recht weh um's Herz, und fast zitternd sagte er: »Na – na, hast Du denn etwas zu Mittag gegessen?« – »Gestern, lieber Herr!« stammelte das Kind, und große Thränen, die der grimmigste Hunger nicht allein auspreßte, stürzten ihm über die blassen Wangen. – »Gestern? Ach du heiliges Kreuz Sakr… – nein, nein, du heilige Dreifaltigkeit!« verbesserte erschrocken der Alte seinen Ausruf. »Da muß ich ja doch in die Kneipe, so hoch und theuer ich sie auch verschworen habe. Komm, Kind, halte Dich fest an meinem Rock, tragen kann ich Dich nicht. Erst mußt Du satt gemacht werden, dann nehme ich Dich mit mir in meine Schlafstelle; da drinnen giebt's was Warmes für Dich. Wenn ich aber« – er stand unter dem Thorweg, den sie eben durchschritten, still – »wenn ich nicht mit einem halben Maaß Bier zufrieden bin, wenn ich mehr, wenn ich gar, Gott verhüt's! Schnaps verlangen sollte – so leid' es nicht – lass' es nicht zu, sage nur: ›Frieder, du hast's deiner Rieke versprochen, thu's nicht!‹« – »Ach Gott,« sagte das Kind schüchtern, »ich heiße ja Rieke, darf ich mir denn so etwas herausnehmen?« – »Was, Rieke, Fritzchen heißt Du? Das ist Gottes Finger! Ja, Du darfst es Dir herausnehmen, Du sollst es, oder ich setze Dich wieder in das Boot, aus dem der Wilms Dich mir gefischt!«

Sie traten in die Schenkstube; Riekchen ward reichlich gesättigt: Wilms Dukaten mußte herhalten. Der Alte war mäßig und glücklich und verwandte sein eines Auge nicht von dem Kinde. Als das kleine Mahl verzehrt war, führte er Riekchen in seine Herberge. Ein elendes Kellerstübchen nahm sie auf, aber es war warm und ein erträgliches Lager darin, auf welchem der Leiermann sie ohne Umstände bettete; dann deckte er sie mit seinem alten Mantel zu und sagte: »Jetzt schlafe Dich aus, Fritzchen, und morgen wollen wir berathen, was mit Dir anzufangen.« – Todtmüde von Jammer und Noth, schlief die arme Waise nach wenig Minuten fest ein, unfähig darüber nachzudenken, wie Alles werden sollte. Der Alte saß auf einem Schemel am Kamin. Es mochten ihm allerlei Gedanken aufgestiegen sein, denn er wachte die ganze Nacht hindurch. Das kleine Mädchen aber träumte: der Leiermann wache jetzt für sie; zum Lohn dafür werde sie einst sein Glück begründen und über ihn wachen.

*

Die Wanderschaft.

Als der Morgen freundlich heraufkam, saßen der Leiermann und sein Findling traulich beisammen, und waren gute Freunde. Der alte Frieder wußte nun schon, daß Riekchens Vater Stephan Balder heiße, früher der wohlhabendste Schreinermeister in einem kleinen Ort im Badenschen und ein fleißiger Mann gewesen, sich später jedoch dem Trunk und dem Schlendrian ergeben und sich mit den Unruhigen im Lande umgetrieben hatte, bis ihm endlich der Einfall gekommen, auszuwandern. Die Mutter habe nichts dagegen gehabt, denn sie lebte nur für ihre Kinder und meinte: das könne sie an jedem andern Ort auch, und den Stephan – der doch immer wieder in allem Leichtsinn ein gutes Herz zeigte – werde die Trennung von den schlechten Gesellen vielleicht bessern. Riekchen aber habe immer ein seltsames Grauen vor der fernen, fremden Welt und der Seereise empfunden, und habe dreimal geträumt, daß der Vater in sein Unglück gehen werde, wenn er über Meer ziehe. Darum habe sie ihm so angelegen, daheim zu bleiben.

Von dem Frieder erfuhr sie dagegen, daß er ein Bremer Stadtkind sei, daß er ein wilder Bursche gewesen, der im Krieg, auf den Meeren und in fast aller Herren Länder herumgefahren sei. Nachdem er hübsches Geld erworben und sich in Italien eine Frau genommen, habe er ein schönes Anwesen in der Vaterstadt kaufen wollen und sei deshalb mit seinem jungen Weib und seinem Töchterchen nach Bremen zurückgekehrt. Die streng katholische Frau aber habe in dem nüchternen, protestantischen Bremen auf einmal Heimweh und Gewissensbisse bekommen. Alles Zureden, alles Bitten habe nichts gefruchtet; eines Tages war sie verschwunden und ließ ihm das Kind zurück. Das Töchterchen war nun sein einziges Gut, sein einziger Halt, denn er wollte närrisch werden um das junge Weib, das er so sehr geliebt. Nach und nach kam ihm der Gedanke, der Verlust seines Auges, das ihm ein Kabyle in Afrika ausgeschossen, oder des Beins, das er bei Navarin verlor, habe ihn dem Weibe zuwider gemacht, und sie sei vor dem häßlich gewordenen Mann, nicht vor den » Ketzern« davon gelaufen. Das nagte an seinem Leben, er verthat nach und nach sein Erspartes, trank mehr Schnaps, als er vertragen mochte, und ging so allmälig zu Grunde.

Das Kind schauderte, da der Leiermann so zu ihr sprach; das Alles kannte sie zu gut. Sie dachte an den Vater und an die treue Mutter, die nun ganz allein mit ihrem Elend war. »Aber Euer Töchterchen?« fragte sie endlich schüchtern, »wo habt Ihr sie?« – »Die hatte ich nie verdient,« sagte der Alte, und aus seinem gesunden Auge stürzten die Thränen gewaltsam über die eingefallenen Wangen. »Sie mochte in Deinem Alter sein, so an die zwölf Jahre, da nahm sie mir der Herr, und als ich heulte und mir die Haare raufte, weil ich meinte, sie sei schon dahin, öffnete sie ganz plötzlich die gebrochenen Augen, sah mich hell an wie von drüben herüber und sagte: ›Weine nicht, Vater, danke dem lieben Gott, der mich in sein ewiges Freudenreich aufnimmt. Wo wäre ich besser als bei ihm? Aber daß du dereinst auch zu mir kommen kannst, du lieber Vater, damit wir uns nicht verloren gehen, versprich mir, daß du kein gebranntes Wasser wieder trinken, daß du meiner gedenken willst!‹ – Ich hab's ihr versprochen,« schluchzte der Leiermann, »hab's in ihre kleine kalte Hand versprochen und lange, lange gehalten – nach Möglichkeit. Wenn mich Reue und Sehnsucht nach dem Kinde fast umbringen wollten, dann geschah es wohl manchmal, daß ich das Leid im Spiritus zu ertränken versuchte, aber es stand immer frisch und lebendig wieder auf, und zuletzt hatte ich von meinem Ersparten nicht viel mehr, als mir den Leierkasten zu kaufen, der mich jetzt nährt, spärlich, aber ehrlich. Ich wohne in Bremen, komme jedoch an Feiertagen, oder wenn eben viele Schiffe gehen, öfters heraus. Freut sich doch mancher arme Teufel, den Thorheit oder Unglück über's Meer jagt, noch an dem alten Leierkastengruß auf der heimischen Erde. Es war Gottes Wille, daß ich Dich gestern sehen mußte! Als Du den Vater abhalten wolltest, wußte ich gleich nicht, wie mir geschah, so gemahnte mich Dein frisches Gesichtchen, die glatten schwarzen Zöpfe, so reinlich um die Stirne gelegt, das gute dunkelblaue Auge an meine selige Fritze. Daß ich Dein Winseln, Dein Wehklagen, vom Strande herauf hören, daß gerade ich Dich entdecken mußte, ist sichtbarlich Gottes Finger: denn nun habe ich mein Kind, meinen kleinen Warner wieder. Du sollst bei mir bleiben, bis sich Deine Eltern um Dich bekümmern, sollst mit mir nach Bremen gehen. Toll genug, daß ein Bettler sich ein Pflegekind anschafft, aber mein kleines Stübchen hat Raum für Zwei, und ist immer ein besseres Quartier als die Landstraße. Wenn ich mäßig bin, nährt der Leierkasten uns Beide und – wenn ich manchmal hungrig oder durstig werden sollte vor dem Erwerb, so will ich Dich ansehen, mein Fritzchen, das ist Sättigung genug für die alte Unke. Willst Du bei dem lahmen Bettler bleiben?« Riekchen hatte ihm verständig, ernst und schweigsam zugehört. Mit jedem Wort, das er sprach, schwand die Scheu, die seine Häßlichkeit ihr eingeflößt, und tiefes Mitleid, endlich wärmste Dankbarkeit bemächtigte sich ihrer jungen Seele. Sie legte ihre kleinen Hände in die seinen und sagte fest: »Ja, ich will Euch wie meinen Vater lieb haben und pflegen, für Euch arbeiten, Euch nützen, wo ich weiß und kann, wenn Ihr mir nur immer erlaubt, Euch zu erinnern – Ihr wißt schon, wie Ihr gestern gefordert. Dann wollen wir in Gottesfurcht und ohne Scheu vor den Menschen ehrlich unser Brod suchen, bis meine Eltern mich zurückfordern. Nicht wahr, wir schreiben meiner lieben Mutter, damit sie sich nicht zu sehr um mich grämt?« Wieder brachen ihr die Thränen hervor; der Alte versprach Alles und fühlte sich zum ersten Mal seit seines Kindes Tode glücklich und zufrieden.

Der andere Tag war ein Sonntag. Frieder wanderte mit seinem Pflegling der Stadt zu, um in seinen Stammgärten zu leiern. Die Kleine, bleich, eine Binde um die Wunde an ihrer Schläfe, einen kleinen Tornister des Alten tragend, trabte rüstig, ohne Klage oder Frage, neben dem Stelzfuß her, der es ihr nicht gestattete, seinen Leierkasten zu schleppen. Beide zogen schweigend ihres Weges. Das Kind dachte an die fernen Lieben und daß es in der Heimath keine Freunde und Verwandte habe, die sich seiner Verlassenheit erbarmen möchten. Die Liebe zur Mutter, an der ihre ganze Seele hing, die Sehnsucht nach ihr lagen heiß und schwer auf dem jungen Herzen. Der Alte aber, von dem Wirbel des gestrigen Mitleids etwas ernüchtert, dachte mit Gewissensbissen an die Aufgabe, zwei Menschen mit den abgeleierten Liedern des alten Kastens zu ernähren, während er, der Einzelne, gar oft meinte den Hungertod in Aussicht zu haben; und doch fühlte der arme alte Mann, daß er das Kind nicht mehr lassen könnte. Es war ihm in den wenigen Stunden schon Bedürfniß geworden durch sein mildes, stilles und emsiges Ordnen und Walten.

Da drängte sich plötzlich ein schlanker Geselle zwischen die seltsame Gruppe des Leiermanns und seines Pfleglings, fuhr mit dem Arm durch den Riemen des Tornisters, schleuderte ihn sich mit einem Ruck auf den Nacken und lachte, da ihn Riekchen entsetzt ansah. »Sieh einmal den Faulpelz! hat sich die schwache Göre wohl zum Sackträger gedungen? Womit bezahlst denn die Miethe für den Jockey, Du schäbiger Uhu?« Bei diesen Worten schlug Wilms dem Alten auf die Schulter, daß der Staub vom Rocke flog. Doch schnell verstummte er, als der Stelzfuß, das Auge voll Thränen, auf das Kind sah und brummte: »Leider Gottes bin ich ein schäbiger Hund, der nichts mehr zu vergeben hat als das Einzige, was leidlich an ihm geblieben ist: sein altes Herz. Damit habe ich meinen kleinen Lastträger gedungen, damit zahle ich, und das Riekchen nimmt die Münze für voll und will mein Kind sein.« Das war dem Wilms denn doch zu ernsthaft. Er ging ganz ehrbar neben dem neuen Vater her, ließ sich alles haarklein erzählen, ward immer nachdenklicher, warf zuweilen einen scheuen, forschenden Blick auf die stille Kleine, und als der Frieder die Jammergeschichte beendet hatte, blieb er stehen, schüttelte den Kopf, stampfte mit den Füßen und schrie endlich: »Donnerwetter! daß ich mit meiner dicken Muhme, der Frau Bäckermeisterin am Markt, so schlecht stehe, hat mich bis jetzt nie gereut. Sie mißgönnt mir das Bischen Karten und Kneipenvergnügen. Wenn ich den Fuß einmal an's Land setze, behandelt sie mich wie einen Schulbuben! Heut thut mir's leid, daß es so steht, aber – kann eben keinem Menschen gehorchen außer meinem Kapitain, am wenigsten einem alten reichen Weibe. Kann nicht dafür, bin einmal so!« – »Leider « murmelte der Frieder; »ist Schade genug um solch einen tüchtigen Jungen!« – »Was Schade!« fuhr der Wilms auf, »was meinst Du, Unke?« – »Daß Du's so gut haben könntest, wie ich es nicht hatte, und daß Du auf dem graden Weg zum Leierkasten bist, den Du einmal so gewiß schleppen wirst, als ich's jetzt thun muß!«

Das Kind sah erschrocken zu dem Jüngling auf, der glühend roth, fast zitternd, den Alten anstarrte. Ohne zu wissen, was sie that, faßte Riekchen seinen Arm mit ihren heißen Händchen und rief: »O geht nicht den Weg! Ihr seht so gut und wacker aus – geht nicht zum Leierkasten, ich bitte Euch!« – Ein eigenthümliches Lächeln, schwankend zwischen Wohlgefallen und Spott, spielte um das schöne, wilde Gesicht des jungen Mannes, aber es lag dennoch etwas so Gutes um seinen frischen Mund, daß man dem Burschen nicht gram sein konnte. Endlich machte er seinen Arm los und sagte: »Du aber willst mit dem Leierkasten gehn?« – »Ach nein, niemals!« rief Riekchen rasch. Der Wilms blieb stehen und sah sie groß an. »Aber, wie willst Du denn leben? wenn Du den Leiermann nicht unterstützen kannst, müßt Ihr in Kurzem Beide verhungern!«

Händeringend starrte das Kind den Unglückspropheten an, sie begriff plötzlich, daß sie dem Alten nur eine Last sei, und die flehenden Augen auf diesen gerichtet, schrie sie: »Vater Frieder, Ihr könnt mich nicht brauchen, ich bin zu Nichts nütze!« – Ehe der Alte sie trösten konnte, sagte Wilms lachend: »Nur nicht gleich geheult und verzagt! Du hast eine so hübsche kleine Stimme, wenn Du sprichst, Du kannst gewiß ein paar Liederchen singen, nicht?« – »Ei wohl!« sagte Riekchen, tiefaufathmend; »ich kann alle Lieder meiner Heimath, die Mutter hat sie uns oft genug vorgesungen, wenn wir – vor Hunger nicht einschlafen konnten.« – Wilms warf einen Blick voll tiefen Mitleids auf das Kind und erwiederte gutmüthig: »Na, so setz' Dich hier auf den Wegstein, ruh' aus, sing' uns was, probier's, wer weiß, steckt am Ende doch was in Dir.« –

Riekchen blieb stehen, faltete die Hände, holte tief Athem und sang dann ohne Scheu eines jener kunstlosen rührenden allemanischen Volkslieder, in deren Einfachheit ein so tiefer Sinn, eine so schmerzliche Wehmuth liegt. Als sie die klare, frische Kinderstimme, die großen frommen Augen erhob, und das alte Lied: »Morgen muß ich fort von Dir und muß Abschied nehmen,« so voll und klar über ihre reinen Lippen tönte, schlug Wilms, athemlos lauschend, die Arme in einander und die Blicke zu Boden. Der Leiermann aber horchte hoch auf, denn dergleichen hatte er nie gehört. Nach dem ersten Vers schwieg die Kleine und sah ängstlich fragend zu den Männern auf. »Na, noch mehr, noch mehr! weißt Du sonst nichts?« fragte der Wilms leise und langsam; allmälig traten dem Burschen die hellen Thränen in die schwarzen Augen, als das Kind sang:

»So viel Stern' am Himmel leuchten,
So viel Blumen als da blüh'n,
So viel Tröpflein Thau befeuchten
Morgendlich des Waldes Grün –
So viel Grüß' in alle Weit'
Send' ich meiner Herzensfreud'.

So viel Vöglein als da singen,
So viel Wellen als da geh'n,
So viel Hirschlein als da springen,
So viel Frühlingslüfte weh'n –
Keines macht mein Herz gesund
Seit der bangen Abschiedsstund'!

So viel Stern' ich sah erblassen,
So viel Sonnenlicht' ersteh'n,
So viel denk' ich: Wer verlassen,
Muß in Herzeleid vergeh'n.
Trägt viel Schifflein auch das Meer,
Treue Lieb' trägt noch so schwer.«

Nur schlug das Kind plötzlich die Hände vor das Gesicht und rief schluchzend: »Ach, Mutter, Mutter!« – Der Wilms wußte nicht wie ihm geschah, es ging Etwas in ihm vor, das ihm ganz neu war, denn ihm wurde zu Muth, als müßte er sich über sich selber schämen, und wäre gar nicht werth, solch ein Lied von dem frommen Kinde zu vernehmen. Der Alte faßte die Kleine in die Arme und weinte bitterlich mit ihr. Endlich ermannte sich der Wilms, drehte sich auf dem Absatz um, schrie: »Alter Frieder, Dir ist geholfen, Du hast einen Schatz gehoben!« – damit lief er die Landstraße entlang, als hätte er gestohlen – und sah sich nicht mit einem Blick mehr nach dem einsamen Wanderer um. –

*

Die Frau Bäckermeisterin.

Der Wilms hatte wahr gesagt. – Die kleine Fritze – wie sie der Alte nannte – wohl erkennend, daß sie dem armen Krüppel, der sich ihrer erbarmt, sie gerettet hatte aus Todesnoth, eine Stütze und keine Last werden müsse, ward seine unzertrennliche Begleiterin, sang muthig mit ihm auf den Straßen und in den Gärten, und wenn ihr auch anfangs vor Scham und Jammer das arme gequälte Herzchen zerspringen wollte, sie schluckte tapfer die Thränen hinunter: denn überall flog ihr Geld und Lob zu, und der Frieder konnte sich schon eine Walze in den Leierkasten schaffen, die er eigens zur Begleitung ihrer Lieder anfertigen ließ. So verging der Sommer und Herbst; von ihren Eltern hörte das arme Kind nichts – dagegen täglich die Segenswünsche des glücklichen Frieder, dessen kleines Stübchen, nun wohlgeordnet und reinlich, die junge Wirthschafterin lobte, und dessen anständige Kleidung für die Pflege zeugte, die der Alte jetzt seinem äußern wie innern Menschen angedeihen ließ.

Aber – die kalten, ernsten Tage kamen heran. Die Schiffahrt war geschlossen, die Gärten verödeten, die Doppelfenster verwehrten der schwachen Kinderstimme den Eingang in die verschlossenen Zimmer, endlich auch hatte die kleine Schwäbin mit ihren Liedern den Reiz der Neuheit verloren – und so wurde die Einnahme von Tag zu Tag kleiner, die Noth größer, der Frieder und sein Liebling ernster und zuletzt finster, wie die traurige Novemberluft.

Eines Tages hatten sie den ganzen Vormittag verleiert, zogen von Haus zu Haus, von Hof zu Hof, kein Fenster wollte sich öffnen, kein Vorübergehender stillstehen; die Mittagsstunde schlug. Der Alte schüttelte trostlos den Kopf, huckte den Leierkasten auf und brummte mit gebrochener Stimme: »Laß uns heimgehen, Fritzchen, für heut hat uns der liebe Gott einmal ganz vergessen, wir haben keinen Stüber verdient.«

»Aber, Vater,« – stammelte das Kind – »Du hast ja kein Mittagbrod.« Der Frieder klopfte auf die Tasche, zwang sich ein Lächeln ab und sagte: »Da habe ich noch eine Semmel, die mir gestern der Taubenwirth verehrte, und ein Schnittchen prächtigen Käse, das sättigt Dich, mein Liebchen.« – »Mich – mich« rief das Kind – »ich hab' keinen Hunger; aber Dich sättigt es nicht, Vater, und ich müßte sterben, wenn ich Dich hungrig wüßte, der sein Brod so oft mit mir getheilt!« – und plötzlich von einem Einfall ergriffen, sagte sie fast gebieterisch: »Komm mit, Vater, nur noch einen Gang, ich schaffe Dir was!« Damit schritt die Kleine rüstig voraus durch den immer dichter fallenden Schnee, zog ihr kleines Halstuch fester über die erstarrten Finger zusammen, und stand nicht eher still als am Marktplatz, an einem großen, schönen Hause, vor einem reichgefüllten Bäckerladen, wo sie mit Ungeduld den lahmen Alten erwartete, der ihr mühsam nachhumpelte. Da unten im Hause gab es ein großes, schönes Fenster im Erdgeschoß, dahinter saß oftmals ein altes, liebes Frauengesicht, das stets ein mitleidiges Lächeln und immer einen Stüber für das kleine Mädchen gehabt hatte.

In dem hellen reinlichen Laden, wo sonst reges Leben waltete, und heute, wie immer, ganze Haufen duftenden Brodes bereit lagen, war es jetzt still und fast öde. Die Leute gingen hinter den großen Fenstern auf den Zehen umher, sprachen und lachten nicht wie sonst wohl, und in dem wohnlichen Zimmerchen neben dem Laden saß auf einem weichen Polsterstuhl am Fenster eine alte gutbeleibte, aber blasse Frau, in tiefer Trauer, den Arm auf das Fensterbrett gelehnt, und schaute unbeweglich in das Schneegestöber hinaus. Daß sie aber nicht sah, worauf ihr Auge ruhte, daß sie schwer belastet war, Jeder konnte es merken, der sich auf ein Menschenantlitz verstand. Das Kind starrte unbeweglich in das alte gutmüthige Gesicht und fühlte in erwecktem Mitleid: daß der Frau in ihrem reichen Hause wohl anderweitig eben so viel fehle, als dem armen Frieder in seinem kalten Stübchen. Noch eh' er seinen Leierkasten zurecht setzen konnte, erhob sie ihre helle Kinderstimme und sang, fast unwillkürlich, ein gar altes, gutes Lied, das ihr eben einfiel. Das hieß so:

»Ich kenn' wohl einen Acker,
Den Gott der Herr besät,
Kein Körnlein fällt zur Furche,
Das nicht dereinst ersteht. –

Ich kenn' wohl eine Grube,
Fällt manch ein Thränlein d'rauf,
D'raus geht die Saat als Blume
Im Schooß des Herrn einst auf.«

Noch ehe der Alte sich von seiner Verwunderung erholt hatte, klopfte die alte Frau an die Scheibe und winkte das vor Frost zitternde Kind heran. Riekchen, deren flehende Augen längst dem thränenvollen Blick der Matrone begegnet war, lief schnell herzu. Das Fenster öffnete sich, eine weiße, runde Hand kam heraus und drückte einen harten Gulden in die kalten Finger des Kindes; dieses aber ergriff die weiche Hand, küßte sie inbrünstig und flehte leise: »Brod, Brod! mein alter Vater hat Hunger!« – »Brod?« fragte die Frau, und heftete einen festen, fast prüfenden Blick auf die Kleine. »Ach ja, Brod« – schluchzte diese – »wir haben es nöthig.« – »So arm seid Ihr!« – meinte die Matrone, und indem sie vor sich hermurmelte: sonst verlangen die Bettler Braten von der reichen Bäckermeisterin »da muß das Elend wohl groß sein!« – stand sie auf, rief hinaus: »Komm herein, Kind, und bring' den Stelzfuß auch mit, Ihr sollt gesättigt werden.« – Jetzt schloß die rüstige alte Frau das Fenster, schritt durch die Stube und trat in den Laden, wo es heute so still und ernst herging.

Damit verhielt es sich aber so: Die reiche Frau Steewens war seit vielen Jahren Wittwe und führte ihr Geschäft pünktlich wie ein Mann. Sie war Mutter von acht hoffnungsvollen Kindern gewesen, sie starben theils früh, theils kinderlos; ein einziger Sohn war ihr geblieben, der jüngste, ihre ganze Freude, ihr Stolz; den hatten sie in der Frühstunde dieses nämlichen Tages auch zu Grabe getragen. – Die alte Frau stand nun allein, ohne Kinder, ohne Enkel im Leben, darum saß sie so in sich gekehrt und schaute in das Schneegestöber hinaus, ohne es zu sehen, und darum waren die Leute im Laden so schweigsam, denn sie liebten die rechtschaffene Meisterin und achteten ihren Schmerz. – Riekchens Lied hatte die Matrone wunderbar ergriffen und beruhigt, ihr Herz war weich und wund, sie fühlte heute die Noth und das Weh Anderer doppelt. So geschah's, daß sie das Kind und den Alten selbst durch den Laden über den weiten Hofraum nach der freundlichen Küche im Hintergebäude führte, sie dort reichlich sättigen ließ, dann der Kleinen ein warmes Mäntelchen umhing, damit sie nicht erfriere »bei ihrem grausamen Metier,« und sie reich beschenkt von dannen schickte. Das war aber noch nicht genug. Am andern Morgen kam gar ein Geselle an, der brachte eine ganze Schiffsladung von Brod und ein paar tüchtige Rinderschinken – Speisevorrath auf Monate für den Bettler und sein Pflegekind – und hinter ihm drein rollte ein Karren mit Kohlen, der den ganzen Winterbedarf der kleinen Haushaltung deckte. Das Riekchen staunte mit leuchtenden Augen und gefalteten Händen all die Herrlichkeiten an, der Alte aber umhalste sein »Brodmütterchen,« wie er sie oft nannte, und jubelte: »Nun brauch' ich meine Puppe nicht mehr in jedem Wetter auf die Straße zu schleppen, der Herr segne die brave Bäckersfrau und mein Kleinod!« Er fühlte tief, daß er mit dem Kinde die Gnade Gottes unter sein Dach geführt; kam doch alles Gute von ihm, seine Besserung an Leib und Seele, sein reinliches Stübchen, sogar das helle Feuer, das sie schon emsig in dem kalten Kamin angezündet hatte – und es ward heller als seit lange im Gemüth des lahmen Leiermanns.

*

Eine Mitternachtstunde.

Es war ein schwerer Winter wie seit Jahren nicht, die Theurung groß, der Sorgen viele lasteten auf den Menschen. Die gute Bäckersfrau hatte damals den heißen Dank des kleinen Mädchens freundlich aufgenommen; aber das schwere Geschäft lag nun auf ihr ganz allein, sie sah das Riekchen nicht – denn es sang nicht mehr vor ihrem Hause, um nicht aufdringlich und ungenügsam zu erscheinen – so ging Alles den gewohnten Gang. Frau Steewens dachte genug gethan zu haben und vergaß den Leiermann und sein Pflegekind, wie das eben so bei reichen Leuten zu gehen pflegt, die gar Vielen helfen sollen. – Riekchen grämte sich indeß daheim, wenn sie der Zukunft dachte: denn sie ging schon in's zwölfte Jahr. Unglück reift den Geist früh, und so begriff das Kind gar wohl: daß dies kein Leben, wie es einem jungen Mädchen gedeihlich sei. Die Eltern waren verschollen, sie schien eine Waise – und darum dem Alten doppelt verpflichtet; dieser aber, der von Tag zu Tag hinfälliger wurde, ließ sie zu dem Besuch der Schule nicht kommen, denn er konnte sie nicht mehr entbehren. So geschah es, daß das arme Kind allmälig früher Erlerntes vergaß, und daß es, so tief es sein Schicksal empfand, doch nichts daran ändern konnte. Dazu trat jetzt große Sorge um den alten Mann ein, der seit einigen Wochen nicht mehr vor die Thür konnte; denn sein gesundes Bein versagte ihm plötzlich den Dienst, und der Gedanke: wenn ich auch ihn verlöre, was würde aus mir? stieg mit allen Schrecken des gänzlichsten Verlassenseins in der jungen Seele auf. – So saß sie eines Abends noch zu später Stunde an seinem harten Lager und beobachtete bei dem matten Schein der kleinen Lampe erschrocken sein Gesicht, das ihr heute seltsam verändert schien, denn es glühte in dunkler Röthe; sein Auge, nur halb geschlossen, stierte hervortretend in's Leere, sein Athem ging kurz und schwer. Entsetzliche Angst überfiel die Einsame, als sie ihn angerufen hatte und nun erst entdeckte, er höre sie gar nicht, er sei wie abwesend, denn er rief plötzlich mit einer Stimme, die aus dem Grabe zu kommen schien: »Dort in der Ecke liegt mein abgeschossenes Bein, bringt es mir, schnell, es muß wieder anwachsen, denn das andre ist zu Nichts mehr nütze.« Von Todesschreck ergriffen lief Riekchen hinüber zu der Nachbarin, die ihr oft mit Rath und That beigestanden, obgleich sie selber blutarm und alt war – jagte sie aus dem Bette, und als Frau Loensen den Frieder gesehen und seinen Zustand untersucht hatte, versicherte sie: das sei die Krankheit, an welcher ihr seliger Mann gestorben, und wenn ihm nicht schnell durch Auflegung von Sauerteigen geholfen würde, so müsse er noch in dieser Nacht d'ran glauben. – »Sauerteig? guter Gott, wo bekomme ich den?« jammerte das Kind, ihr Mäntelchen holend und schon bereit, danach zu laufen. »Ja, lieber Himmel« – seufzte die Loensen – »wo? bei'm Bäcker. Aber wer macht Leuten wie Unsereinem des Nachts den Laden auf! Für den Armen sind alle Wege verschlossen.«

Wie ein Blitz fuhr's dem Riekchen durch den Kopf. »Ich weiß, wo mir geholfen wird. Klopfet an, so wird Euch aufgethan, spricht der Herr; ich weiß ein Herz, wo ich anklopfen darf! Bleibt bei dem Vater« – rief das entschlossene Kind – »ich bringe Sauerteig.« Damit rannte sie, ohne den Warnungsruf der Loensen zu hören, in die Nacht hinaus, durch die lange Vorstadt, durch die stillen öden Straßen dem Marktplatze zu. Die gute Bäckermeisterin wird mir helfen, es gilt ja das Leben eines Menschen, da darf man schon bei Nacht eine christliche Seele wecken, und die Frau ist unsre Wohlthäterin, sie wird es mir vergeben. Unter diesen Gedanken, die ihren Muth – der, je näher dem Ziele, je schwächer wurde – beleben sollten, stand sie plötzlich bebend still: denn die eherne Zunge des Domthurmes verkündete eben, weit hinschallend, der schlafenden Stadt die Mitternachtstunde. Riekchen schauderte zusammen und zögerte einen Augenblick, unschlüssig ob sie vorwärts oder rückwärts gehen sollte. Vor ihr lag die Straße, an deren Ende sich der Marktplatz öffnete; so nahe schon, und sie sollte feig entfliehen, aus kindischer, ihr selbst unerklärlicher Furcht? Dort, an der fernen Ecke brannte ja die Straßenlaterne noch hell, was konnte ihr geschehen! Er hat mich aus dem Boot, aus der Todesnoth an sein Herz genommen, dafür sollte ich ihn in der Todesnoth verlassen? – so denkend, betete sie ein Vaterunser und schritt eilig dem fernen Lichte nach, dem Marktplatze zu. Noch aber hatte sie das Ende der Straße nicht erreicht, da schwankte die Laterne vom Wind gerüttelt, das Licht flammte auf – und erlosch. – Es war eine stockdunkle Nacht, kein Stern: am Himmel sichtbar, nichts Lebendes weit und breit, kein Nachtwächter zu sehen, kein Geräusch zu hören, als das Sausen des Windes, der sich erhoben hatte und in einzelnen Stößen heulend die Straße fegte. Riekchens Herz pochte gewaltig, sie stand wieder still, muth- und rathlos; da gewahrte sie, daß hier der Eingang des kleinen Gäßchens sei, das aus der Hauptstraße zu dem Hintergebäude der Bäckerei führte, und rasch ermuthigt fiel ihr ein, daß sie auf diesem Wege mit dem Vater fortging an jenem Tage, als sie im Vorderhause eingetreten, und daß im Hof die Küche lag, in welcher sie gespeist worden, also da wohl auch die Bäckerei sein müsse, sie demnach dort die Hülfe am sichersten finde.

Neugestärkt und sich ihrer Furcht schämend, bog Riekchen jetzt eilend in das Gäßchen ein, welches so schmal und schnurgerade war, daß sie auch im Finstern rüstig vorwärts schreiten konnte. Die lange Hofmauer hatte sie sich wohl gemerkt, sie war bald erreicht, auch das Thor, und indem sie nach der Glocke oder einem Klopfer suchte, bemerkte sie zu ihrer Freude, der eine Thorflügel sei nur, angelehnt. Froh schlüpfte sie nun in den Hofraum und blickte suchend um sich, da sie nicht wußte, wohin sich zuerst wenden: ob nach der Küche oder dem Vorderhause – als ihr zu ihrem freudigen Schrecken im Untergeschoß des Vorderhauses, aus dem Laden, dessen Rückseite mit einem großen Fenster an den Hof stieß, ein Licht entgegenschimmerte. Leichten Herzens schritt sie gerade darauf zu, entschlossen zu klopfen. Plötzlich aber stand sie wie angewurzelt still, denn das Licht im Laden verschwand und gleich darauf leuchtete es in der Stube der Frau Steewens, in welcher der eine Fensterladen geschlossen, der andere aber, so wie das Fenster selbst, weit offen war. Ein seltsamer Ton, wie dumpfes unterdrücktes Wimmern, traf das Ohr des entsetzten Kindes; mit weit offenen Augen, unbeweglich, sah sie in dem Schein einer Blendlaterne, von welcher das Licht ausging, zwei Gestalten sich hin und her bewegen, in einer offenen Kommode wühlen, und wie ein Schlag durchzuckte sie der Gedanke: »das sind Diebe, Räuber, das ist die gute Frau, die sie überfallen, vielleicht gemordet haben!« – und ohne zu wissen was sie that, von Todesschreck gejagt, scheu um sich blickend, stürzte sie auf einen Glockenpfahl zu, der inmitten des Hofes stand, und, durch Gottes Fügung von dem Lichtschein aus der Stube beleuchtet, ihr in's Auge fiel. Sie riß an dem Strange, der herabhing, mit verzweifelnder Hast, und ein starker Ton durchbebte weithin schallend die Stille der Nacht; es war die Eßglocke, welche täglich die Gesellen und das Gesinde zum Mittags- und Abendbrod rief. Wie rasend zog das Kind an dem Strange, immer ängstlicher wimmerte das Glöcklein, jetzt plötzlich erlosch das Licht im Vorderhause und dichte Nacht bedeckte den Hofraum. Nun erst begriff Riekchen die eigene Gefahr, sie floh unwillkürlich nach der Küchenseite zu und warf sich dicht an die Wand gedrängt zur Erde. Ein dumpfer Schlag erdröhnte vom Vorderhause her, als falle eine schwere Last zur Erde, jetzt wieder, jetzt zum dritten Mal; im Hintergebäude ward's lebendig – durch den Hof aber floh es mit schweren Tritten, Einer tappte an der Wand dicht an dem kleinen Mädchen vorüber. »Der Teufel halte der Canaille das Licht, die uns das gethan!« hörte das athemlose Kind eine heisere Stimme rufen, während der eigene Herzensschlag sie fast erstickte; dann rannte es durch das Hofthor, der Flügel flog schmetternd in's Schloß, und aus dem Seitengebäude trat jetzt ein Geselle, dessen Laterne den ganzen Raum erleuchtete, der sich leer erwies. Riekchen schrie aufspringend: »Räuber, Diebe! Um Gotteswillen der Frau Steewens zu Hülfe!« und flog vor dem erschrockenen Burschen her dem Bäckerladen zu, der aber verschlossen war wie allnächtlich. Der Mensch stand wie gelähmt vor Schreck, er hatte keinen Schlüssel. »Weckt schnell die Andern, und helft mir zuvor in's Fenster!« – schrie das bebende Kind – »wenn Ihr mich hinaufhebt, kann ich's erreichen, ich muß zu ihr!« Der verdutzte Bursche hob sie auf seine Schulter, im Nu hatte sie das Fensterkreuz erreicht umklammert, und saß im nächsten Augenblick auf dem Gesimse, aus allen Kräften in die Stube rufend: »Frau Steewens, lebt Ihr?« – ein dumpfes Winseln war die Antwort. »Sie lebt, reicht mir die Laterne herauf!« rief das entschlossene Mädchen, und war dann, ohne sich zu besinnen, mit einem Satz im Zimmer. Da sah es gräßlich aus! – Zu Füßen ihres Bettes lag die gute Alte mit den Händen an die Bettstelle gebunden, einen Knebel im Munde, dem Tode nah. Blitzschnell entfernte das Kind den Knebel, löste die Stricke, goß ein Glas Wasser, das auf dem Nachttische stand, über sie aus – und eh' der entsetzte Bursche die Andern zur Hülfe herbeigeschafft, war die Bäckermeisterin wieder bei voller Besinnung und hielt krampfhaft schluchzend, unter inbrünstigem Gebet, das kleine Mädchen umklammert, das ihr die reichen Zinsen gebracht, die der Herr dem Wohlthun verheißt. Riekchen hatte nicht allein das Vermögen der braven Frau – das die Diebe im Schrank zurücklassen mußten – sie hatte ihr das Leben gerettet, denn das fühlte die Bäckerin, wenige Minuten später und sie war nicht mehr.

*

Sonnenschein.

Wie wunderbar verwandelt oft eine einzige Stunde ein ganzes Menschenleben! Die Krankheit des alten Leiermanns hatte die Nacht der armen Waise plötzlich mit Sonnenschein erfüllt, dessen Strahl auch den lebensmüden Kreuzträger erwärmte. – Noch in jener Rettungstunde hatte Frau Steewens dem Frieder einen Arzt geschickt, der ihn für diesmal noch dem Tode entriß; nach seiner Genesung aber, nachdem sie das traurige Schicksal ihrer jungen Retterin erfahren, deren innern Werth mit ruhiger Besonnenheit erforscht und ihre eigene Verpflichtung gegen das muthige Kind erwogen – trat die Kleine als Pflegling in ihr schönes Haus, und dem Frieder öffnete sich ein freundliches Stübchen im Hintergebäude, nebst reichlichem Gnadenbrod, das die alte Frau ihm bis an sein Ende mit Mund und Handschlag zugesichert, wogegen er geloben mußte, den Leierkasten nie wieder anzurühren, als um des Sonntags den Bäckergesellen zum Tanz aufzuspielen, denn – »das faule Handwerk,« wie es die Bäckerin nannte, war ihr von je ein Gräuel, und selbst jetzt konnte sie sich nicht damit versöhnen, wo sie demselben ihre Rettung verdankte.

Wer aber beschreibt das rosige, glückselige Antlitz des jungen Mädchens, wenn es fein ehrbar aus der Schule oder aus der Predigerstunde heimkam und das gute Lächeln der dicken, alten Frau schon am Fenster im Vorderhause sie willkommen hieß, während der lahme Frieder ihr aus dem Hintergebäude so flink über den Hofraum entgegen humpelte, als hätte er drei gesunde Beine statt des einen, das mangelhaft genug war. Wie strahlten ihre Augen, wenn der Alte am Ende des Monats fragte: »Welches Zeugniß bringst Du mit?« und sie jedesmal antworten konnte: »Das beste, Vater Frieder! Ach, wie ist's doch prächtig in der Schule oder gar beim Prediger!« Dann sagte wohl die Bäckerin schmunzelnd: »Daheim ist's aber auch nicht übel, he?« strich ihr das glänzende Haar wohlgefällig auf der Stirne glatt und betrachtete sie, tief innerlich vergnügt, daß das kleine Ding allmälig länger, voller und breiter wurde, daß ihre rothen Bäckchen von Gesundheit strotzten und ihre muntern Augen – kaum hatte sie das Schulwerk abgelegt – suchend in allen Winkeln nach Arbeit spähten, denn müßig konnte sich das Riekchen keine Stunde seines Lebens freuen. So war es, so blieb es, und ehe das dritte Jahr verstrichen saß die Waise der alten Frau so tief im Herzen, als wäre sie ihr eigen Fleisch und Blut, obgleich sie es niemals merken ließ, in Erwägung: daß sie keine Hoffnungen, Gedanken und Wünsche wecken dürfe, die über den einfachen Lebenskreis hinausführen könnten, für den das mittellose Mädchen bestimmt war, wenn ihre Eltern sich jemals wieder zu ihr finden sollten.

Am Einsegnungstage schloß die Bäckerin das tief erschütterte Kind nach der heiligen Handlung segnend und weinend in die Arme; das war nur einmal geschehen, in der Nacht nach ihrer Rettung. Denn sie vermied alle Weichlichkeit und Empfindelei; sie meinte: das passe für verständige, gesunde Bürgersleute nicht und laufe wider die Natur. Heute aber ließ sie ihrem Herzen den Willen und küßte sie herzhaft und sprach: »Riekchen, Du bist ein braves und dankbares Kind! Was Dir nöthig ist für Haus und Leben, hast Du rechtschaffen gelernt, nun muß es aber auch genug sein mit der Gelehrsamkeit. Ich werde alt und müde, meine Haushälterin, die Veitin auch; bis jetzt fand ich keine, der ich mein Wesen sorglos anvertrauen konnte, Du bist jetzt alt genug dazu. Getraust Du Dir – mit meinem Beirath, versteht sich – die große Wirthschaft zu führen? in Hausstand und Laden zum Rechten zu sehen, daß Jedem das Seine wird, so sollst Du von heute an meine Beschließerin sein.«

Das Riekchen, am Ziele ihres höchsten Ehrgeizes, schlug zitternd vor Freude ein. »Ja, Frau Meisterin, das getraue ich mir; hab' nicht umsonst durch Jahre Eure Schritte und Tritte vor Augen gehabt, hab' Etwas gelernt!« – »So recht!« sagte die Alte wohlgefällig, »hab's schon gewußt!« – »Gottlob« jubelte Riekchen »nun kann ich doch für all' Eure unzähligen Wohlthaten Euch 'was leisten!« – »Nicht also« – sprach Frau Steewens feierlich – »so ist's nicht gemeint. Ich that an Dir nur, was recht und meine Schuldigkeit ist, und das wolltest Du jetzt abverdienen in meinem Haus? Davon sprich mir Dein Lebtag nicht wieder. Du bekommst keinen Schlüssel in die Hand, wenn Du nicht den Lohn nimmst, der Dir gebührt.« Das Mädchen wurde blaß und sah sie verstört an. »Ich sollte Geld von Euch nehmen, Frau Meisterin?« stammelte sie, und die Thränen traten ihr in die Augen. »Erschrick nicht!« begütigte die Alte lächelnd, »Du sollst es nicht anrühren.« Damit nahm sie fein säuberlich eine große Sparkasse von feinem Porzellan aus dem Schranke, schüttelte diese, und es klang hell drinnen wie Glocken, oder – wie Goldstücke, die aneinander schlugen. »Dahinein leg' ich jedes Quartal den Lohn der Beschließerin, wie ihn die alte Veitin bezog, der ich jetzt ihr Gnadenbrod gern geben kann, da ich Dich habe« – so fuhr die Alte fort. »Das lassen wir dann anwachsen, Jahr für Jahr, bis Du einen braven Mann findest, dann schlagen wir das Ding da in Stücke und es rollt wohl manches Goldstück heraus, das Du alsdann sehr gern sehen wirst. Mit dem Confirmationsgeschenk habe ich den Grund zu dem Schatz gelegt, baue Du nun darauf fort, ich will ihn wohl hüten, denn Du sollst nicht als Bettlerin dereinst dastehen, wenn Dich Einer freit.« – Damit schloß sie die Sparbüchse wieder ein und Riekchen wagte kein Wort weiter. –

Am folgenden Tage begann ein neues Leben; das Mädchen fand sich wunderbar in ihren ernsten Beruf, die Leute waren mit ihr zufrieden, denn wunderten sich auch Einer und Eine, daß Frau Steewens einem halbgewachsenen Ding von fünfzehn Jahren so Alles anvertraue, so sagten die Gesellen: »Ei, dafür hat die Fritze den Verstand einer fünfzigjährigen und sorgt besser für uns als die alte Veitin je gethan.« – Alles ging im Hause wie am Schnürchen, die alte Frau hatte selten Etwas zu rathen oder zu tadeln, und am Abend blieb noch immer ein Stündchen zum Vorlesen, was die einzige Freude der Bäckerin war. So vergingen ein paar Jahre; Riekchen war ein hübsches, blühendes, erwachsenes Mädchen geworden, der alte Leiermann gedieh in seinem Müßiggang ganz prächtig, so daß es schien, als ob er jünger, statt älter würde, wußte sich auch allen Leuten durch seinen wiedergekehrten Humor nützlich und angenehm zu machen, und sein treues Pflegekind hatte nun kein Herzeleid mehr, als daß alle Nachforschungen nach den Eltern vergeblich. blieben, und keinen geheimen Wunsch, als die liebe Mutter noch einmal zu sehen, und ihr geben zu können, was in der alten Sparbüchse so mächtig anwuchs und für sie so gar keinen Werth hatte, da sie es den Ihren nicht mittheilen konnte.

Es war ein frischer, schöner Sonntag, Anfang November's, als Riekchen mit dem Frieder, aus der Kirche kam, wohin sie der Alte stets stolz und ehrbarlich begleitete. Die Bäckermeisterin war daheim geblieben, weil sich Frau und Beschließerin nie zugleich aus dem Hause entfernten. Als sie um die Ecke auf den Marktplatz schritt, flog ihr Blick, wie gewöhnlich, zuerst nach dem spiegelreinen Fenster der Ladenstube, wo die alte Frau noch immer wie damals auf ihrem Polsterstuhl saß und des Sonntags die Bibel in der Hand hielt. Ihr weißes Häubchen leuchtete wie Schnee der Nahenden entgegen, Riekchen bemerkte jedoch zu ihrer Verwunderung, daß die Bänder desselben in großer Bewegung waren, daß die alte Frau mit den Händen heftig in der Luft arbeitete und eifrig in die Stube hinein sprach, in deren Hintergrund ein dunkler Schatten rastlos auf und nieder rannte, ohne Zweifel der Gegenstand ihres ungewöhnlichen Gehabens. Das Mädchen beeilte sich in's Haus zu kommen, und vernahm befremdet, schon als sie durch den Laden ging, die Stimme der Alten, die sie so streng und laut noch niemals gehört.

»So ist denn Alles an Dir verloren, Junge,« klang es ihr zu; »gute Lehren und böse Erfahrungen, Bitten und Befehle, Alles geht an Deinem tauben Ohr und sündigen Geist vorbei, wie die reine Gottesluft an dem Unkraut, es bleibt unnützes Zeug.« – Riekchen stand verlegen still und wagte nicht einzutreten, als sich eine Männerstimme erhob und lachend antwortete:

»Warum strengt die Muhme ihre alte Lunge so sträflich an, sie weiß ja also vorher, daß die Luft ihres Athems an mir ›Unkraut‹ vorbeigeht, wie dort die Gottesluft. Sie weiß auch, daß ich aus freiem Antrieb zu ihr komme, daß ich Nichts von ihr will und brauche, und daß ich um ihres Geldes willen keinen Fuß in die Mehlkiste hineinsetze, denn ein Erbschleicher bin ich nicht.« – »Nein, das bist Du nicht,« sagte die Alte milder. – »Na also, was macht mir nun die Muhme gleich einen Zopf so lang wie unser Ankertau, da ich nun einmal von der See heim komme und mit gutem Herzen gleich ungerufen zu ihr laufe, weil – weil Sie doch mit all Ihren altväterischen Schnörkeln eine grundbrave Frau ist.« – Riekchen stand mäuschenstill draußen, verlor kein Wort und lächelte vergnügt vor sich hin, zustimmend mit dem Köpfchen nickend. »Und seit wann hast Du denn die Entdeckung gemacht, Du Galgenstrick und Landläufer?« fragte Frau Steewens trocken, aber man merkte es ihrer Stimme wohl an, daß sie nicht so böse war als sie es hätte sein mögen. – »Seit die Muhme den alten Bettler und sein armes Pflegekind in's Haus genommen, ihn zum rechtschaffenen Kerl und das kleine blasse Ding zur ordentlichen Dirne gemacht. Es war die allererste Neuigkeit, die ich vernahm, als ich im Bremerhafen nach sechs Jahren wieder einmal den Boden einer vaterländischen Kneipe betrat; – Ihr wißt ja, die Kneipe ist immer mein eiligster Gang, in wessen Herrn Lande ich auch aus See komme!« – »Leider Gott,« murmelte die Alte, »aber wer wußte denn von den armen vergessenen Leuten?« – »Ein neidischer Leiermann, der mir den Schnack erzählte, platzend vor Wuth!« erwiederte lustig der junge Mann. »Er habe ein ganzes Jahr tagtäglich vor Euern Fenstern geleiert und höchstens ein Stück vier Wochen alten Zwieback erschnappt, indeß er doch so viel Appetit hatte auf Frieder's Pension im Hintergebäude, in die er sich gewiß eben so gut gefunden hätte, als der alte Stelzfuß, so schwur er mir.« – Die Bäckermeisterin konnte das Lachen nicht mehr verbeißen, so viele Mühe sie sich gab, und der junge Mensch schrie: »Da lacht ja die Frau Muhme hell auf, nun ist's gut! Herr Gott, was hat Sie noch für schöne Zähne auf Ihre alten Tage, sie blitzen mich ordentlich an; gebe Sie mir Ihre weißen, weichen Hände und lassen wir's gut sein für heute.« – »Nichts da,« schrie die Alte, ihn abwehrend, »so weit sind wir nicht, und kommen wir wohl niemals; denn solche Hände, die mit Karten und Würfeln Brüderschaft gemacht, sollen die meinen nie berühren!« – »Auch nicht, wenn's dieselben sind, die das kleine Mädel, das Ihr so gern habt, wie ich höre, dem gewissen Tod davon getragen?« so fragte jetzt die Männerstimme halb laut, und es zitterte in dem Ton etwas so Mildes, Herzliebes, daß sich das Riekchen nicht mehr halten konnte; sie vergaß, daß sie sich hatte still fortschleichen wollen, um nicht zu stören, stürzte athemlos in die Stube, streckte beide Hände dem jungen Matrosen entgegen, und rief jubelnd: »Das ist der Wilms, der gute Wilms! Gebt mir Eure Hand, ich sehne mich lange genug danach, sie recht herzlich zu drücken, habe in all den langen Jahren wohl tausendmal an Euch gedacht; denn ich vergesse mein Lebtag nicht, wie Ihr mich auf Eure Schultern ludet und leicht wie eine Katze den halsgefährlichen Weg von Boot zu Boot über die schäumenden Wasser hinweg machtet, dem verlassensten Wesen unter Gottes Himmel zu Liebe.«

Der Wilms stand da wie bedonnert, sah unverwandt auf das ehemals kleine Ding, das indeß zur schönen schlanken Jungfrau geworden, und als er endlich den Muth bekam, zu glauben, daß es die Fritze wirklich sei, als es ihre Hände in den seinen fühlte, da zitterten dem kecken Burschen, zum Erstenmal in seinem Leben, Arm und Bein, als stände er vor seinem Richter, und kein Wort wollte ihm zum Gruß über die sonst stets schlagfertigen Lippen. Die kluge, alte Frau aber machte große Augen, und es flog Etwas wie ein heller Schein über ihr Gesicht; sie mochte wohl denken: »So giebt es doch kein so wildes Thier, es fände sich nicht eine Kette dazu,« denn sie stand auf und sagte trocken: »Nun Du ihn nicht unwerth findest, ihm die Hand zu drücken, darf er mir nicht mehr unwerth sein, die Füße unter meinen Tisch zu setzen, und nun mag der Schlingel heute uns den fetten Truthahn verzehren helfen.« Damit schritt sie mit ernster Haltung voran nach dem Hinterhause, wo das Essen aufgetragen wurde und achtzehn hungrige Magen längst knurrend und sehnend der dampfenden Suppe harrten.

Der Wilms sagte noch immer kein Wörtchen, aber er reichte der Jungfrau fein säuberlich die Hand und führte sie ehrerbietig, wie eine Prinzessin, der Muhme nach, und hörte sittsam dem Tischgebet zu, das für den wilden Matrosen eine fast vergessene Weise war. Das Riekchen aber freute sich ganz heimlich im Herzen, daß der »ungerathene Neffe,« dessen Namen die Bäckermeisterin nie ausgesprochen, wenn sie sich über ihn beklagte, gerade der Wilms sein mußte, dessen Bild aus ihrer Kindheit so gut und lieb in ihr lebte.

*

Der Wilms.

Wilms war ein Schwestersohn der Frau Steewens, hatte den Vater früh verloren, und die sanfte, kränkliche Mutter besaß nicht die Kraft, den feurigen Buben zu bändigen. Er war noch nicht zwölf Jahre alt, als er sie schon so unumschränkt beherrschte, daß die schwache Frau es nicht mehr wagte, mit der reichen Schwester zu verkehren, die sich oft bemüht hatte, durch handgreifliche Zurechtstellung den harten Kopf des bösen Buben zu brechen und seiner schlechten Erziehung zu Hülfe zu kommen. Dergleichen Eingriffe der kräftigen Muhme verdrossen den kecken Wilms, der sich einbildete, alle Leute müßten sich von ihm beherrschen lassen, wie die Mutter, und als ihm diese vollends zu Gemüth führte: daß der Vater Alles durchgebracht und er sich deshalb von der reichen Muhme, schon um ihres Geldes willen, dessen er so sehr bedürfen werde, Etwas gefallen lassen müsse, da war es gar aus; denn er wollte keinem Menschen Etwas verdanken, am wenigsten aber der »groben Bäckermeisterin.« So geschah es, daß die Schwestern allen Umgang abbrachen und der Bursche endlich lieber als Schiffsjunge zur See ging, als die Muhme um Beihülfe für seine Zukunft ansprach. Das that der alten Frau bitter weh, denn sie wußte gar wohl, daß in dem Wilms die besten Anlagen steckten; er hatte ein gutes Herz, einen offenen Kopf und taugte nach ihrer Meinung für Besseres als »Fischspeise« zu werden.

Aber sie ließ den störrischen Buben ziehen und schwur, daß sie keinen Funken Mitleid mit der Schwester habe, die es nicht besser gewollt. Damit hatte es jedoch nicht so ganz seine Richtigkeit, denn als Jene erkrankte, hülflos und verlassen dalag, eilte sie zu ihr, versorgte sie nach Kräften mit allem Nöthigen, und Jene starb versöhnt in ihren Armen, sie herzlich segnend, denn sie mochte wohl in ihrer letzten Stunde ein trostreiches Versprechen von der Bäckerin empfangen haben, das ihr das Scheiden sehr erleichterte. – Der Wilms aber versank nach der Mutter Tode immer mehr in den lüderlichen Schlendrian, der dem Matrosen, sobald er nach langer Entbehrung das Land betritt und freie Zeit hat, so gefährlich wird; er sah die alte Muhme oft in Jahren nicht, und dann betrat er ihr Haus nur, weil sie der Mutter Gutes gethan, verweilte auch nie länger als wenige Minuten, während welcher denn auch die wohlverdiente Kopfwäsche nicht an ihm gespart wurde und dankte stets dem Himmel, wenn er die »Mehlkiste« am Marktplatz hinter sich hatte.

Das war denn nun Alles ganz anders geworden. Die Leute, die den Wilms früher kannten, konnten sich nicht genug verwundern über das, was mit ihm vorgegangen sein mochte; denn es waren nicht vier Wochen verstrichen, seit seiner Rückkehr, so sah man ihn nirgends mehr als »in der Mehlkiste« am Marktplatz, wo er sich ganz gewaltig um das Geschäft zu bekümmern schien. Im Wirthshaus, bei dem Würfelspiel, auf den Tanzplätzen und bei seiner frühern Genossenschaft war er ein Verschollener geworden, ohne daß er selbst es wußte; denn er merkte gar nicht, daß er irgend Etwas entbehre. Wenn ihm das Riekchen ihre Lieder vorgesungen – die er sich nie satt hören konnte – oder wenn das junge Mädchen ihm so ruhig, klar und kräftig seine Meinungen und Ansichten über den Beruf und die Pflichten eines begabten, gotterschaffenen Wesens aussprach, so hatte er Stoff, um Tage lang drüber nachzudenken und zu grübeln, und als ganz unverhofft und blitzgeschwind der Winter verstrichen war und mit dem Frühjahr die Eröffnung der Schifffahrt herankam, da wurde es ihm so weh um's Herz, daß er sich nicht mehr zu helfen wußte.

»Na, Wilms« – sagte die Bäckermeisterin eines Abends, da er eben zum Abschied die Mütze in die Hand nahm – »Du gehst nun wohl bald zur See?« – »Schickt Sie mich fort, Muhme?« fuhr der Gefragte auf. – »Was werde ich, fällt mir nicht ein; wundere mich nur, daß Du noch keinen Zug thust und Dir das Stubenhocken auf einmal zu behagen scheint« – entgegnete die Alte. »Ist's Euch nicht recht?« – fragte der Wilms, den Athem anhaltend, denn sein Falkenauge hatte es schon weg, daß Riekchen roth und blaß geworden war und sich tief auf die Arbeit bückte. »Wenn's zu was Gutem führt, warum sollte mir's nicht recht sein?« sagte die Bäckermeisterin ruhig. »Da kann ich wohl hier bei Euch bleiben, Muhme?« rief der Bursche mit funkelnden Augen. »Wenn Du ein Bäcker werden willst, könnte mir nichts Lieberes geschehen.« Der Wilms fuhr zurück. »Ein Bäcker?! Muhme, mein Lebtag nicht!« Und wieder sagte die Bäckerin trocken: »Bist wohl zu vornehm für das Handwerk?« – »Ich hab' keine Lust zu der Mehlhanthierung« – knirschte der Matrose, dem schon der Gedanke daran das Blut sieden machte. »Niemand soll mir das zumuthen!« – »Muthet Dir auch Niemand zu« – meinte die Alte ruhig, »ich dachte nur d'ran, weil Du davon sprachst, bei mir zu bleiben, und ich doch nicht wüßte, was ich in meiner ›Mehlkiste‹ mit einem Seemann anfangen sollte. Mein Wesen kann einmal Keiner übernehmen, als wer das Geschäft versteht. Der Bäckermeister hat freilich nicht viel mit der Mehlkiste zu schaffen, hat nur die Oberaufsicht, das überwachende Auge für sein Geschäft nöthig. Meister aber kann Einer nicht werden, ehe denn er Geselle war. Das widersteht Dir, begreif's wohl, Du hast große Rosinen im Kopfe, darum taugst Du nicht anders in mein Haus, denn als lieber Gast, als welcher Du mir jederzeit willkommen sein wirst, wenn Dich unterdeß die Haifische nicht verspeisen.« So sprach lachend die Alte und ging dann in der besten Laune ihres Weges. –

Der Wilms stand da höchlichst betroffen und sah ihr stumm nach. Riekchen nähte emsig fort, kein Wörtchen kam über ihre Lippen, und eine lange Stille trat ein. Endlich stampfte der Wilms zornig mit dem Fuß und stammelte: »Da bin ich nun so weit wie vorher! Sie mag mich einmal nicht, sie mag Keinen, der nicht nach ihrer Pfeife tanzt, sie ist und bleibt eben ein altes« – »Braves, edelgutes Herz,« – unterbrach ihn Riekchen rasch – »das jedes Menschen Bestes wünscht, am wärmsten ihrem einzigen Verwandten und Erben, das könnt Ihr glauben, Wilms.« – » Erben?« fragte Der, bitter lachend – »ich sollte wohl gar ihr Erbe sein? Ich, ein grober Seemann, ein Matrose, der keinem Menschen nach dem Munde zu reden weiß! Die Muhme vermacht ihren Mammon der ehrsamen Bäckerzunft oder den Armen, denn für's Allgemeine hat sie eher ein Herz als für den Einzelnen.« Riekchen erhob jetzt den Kopf, sah dem Spötter fest und ernst in die dunklen Augen und sagte entschieden: »Versündigt Euch nicht, Wilms; Undank ist das schwärzeste Laster. Mutter Steewens hat es mir selbst gesagt, daß Euch, ihrem Schwestersohn, von Gott und Rechtswegen ihr Erbe zugehört, daß sie es Eurer seligen Mutter auf dem Sterbebette zugesagt, Euch nie zu verlassen, daß sie nach ihres letzten Sohnes Tod ein Testament gemacht und nie daran gedacht habe, Euch das Eure zu entziehen; daß sie sich aber oft deshalb so bitter härne, voraussehen zu müssen, daß ihr redlich und sauer Erworbenes einst mit lüderlichen Gesellen verschleudert oder von der See verschlungen werden würde – wenn Gott nicht anders ein Wunder an Euch thue und Euch noch rechtzeitig zur Erkenntniß Eurer Fehler verhelfe.«

»Das sagte sie?« – schrie der Wilms, an allen Gliedern zitternd – »ist's wahr, Riekchen? Sprichst Du auch nicht so, um mich zu trösten?« Riekchen legte die Hand auf's Herz und sagte feierlich: »Ich würde mich vor Gott und Menschen versündigen, wenn ich einem Andern zum Trost eine Lüge sagen könnte.« – »Nun« – rief der Wilms ausbrechend – »das Wunder ist geschehen, ich hab's erkannt, was für ein unnützes, verwerfliches Geschöpf ich war, ich weiß auch nun, wie ich's besser machen kann und werde. Das hast Du mich gelehrt, Riekchen! und nun ich weiß, daß ich dereinst nicht als verkommener Lüdrian oder invalider Matrose an der Landstraße sterben werde, daß ich eine Zukunft habe, daß ich um ein rechtschaffenes Mädchen freien darf, nun darf ich's auch sagen, Riekchen, daß ich Dich lieber habe, als Alles auf der Welt, daß ich für Dich Alles zu thun im Stande bin, was Dich vergnügt, und daß Du meine Frau werden mußt.« Damit streckte er beide Arme nach dem Mädchen aus, es blitzte in seinen flammenden Augen hell auf, und man sah es dem armen Jungen an, daß ihm Herz und Seele überströmen wollten.

Das Riekchen aber stand leichenbleich, athemlos und zitternd vor ihm; mühsam nur, aber fest brachte sie endlich die Worte hervor: »Ich kann niemals Eure Frau werden, Wilms!« Der aber fuhr zurück und starrte sie entsetzt an. »Ist das Dein Ernst?« stammelte er endlich tonlos. – »Mein Ernst!« sagte Riekchen jetzt fester. »Wie könnte ich d'ran denken, jemals die Frau eines reichen Erben zu werden, ich, ein armes Bettelkind, das Niemandem angehört, als der Barmherzigkeit der Menschen, und Niemandem angehören darf und kann, so lange mich das Weltmeer von Denen scheidet, die mir das Leben gaben, Denen allein es zusteht, über meine Zukunft zu verfügen. Ob auch Jahre verstrichen sind, seit der liebe Gott uns trennte, das Gesetz, das er in das Herz jedes guten Menschen geschrieben: ›Du sollst Vater und Mutter ehren‹, kann keine Zeit verlöschen, noch aufheben. Ich darf nie die Frau eines reichen Mannes werden, so lange ich nicht weiß, daß meine Eltern der Armuth und dem Elend entnommen sind, das sie aus der Heimath trieb. Wilms, macht mir das Herz nicht schwer, Ihr werdet niemals eine andere Antwort von mir erhalten.« Ehe der junge Mann sich besinnen konnte, war das Mädchen verschwunden; noch lange stand er wie versteinert auf derselben Stelle, dann schlug er beide Fäuste vor die Stirn, athmete tief und schwer, als wollte ihm das Herz zerspringen, und große Thränen – die ersten seit seiner Kindheit – liefen ihm über die braunen Wangen. Plötzlich faßte er entschlossen nach seiner Mütze, stülpte sie trotzig auf den Kopf und trat rasch in den Laden, wo die alte Frau eben die Tageskasse ordnete. Eh sie sich's versah, fiel ihr der Wilms um den Hals, küßte sie heftig, daß ihr fast der Athem verging, schluchzte: »Gott erhalt' Euch, gute, gute Muhme! Denkt meiner freundlich, grämt Euch nicht um mich, Ihr Habt mich zum braven Kerl gemacht und ich will's bleiben, das mag Euch trösten. Adieu!« Dann stürzte er aus dem Laden, ehe die Bäckerin von ihrer Verwunderung sich erholte. Den andern Tag aber war der Wilms verschwunden, er hatte sich wieder eingeschifft.

*

Trübsal und Licht.

Sommer und Herbst waren in gewohnter Weise in dem Hause am Marktplatz verstrichen. Riekchen waltete ruhig und geräuschlos in dem Geschäft, es war nicht die geringste Veränderung an ihr zu bemerken, für minder scharfe Augen, als die der Bäckermeisterin, die oft mit nachdenklichem Kopfschütteln Riekchens verblühende Wangen betrachtete. Seit jenem Abend, wo der Wilms so plötzlich verschwand, hatte das Mädchen seinen Namen nicht ausgesprochen. Als die Alte sie damals gefragt: »Was fällt dem Jungen ein, weshalb lief er fort wie ein Unsinniger, ist es Trotz oder Unglück, was ihn jagt?« – hatte sie geantwortet: »Ich weiß es nicht, Mutter Steewens; laßt ihn nur, er wird sich schon wieder zurecht finden« – und seitdem war von dem armen Wilms keine Rede gewesen; aber das Mädchen sang und lachte auch nicht mehr wie sonst, ihre muntere Stimme war verstummt.

Der Leiermann fühlte aber immer deutlicher, sein armes Herzenskind trage einen tiefen Gram mit sich herum, deshalb hielt er sie eines Abends bei beiden Händen fest, als sie kam, ihm »Gute Nacht« zu wünschen, wie täglich, und sagte mit einem Ausdruck von Liebe, der bis auf den Grund ihrer Seele drang: »Mein Herzchen, Du hast all Dein Glück verloren, Du trägt schwer und solltest es vor dem alten Frieder nicht hehlen; er weiß ja doch, wie es mit Dir steht. Du hast den Wilms gern, und der Junge sah in Dich hinein wie in die Bibel; Du warst ihm ein neues Testament, warst sein Seelenheil geworden. Er hat Dir's gesagt, und Du hast ihn fortgeschickt, weil Du noch nicht an seine Besserung glauben magst, und weil Du Dir am Ende gar einbildest, die Bäckermeisterin wolle höher mit ihrem dereinstigen Erben hinaus und Du möchtest undankbar erscheinen. Gelt, Dein altes Ziehkind hat's Rechte getroffen?«

Das Riechen, überrascht und gerührt von der stillen Beobachtung des guten Frieders, sah ein Weilchen still vor sich nieder, dann aber sagte sie sanft und fest: »Und wenn es so wäre, Vater, so hätte ich gewiß recht gedacht und gethan. Wer da aber fühlt, daß er seine Pflicht thut, dem wird keine Last zu schwer; darum sieh nicht hin, wenn ich unter der meinen mühsam zu wandeln scheine, gräme Dich nicht, frage mich auch nicht, Du kannst glauben, daß ich nicht erliege.« Damit schloß sie den Leiermann in die Arme, sagte herzlich: »Gute Nacht!« und fort war sie. So war nun keine Rede mehr davon zwischen den Beiden. Der Winter kam und ging still und langsam seinen Weg, denn die heitere Stimme des frischen, gemüthlichen Wilms brachte nicht, wie im vorigen Jahr, frohes Leben in das Ladenstübchen der Alten, und diese saß fast stundenlang nachdenklich brütend, ohne durch ein Wörtchen zu verrathen, woran ihre Gedanken so emsig arbeiteten. Eines Tages, nachdem sie sich mit ihrem Notarius ein paar Stunden eingeschlossen hatte, und mit sehr vergnügtem Gesicht wieder zum Vorschein kam, stellte sie sich mit funkelnden Augen ganz breit vor das verwunderte Riekchen im Laden hin und sagte: »Du weißt, Kind, daß ich zum ersten März meinen siebenzigsten Geburtstag halte. So laß nun reichlich das feinste Mehl und große Rosinen einthun, denn ich will diesmal ein gewaltiges Fest geben; unsre Leute und meine Armen sollen sich an Kuchen für lange Jahre satt essen, da ich einen zweiten Siebenziger wohl sicher nicht mit ihnen zusammen verlebe.« Das Riekchen that wie ihm geheißen, und der erste März kam heran, man wußte nicht wie.

Rechts vom Laden lag in dem großen Hause eine gar hübsche Wohnung im Erdgeschoß, welche die alte Frau als ihr Heiligthum stets strenge verschlossen hielt; nur bei feierlichen Gelegenheiten wurden diese Gemächer betreten, die Fensterläden geöffnet und dem Lichte Zutritt zu ihren theuersten Erinnerungen gestattet – deren Wohnsitz jedes Möbel dieser Räume war, in welchen ihr lieber Mann ehemals gewaltet und ihre acht Kinder sich herumgetummelt hatten. Die obern Stockwerke waren alle vermiethet und brachten einen reichen Ertrag. In jenen lange unbewohnten Zimmern war's am Morgen des ersten März lebendig. Im schweren, schwarzen Stoffkleid, das glänzende freundliche Gesicht von einer kostbaren Kantenhaube umsäumt – so saß, gar stattlich anzusehen, die Frau Bäckermeisterin inmitten der großen Stube, neben ihr stand ein alter Herr, ihr Notarius, und rings um sie ihre Gesellen, Ladenleute und Gesinde, kurz Alles was Lebendes in ihrem Geschäfte hanthierte und ihr Brod aß, wobei sich absonderlich die Lehrburschen mit einer riesigen Geburtstagsbrezel und der lahme Leiermann und die alte Veitin mit großen Blumensträußen in den zitternden Händen hervorthaten. Das Riekchen, festlich geputzt, stand vor ihr, und hielt mit bewegter Stimme im Namen Aller die gewohnte Glückwunschrede. Als diese beendet und von der Matrone jedem Anwesenden kräftig die Hand geschüttelt worden, erhob sie sich feierlich, räusperte sich, und da auf dieses Zeichen eine Todtenstille eintrat, begann sie mit lauter Stimme also:

»Ihr wißt, Kinder, daß ich heute durch Gottes Gnade das siebenzigste Jahr erreichte. Ich war nicht immer so wohlhabend als jetzt, habe mein Lebtag viel geschaffen, habe mein Kreuz ordentlich getragen, habe Alles, was mir lieb und werth war, dem Herrn wieder geben müssen – habe aber drum niemals den lieben Gott verklagt, sondern mich immer in seinen Willen ergeben, und im Hinblick auf meinen Erlöser, der geduldig sein Kreuz uns Allen vortrug, mich stets wieder frisch erhoben. So bin ich zu hohen Jahren gekommen, und gesund an Leib und Seele geblieben, was Ihr Euch Alle merken könnt, Ihr Jungen« – dabei erhob sie die Stimme gewaltig – »die Ihr gleich Zeter schreit, wenn Euch ein Steinlein auf den Weg fällt und unser lieber Herrgott es einmal anders meint als Ihr. Nun aber glaube ich's verdient zu haben, mich endlich zur Ruhe zu setzen und mein Geschäft aufgeben zu dürfen.« Ein Aufschrei des Schreckens unterbrach die alte Frau, die jedoch rasch mit der Hand Stille gebot und also fortfuhr: »Ich habe nicht gesagt, daß ich Euch aufgebe, sondern das Geschäft, welches ich meiner Pflegetochter, der Friederike Balder, die es wohl verdient, daß ich sie wie mein leibliches Kind liebe, abgetreten und geschenkt habe.« – Riekchen schaute die Alte wie träumend an, und brachte endlich mühsam und erschrocken die Worte heraus: »Um Gott! und der Wilms, Euer Erbe? –« – »Der Wilhelm Swesen, meiner Schwester Sohn« – sagte die Alte, unwillig über die Unterbrechung – »erhält dereinst dies große Vorderhaus, mein anderes Haus in der Vorstadt nebst Garten und mein Kapitalvermögen. Das Erdgeschoß dieses Hauses aber, mit all den Hintergebäuden, der Bäckerei, der Bäckergerechtigkeit nebst meiner Mühle und meinem großen Acker hab' ich Dir gerichtlich bei meinen Lebzeiten noch geschenkt, damit ich gewiß weiß, daß dereinst nicht Streit noch Unrecht über meinem Grabe entbrenne.« – Damit nahm sie ein Papier aus der Hand des Notars. »Daß Alles dies Dein und Deiner Erben Eigenthum ist für ewige Zeiten, bestätigt Dir dies Document, Riekchen. Du wirst das schöne Geschäft, das uns reich gemacht, blühend erhalten, denn Gottes Segen ist mit den Gerechten. Mein Neffe,« – fuhr sie mit Stirnrunzeln und etwas bitter fort, »verachtet nun einmal das Handwerk und hätte es zu Grunde gehen lassen. Doch soll ihm kein Unrecht geschehen; kommt er dereinst lebend wieder und ich bin dahin, so ist er reich genug geworden, ohne einen Finger dabei zu rühren. Will es Gott anders, so weiß mein Testament zu sagen, was mit meinem Vermögen geschieht. Das aber ist festgestellt, Riekchen, Du und das Geschäft müssen bei dem Hause bleiben, herein darfst Du heirathen, wenn Du willst, nimmermehr aber hinaus, wenn Du Deines Erbes nicht verlustig gehen willst. Diese Wohnung ist von nun an die Deine, ich will, daß Du sie morgen beziehst; für mich selber behalte ich das alte Ladenstübchen und meine Schlafkammer dahinter, bis zu meinem seligen Ende, Amen! Nun, ihr Leute, empfehlt Euch der jungen Bäckermeisterin!«

Das Riekchen war blaß geworden wie der Tod, es schnürte ihr Brust und Herz zusammen, sie wußte nicht ob aus Freude oder Schreck. Die Leute umringten sie jubelnd, der Leiermann drehte sich laut weinend auf dem Stelzfuß um und schrie wie besessen: »Vivat Frau Bäckermeisterin! Nun kann ich ruhig hingehen!« Diese aber segnete Riekchen, die unter strömenden Thränen ihr um den Hals fiel und flüsterte: »Ach, wenn das meine armen Eltern erlebten!« Die Alte trocknete ihr sanft die Augen und sagte fest: »Wenn's Dir und ihnen gut ist, wird sie's der Herr schon erleben lassen!« und nun ging's zum reichlichen Mittagsmahl, wo es heute ganz besonders prächtig herging, bis in den späten Abend.

So war denn das arme Leierkind, das sein hartes Brod vor den Häusern ersungen, eine wohlhabende kleine Person geworden, auf die sich viele begehrliche Blicke richteten: denn es meldeten sich auf einmal gar stattliche Freier, die jedoch alle Zeit verdrießlich wieder von dannen zogen. Das Riekchen dachte aber Tag und Nacht an die fernen Eltern, und konnte ihres Glückes keinen Augenblick froh werden. Seit Jahren standen immer vergebliche Aufrufe in englischen und amerikanischen Zeitungen, welche der Notarius der alten Frau gewissenhaft besorgte; diese waren nun auf Riekchens Anordnung verdoppelt und verdreifacht, aber Alles blieb still und ihre Hoffnungen sanken täglich tiefer.

 

Es war ein ungewöhnlich heißer Tag im Mai, das Mittagsmahl vorüber, Frau Steewens saß im Stübchen und hielt ihr Nachmittagsschläfchen, Riekchen war allein im Laden. Da es um diese Tageszeit nicht viel zu thun gab, setzte sie sich zum offenen Fenster, und gab sich allerlei Gedanken hin, die sie quälten.

Ob der Wilms ihr jemals vergeben werde, daß er um ihretwillen verurtheilt sei, den Bäckerladen zeitlebens im Hause zu haben? – dabei fiel ihr ein: daß er nun wohl seinen Sinn ändern, ein anderes Weib heimführen werde: denn die Bäckermeisterin nähme er doch nie, und wie sie's dann wohl aushalten solle, mit ihm unter Einem Dache zu leben! Da kam ihr's auf einmal vor, als hätte die gute, alte Frau ihr eine gar grausame Wohlthat erwiesen, sie an dieses Haus zu bannen. Während sie so nachsann, war es ihr plötzlich: als verdunkle sich das Fenster, und als würde sie beobachtet. Rasch erhob sie den Kopf und begegnete einem schmalen, bleichen Gesicht, dessen forschender ängstlicher Blick sich prüfend in ihre Augen senkte; sie sprang auf.

Vor dem Laden stand ein abgemagertes Weib, armselig, aber reinlich gekleidet, ihr dünnes, graues Haar schlicht um die Stirne gescheitelt, und eine sanfte zitternde Stimme fragte leise: »Ist dies das Haus der Frau Steewens, Mamsellchen?« – Riekchen fuhr zusammen, der Ton durchbebte ihr jede Nerve. Jetzt belebte sich das sie starr anblickende Auge der Frau – das Herz wollte dem Mädchen aus der Brust springen, und mit einem Aufschrei, den man durch das ganze Haus hörte, rief sie: »Um Gottes Erbarmen willen! Das bist Du, Mutter!« und draußen stand sie auf der Straße und hielt die Leidensgestalt fest umklammert und fand keinen Ton mehr, um Hülfe zu rufen, als diese halberstickt: »Rieke« stammelte und ohnmächtig in ihren Armen hing.

Wer da weiß, was eine Mutter, was Kindesliebe ist – der denke sich, wenn er es vermag, das Gefühl dieser beiden treuen Seelen, die sich nach acht schweren Trennungsjahren nur an dem Schlag ihrer Herzen wiedererkannt hatten, und sich nun in den Armen hielten! Seht noch fern den langen abgehärmten Mann, im fadenscheinigen Rock, mit der gefurchten Stirn, dem unstäten Blick, an der Hand ein kleines Mädchen führend – wie er das weißgewordene Haar aus der Stirn streicht, um zu schauen, was er seinen Augen nicht glaubt: daß das schöne, blühende Mädchen dort sein armes, verloren geglaubtes Kind wirklich sei, daß es die Eltern, die in Armuth fortzogen und im Elend wieder heimkehrten, in Wahrheit wiedererkenne. – Denkt Euch, was diese Menschen empfanden, als sie nun Alle im schönen, hellen Laden vereint, sich erkannt, als die Mutter das Auge auf ihr geliebtestes Kind heftete und vor Freude verstummte – als das Riekchen vor dem Vater niederkniete und rief: »Ach, Vater, nun ist alles Leid vorbei, nun kann ich für Euch leben und Ihr für mich.« – Wie ward dem hartgeprüften Mann, da er den Blick erschrocken auf die dicke, alte Frau heftete, die weinend und lachend unter der Stubenthüre stand, und er nun Riechen schüchtern fragte: »Wird Dir das wohl gestattet sein, mein Kind?« worauf die Matrone fröhlich antwortete: »Das geht Niemanden an, die Bäckermeisterin kann zu sich nehmen und lieb haben, wen sie will; sie ist hier in ihrem Eigenthum, und da sie so gut ist, mich hier zu behalten, warum nicht ihre lieben Eltern, nach denen sie sehnt und sucht, seit sie das Haus betreten!« –

Als nun endlich Alle zur Ruhe gekommen, erzählte der Stephan, wie es ihnen ergangen. Die Leute auf dem Schiff hatten damals der Mutter gesagt, da sie ihr Kind weder auf dem Deck noch in der Cajüte finden konnte: sie hätten das Riekchen von der Brücke in die See stürzen und untergehen sehen. So finster wie die Reise begonnen, war ihr ganzes Leben durch alle die Jahre geblieben. Eine lange Reihe bitterer Erfahrungen, unablässiger Mühen hatten den unglücklichen Mann zwar zur Einsicht und Besserung seiner früheren Irrthümer gebracht, ihn aber auch belehrt, daß er in dem gelobten Lande durch all seine Arbeit und Qual nichts weiter errang, als das Bischen Leben, das ihm in der Heimath nicht einmal so schwer geworden war. Dem Riechen blutete das Herz, als die sanfte geduldige Mutter in stiller Ergebung sagte: »Unsere lieben Buben haben wir ein Jahr um's andere, Einen nach dem Andern, in die fremde Erde eingesenkt; sie konnten's nicht gewöhnen dort, bis auf die kleine Marthe hier, die unser einziger Trost ward in dem fernen Land, wo wir nie heimisch wurden.« Wie horchte aber das Mädchen jetzt erst auf, als der Vater erzählte: daß ihm eines Tages der Tischlermeister zu Sidney, in dessen Werkstatt er arbeitete, gesagt: es stehe ein Aufruf an ihn in der Stadt-Zeitung, und er habe d'rauf angezeigt, daß der Balder bei ihm zu finden; wie nun schon den andern Morgen ein junger hübscher Matrose bei ihm eingetreten und ihm gesagt habe: sein Riekchen lebe noch, sei wohl aufgehoben bei der Frau Steewens in Bremen, und lasse den Eltern sagen: »sie möchten nur den ganzen Kram in Sidney im Stich lassen und mit dem nächsten Schiff zu ihr kommen, denn sie werde reich und glücklich, und dazu fehlten ihr nur die lieben Eltern.« Darauf habe er ihnen das nöthige Geld zur Ueberfahrt gegeben und beim Abschied gesagt: »Er sollte seine Frau Muhme in der Mehlkiste am Marktplatz schönstens grüßen, und der Wilms hätte sie und Alles, was ihr gehöre, von Herzen lieb, aber für einen Seemann gehe doch gar nichts über das weite, blaue Meer, und sie möchte ihm deshalb nicht gram sein, wenn es Gottes Wille wäre, daß er vielleicht eher auf den Grund als in die Vaterstadt zurück käme.« – »Der Schlingel!« brummte die alte Frau – »geschehe ihm was ihm wolle, dem Trotzkopf, ihm widerfährt nur sein Recht!« – Das Riekchen sagte gar nichts, sah aber nach nichts weniger aus, als sähe sie den Wilms schon auf dem Grunde des Meeres liegen, im Gegentheil lag's wie Sonnenschein auf ihrer Stirn, sie wußte wohl warum! Schweigend nahm sie ihren Schlüsselbund vom Haken und die Mutter unter den Arm, führte sie hinüber in ihre stattliche Wohnung, und ordnete nun mit ihr die freundlichen Zimmer, in welchen sie den Geprüften ein herrliches Nest bereitete. Da ruhten sie nun aus von den Stürmen eines schweren Geschicks – unter dem Schutz des segensreichen Wirkens ihres frommen Kindes.

Das strahlende Antlitz des jungen Mädchens, mit welchem sie sich in dem Kreise all ihrer Lieben bewegte, umzog sich jedoch nach und nach mit einer trüben Wolke; denn Monat auf Monat verstrich, von dem Wilms aber hörte Niemand wieder. Auch die Heiterkeit der Alten begann ernsteren Befürchtungen zu weichen, und obgleich die beiden Frauen kein Wort darüber wechselten, wußten sie doch gegenseitig recht gut, was sie drücke. Der alte Leiermann allein legte zuweilen ganz sacht seine Hand auf Riekchens nachdenkliche Stirn und sagte leise: »Das Meer ist weit, und die Welt groß, aber Der kommt doch wieder!«

So war der Jahrestag jenes schönen Mai's herangekommen, der die Eltern an das Herz des treuen Kindes zurückgeführt. Der Vater, dem Müßiggang ein Greuel geworden, hatte sich im Hinterhause eine Werkstatt eingerichtet, wo es immer Arbeit vollauf gab; heute aber mußte er früh Feierabend machen, denn Riekchen bestand darauf, daß der Tag feierlich beschlossen werde. So saßen sie denn in der großen Wohnstube Alle zusammen bei dem traulichen Nachtessen um den runden Tisch. Alles schwatzte und war fröhlich, nur das Riekchen blieb still, hielt die Hand der guten Bäckermeisterin fest in der ihren und blickte gedankenvoll vor sich hinaus. Da zuckte es plötzlich wie ein Strahl durch ihre Glieder, sie streckte den Arm, zur Stille mahnend, rasch aus, und horchte athemlos, denn draußen auf der nächtigen Straße, dicht unter ihrem Fenster, erhob sich eben eine kräftige Männerstimme und es tönte lieb und wehmüthig herein:

»So viel Vöglein als da singen,
So viel Wellen als da geh'n,
So viel Hirschlein als da springen,
So viel Frühlingslüfte weh'n –
Keines macht mein Herz gesund
Seit der bangen Abschiedsstund'!«

»Der Wilms! Der Wilms!« schrie das Mädchen, an allen Gliedern zitternd, so gelähmt vor Freude, daß sie nicht von der Stelle konnte. Da öffnete sich nach einem Weilchen ganz sacht die Stubenthür, und herein trat ein ehrsamer Geselle im reinlichen, netten Bürgerskleide, einen stattlichen Ranzen auf dem Rücken, der hielt fein ehrbarlich Mütze und Knotenstock in der Hand, strich sich mit der andern das schwarze Haar von der offenen Stirn und fragte schüchtern: »Keine Arbeit für einen ausgelernten Bäckergesellen, Frau Meisterin?« Das Riekchen aber warf ihren Stuhl und die kleine Schwester, die neben ihr saß, weit hinter sich, stürzte dem Burschen an den Hals, umschlang seinen Nacken und jubelte: »Wenn Du meine Arbeit theilen willst, Wilms, so sollst Du für das ganze Leben bei mir einstehen, denn ich bin jetzt die Meisterin, verlange keinen Gesellen als Dich!« – Da warf der Wilms Ranzen und Knotenstock von sich, preßte sein Lieb auf Seemannsart an's Herz, daß es ihr fast stille stand, und weinte hell hinaus vor innigster Freude. – Der Frieder rief: »Hab's ja gewußt!« und die alte Frau fuhr dazwischen: »Wo hat aber der Bursche seinen Lehrbrief? Macht er uns gar eine Comödie vor?« –

»Nichts da, Frau Muhme« – sagte der Wilms stolz, indem er sein Papier aus der Tasche zog und vor sie hinlegte; – »hat doch der Jakob sieben Jahre um die Rahel gedient, und ich sollte für ein Riekchen, wie's kein zweites auf der Welt mehr giebt und gegeben hat, ein Jahr Lehrzeit scheuen? In New-York essen die Leute auch Brod, und da ich in der Väterstadt mich meinen alten Genossen nicht als Bäckerlehrling zum Gespött machen wollte, habe ich mein Handwerk dort gelernt; morgen will ich Euch mein Meisterstück machen, den Gefallen kann man einer so herzlieben Frau, wie Ihr seid, wohl thun, Muhme! Dann sollt Ihr mir zugestehn, daß ich kein hartköpfiger Schlingel mehr bin, daß ich mein Riekchen und Euer Erbe zu sein ehrlich verdient und der Zunft als Bäckermeister nicht zur Schande gereichen werde.«

Und so war es auch. Am andern Tage aß die glückselige alte Bäckerin zum ersten und letztenmal von dem duftigen Brode, das der Wilms meisterlich gebacken; denn von da an überließ er dies Gesellen, begnügte sich damit, sein Bräutchen so glücklich zu machen und so selig zu sein, als es Menschen sein können, und das Anwesen mit scharfem Auge zu überwachen. – Im Herbst aber, am Hochzeitstag, befahl die Bäckermeisterin, daß der Leiermann seinen alten Kasten herbeiholte, und als das junge Volk sich lustig danach im Tanze schwenkte, sprach die Matrone feierlich: »Hätt's nimmer geglaubt, daß solch elendes Ding mir so viel Glück in's Haus leiern könnte! Haltet mir den Frieder und seinen Kasten in hohen Ehren, und wenn meine letzte Stunde kommt, Riekchen, soll mir Dein Lied die Himmelsthüre öffnen, wie Du dereinst mein Haus, und Du sollst mich hinübersingen mit dem Vers:

»Ich kenn' wohl eine Grube,
Fällt manch ein Thränlein drauf,
Draus geht die Saat als Blume
Im Schooß des Herren auf!«

*


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