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Zum Bräutigam bin ich zu alt,« erklärte Steinbach; »darum will ich so bald als möglich ein junger Ehemann werden.«
Seiner Vermählung stand ja nichts im Wege; darum ließ er das alte Patrizierhaus für seine junge Frau erneuern und richtete es so ein, daß es seinem verfeinerten Geschmacke, wie dem einfachen Sinne Mariechens behagte.
Baldinger verlangte natürlich, die Hochzeit in seiner Villa auszurichten. Aber darauf ging Steinbach nicht ein.
»Wollte ich nach meinen Wünschen handeln,« sagte er, »so ließe ich mich mit meinem Mariechen trauen, frühstückte dann mit euch und entführte sie nach Italien. Aber für Mariechen hege ich andre Wünsche. Da, wo sie wie ein Dienstbote gearbeitet hat, soll ihre Hochzeit sein, und die ganze Stadt soll erfahren, wie sehr sie geliebt und welch große Ehre ihr von ihrem zukünftigen Gemahl erwiesen wird.«
Nach dieser Auffassung richtete Steinbach in Bromberg eine Hochzeit aus, von der noch lange gesprochen wurde. Das junge Paar reiste zwar gleich nach dem Mahle ab; die Hochzeitsgäste aber blieben bei einem glänzenden Balle, auf dem Fe wieder als Schönheit strahlte, bis zum nächsten Morgen beisammen. Baldinger und Walter, sowie die ganze Familie Stedden fehlten nicht, Tante Mile aber und Hildchen sendeten nur Telegramme, Hildchen noch dazu aus dem Bette; denn sie war, gerade als sie von Genf abreisen sollte, an den Masern erkrankt.
Darüber waren nun wieder ein paar Monate vergangen, und im Rate der »Götter«, wie Hildchen in diesem Falle Papa und Tante zu nennen beliebte, war beschlossen worden, daß Hildchen nicht erst zu Ostern – wie es bestimmt war – heimkehren solle, sondern schon Mitte Januar.
Gerade in dem Augenblick aber, wo der Kommerzienrat abreisen wollte, um sich sein Hildchen wieder zu holen, bekam er einen so heftigen Katarrh, daß der Arzt erklärte, seine Zustimmung zur Reise in keinem Falle geben zu können.
Sofort wurde der Telegraph in Bewegung gesetzt und Madame Chandron ersucht, Hildchen mit sicherer Begleitung heimzusenden.
Die Antwort war nicht befriedigend. Bis Zürich konnte Hildchen begleitet werden; doch Umstände, die zu weitläufig wären, um sie durch den Telegraphen bekannt zu geben, machten es unmöglich, Hildchen bis nach Frankfurt zu geleiten.
Da faßte Mile einen heroischen Entschluß: »August, ich hole das Kind.«
»Was fällt dir denn ein, Mile!« rief Baldinger, immer von Niesen unterbrochen. Aber es war am Ende der einzige Ausweg, wenn man Hildchen nicht allein reisen lassen wollte.
»Nun, wenn daraus keine Konfusion wird!« rief Hildchen ahnungsvoll, als sie das Telegramm in Genf erhielt.
Mile war über ihre eigne Kühnheit erstaunt; aber merkwürdigerweise ging die Abreise in einem durchgehenden Zuge besser von statten, als Mile erwartet hatte. Röse und die Wirtschafterin hatten sie begleitet und ihr einen bequemen Platz ausgesucht. An Vorräten war Ueberfluß vorhanden, sodaß Mile den Wagen nicht zu verlassen brauchte, und der Schaffner erhielt ein hohes Trinkgeld.
Baldinger fiel aber ein Stein vom Herzen, als ihm ein Telegramm andern Tags meldete: »Glücklich mit Hilde zusammengetroffen, ganz wohl, sehr stolz; wir rasten einen Tag und reisen übermorgen.«
»Na, Gott sei Dank, das ist mal besser abgelaufen, als ich gefürchtet hatte!« rief Baldinger.
Da, in der zweitnächsten Nacht wurde an der Villa heftig geklingelt und ein Telegramm abgegeben.
Baldinger, der sich schon zu Bett gelegt hatte, dachte an ein Eisenbahnunglück, und mit zitternder Hand wußte er kaum, wie er das Papier entfalten sollte.
Nein, gottlob, kein Eisenbahnunglück! Aber beruhigend war die Nachricht trotzdem nicht: »Tante spurlos verschwunden. Zug abgefahren ohne mich. Ganz ohne Geld in Station B. Telegramm aus Freundlichkeit befördert. Deine arme Hilde.«
Vielleicht war die Geschichte zum Lachen, aber den geängstigten Kommerzienrat kam kein Lachen an. Wie, zum Kuckuck, kann denn Mile plötzlich verschwunden sein? dachte er. Von Schlaf war natürlich keine Rede mehr, darum wurde er auch von dem zweiten gewaltsamen Klingeln nicht erst erweckt; trotzdem durchfuhr's ihn wie mit einem elektrischen Schlage. Das zweite Telegramm wird die Aufklärung bringen, überlegte er, denn er hatte sich auf weitere Nachtstörungen schon gefaßt gemacht.
Das Telegramm lautete: »Bin auf den Wiener Zug geraten, ohne Hilde, ohne Geld. Mache nie wieder eine Reise. Letztes Geld für Telegramm verbraucht. Erwarte welches Bahnhofrestaurant Ulm. Deine verzweifelte Mile.«
Die Geschichte war zwar unangenehm, aber jetzt zuckte es doch wie Lachen um Baldingers Mund.
Na, da bin ich aber doch neugierig, was die Frauenzimmer angestellt haben! dachte er. Zwar fand er auch jetzt seinen Schlaf nicht mehr, aber nach dem ersten furchtbaren Schreck erschien ihm die Sache doch mehr in einem komischen Lichte. Er beschloß, sobald der Morgen angebrochen wäre, den irrenden Damen das nötige Kleingeld anweisen zu lassen und sie um nähere telegraphische Auskunft zu ersuchen.
Aber wie war es denn möglich gewesen, daß sich Tante Mile plötzlich auf dem Wiener Zuge befand, und Hildchen von ihrem Zuge im Stich gelassen wurde?
Es ist stockfinstere Nacht, der Schnee prasselt an die Wagenfenster, die Lampe flackert unruhig, in jedem Winkel sitzt eine vermummte Gestalt: die eine von ihnen ist Mile, die andre unser Hildchen. Jetzt pfeift es; Lichterschein zuckt über die gefrorenen Fensterscheiben, und der Zug fährt in einen Bahnhof ein.
Von seiten der dritten vermummten Gestalt läßt sich eine Stimme vernehmen: »Hier an der Station ist das Warmbier berühmt.«
»Ach, Tantchen, laß mich aussteigen und für uns zwei Tassen Warmbier holen,« bittet Hildchen.
»Fällt mir gar nicht ein; du bleibst sitzen.« Mile öffnet das Fenster: »Schaffner, Schaffner!«
Auf dem Perron zeigen sich nur wenige dunkle Gestalten, die in dem hell erleuchteten Restaurant verschwinden; kein Schaffner ist zu sehen.
»Da gehe ich selber,« erklärt Tante Mile entschlossen; »die Thür ist ja gerade gegenüber, ich bin gleich wieder zurück.«
»Ach Tantchen, das kann ich nicht zugeben; wenn dir was passierte!«
»Na, und wenn dir was passierte? Du bist anvertrautes Gut. – Gieb mir übrigens dein Portemonnaie, in meinem ist nur Gold, und das steckt auch in der Tasche.«
Hildchen reicht der Tante ihr Portemonnaie. »Es ist aber nicht viel Geld darin,« bemerkt sie.
Tante Mile steigt, jeden weitern Einwurf zurückweisend, entschlossen aus, und Hildchen, ihr nachblickend, sieht, wie sie in der Restauration verschwindet.
Das Lokal ist voll Menschen, dichtgedrängt scharen sie sich um das Büffett. Mile drängt sich entschlossen durch, erobert auch richtig zwei Tassen, verliert aber beim Herausgeben einiger Pfennige bedenklich viel Zeit. Während sie diese kostbaren Pfennige im Portemonnaie verwahrt, erscheint an der Thür der Portier und ruft eine ganze Reihe von Städtenamen aus. Mile versteht keinen einzigen davon; aber darauf kommt's ja auch nicht an, denkt sie, erfaßt die beiden Tassen und folgt den auf den Perron hinausdrängenden Passagieren.
Sie erwartet, daß ihr Hildchen ein Zeichen geben würde; allein die Fenster sind geschlossen, keine winkende Hand streckt sich ihr entgegen. Klapp, klapp, hört man die Thüren zuschlagen. »Einsteigen! Einsteigen!« mahnt der Schaffner.
Unschlüssig, wo sie einsteigen solle, immer noch die beiden Tassen in der Hand, läuft Mile an dem Zug entlang. »Hilde! Hilde!« ruft sie schon ganz verzweifelt.
»Steigen Sie ein, meine Dame!« mahnt der Schaffner, und da sie zögert, erfaßt er sie und schiebt sie – mit einer Tasse in jeder Hand – in das Coupé, vor dem sie gerade steht.
»Aber wo ist meine Nichte?« jammert sie.
Schwapp fliegt die Thür zu, und Mile steht zwischen liegenden Gestalten, die sich bei ihrem Jammern nur so weit ermuntern, ihr in unverständlichen Lauten eine, wenn auch nicht gerade freundliche Begrüßung zuzurufen; aber niemand rührt sich, um ihr Platz zu machen. Die Lage ist nicht beneidenswert, und Mile sagt sich, daß sie in dieser Stellung die Reise nicht lange fortzusetzen vermöchte. Also entschließt sie sich, das Warmbier – jetzt eher Kaltbier zu nennen – auszutrinken; dann stellt sie die Tassen unter den Sitz, und nun berührt sie die ihr zunächst liegende Gestalt.
Mile übersetzt sich die der Gestalt entschlüpfenden Worte in: »Zum Kuckuck, wie können Sie mich denn stören?« – Sie selbst aber entgegnet: »Bitte gefälligst Platz zu machen; ich bin nicht gewöhnt, stehend zu reisen.«
Knurrend zieht sich die Gestalt zusammen, und für Mile wird ein Plätzchen frei. Sie setzt sich, aber nicht bequem, wie man sich für die Nacht einrichtet; denn sie erwartet schon auf der nächsten Station auszusteigen. Auf einmal rasselt das Fenster herunter; ein bärtiges Gesicht und ein Laternchen gucken herein. »Jemand eingestiegen?«
»Ja,« sagt Mile. »Ich bin in ein falsches Coupé gesteckt worden; bitte, daß ich auf der nächsten Station aussteigen darf.«
»Ihr Billet?«
»Das steckt in meiner Handtasche; alles in dem andern Coupé, wo meine Nichte sitzt.«
Dem Schaffner geht ein schreckliches Licht auf. »Sie reisen nach Ulm – Passau – Wien?«
»Fällt mir nicht ein – nach Frankfurt.«
»Dann sind Sie in den falschen Zug gestiegen.«
»Hören Sie mal,« ruft Mile sehr empört, »wenn so was vorkommen kann, dann ist etwas nicht in der Ordnung!«
»Ja, meine Dame, wenn Sie rechts in die Restauration hinein und links hinausgehen, ist das nicht in der Ordnung, aber ganz allein Ihre Schuld.«
Jetzt erst fängt Mile an, ihre Lage zu begreifen und bricht in lautes Jammern aus. Dadurch empfiehlt sie sich nicht gerade bei der schlafenden Familie, die von ihren Klagen kein Wort versteht. Nur eines tröstet Mile, daß Hildchen, wenn auch in Sorge um die verschwundene Tante, doch in dem richtigen Zuge sitzend, glücklich bei ihrem Vater eintreffen würde.
Wie aber würde die gute Mile erst gejammert haben, wenn sie geahnt hätte, daß Hildchen einsam und verlassen auf der Station zurückgeblieben war!
In ihrer Angst, weil die Tante nicht wiederkehrte, war sie noch im letzten Augenblick hinausgesprungen, um nach ihr zu sehen. Sie fand sie nicht in der Restauration, und ihre Fragen wurden ungenügend beantwortet. – Auf einmal ein gellender Pfiff – Rasseln, Schnauben – Hildchen stürzt auf den Perron zurück – und an ihr vorüber fährt der Zug hinaus in die finstere Winternacht. Sie sieht sich plötzlich allein auf einer Station, deren Namen sie nicht einmal kennt. In leichtem Jäckchen steht sie im wirbelnden Schnee; ihr Mantel, Plaid, ihr Geld, ihr Billet und Gepäck – alles ist mit dem davoneilenden Zug verschwunden!
Einen Augenblick steht das arme Kind vor Schreck betäubt und die Thränen steigen ihr in die Augen. In dieser hilflosen Lage erfaßt sie eine Sehnsucht – merkwürdigerweise nicht nach ihrem Papa oder Onkel Edi, sondern nach der schützenden Gegenwart ihres Jugendfreundes, die sie so stark noch niemals empfunden hat. Wenn er jetzt plötzlich aus dem Dunkel auf sie zuträte und sie seine beruhigende, feste Stimme hörte – ach, wie sicher, wie geborgen sie sich dann fühlen würde! Da sie ihn aber nicht herbeizuzaubern vermag, beschließt sie, sich so ruhig und verständig zu benehmen, daß sie, ohne sich ihrer Schwäche zu schämen, vor seinem Urteil bestehen könnte. Die Baldingersche Energie ist in dem lieben Mädchen erwacht.
Zufällig kennt ein Bahnhofbeamter den Namen ihres Vaters und legt für sie die Telegrammgebühr aus. Nachdem sie es abgesendet hat, wird sie von dem gefälligen Manne über das Schicksal der Tante beruhigt. Es ist nicht das erstemal, daß reisende Damen auf den falschen Perron geraten und in den Wiener Zug gestiegen sind.
Mit erleichtertem Herzen findet sie endlich in einem Sofaeckchen einen Platz, wo sie die lange Winternacht verträumen kann.
Es ist ganz still um sie geworden, denn die Nachtzüge sind alle eingelaufen; nur eine Lampe wirft noch einen ungewissen Schein über die ihr so fremde Umgebung. Allmählich verwirren sich Hildchens Vorstellungen, und trotz der unbehaglichen Lage ist sie eingenickt.
Plötzlich fährt sie auf. Die Lampen brennen wieder; die Thüren werden aufgerissen, und der Raum füllt sich mit Reisenden, die stürmisch nach Kaffee verlangen.
Ein Paar nähert sich dem Tische, an dem Hildchen sitzt, um das Frühstück einzunehmen.
»Ach!« ruft Hildchen vor Staunen und Freude zugleich. Sie hat in dem Paare Herrn und Frau von Holborn erkannt, die von der Riviera zurückkehren, wohin sie seine erkrankte Schwester geleitet haben.
Das Erstaunen auf der andern Seite ist vielleicht ebenso groß; die Freude, Hildchen Baldinger hier so unverhofft zu treffen, scheint noch größer. Hildchen hatte gar keine Ahnung, daß sie eine Person wäre, die wiederzusehen ein so großes Vergnügen bereiten könnte. Natürlich versorgen sie die Holborns mit Frühstück und senden noch ein Telegramm an den besorgten Vater; sie bezahlen auch das Billet für sie, und das alles, während der Zug zehn Minuten hält.
Nachdem sie dann alle im Wagen Platz genommen haben, und das junge Mädchen, in geborgte Plaids gehüllt, in einer Ecke sitzt, scheinen sich die Holborns gewissermaßen als Hildchens Lebensretter zu fühlen, und führen sie nun im Triumphe der Heimat zu.
Frau von Holborn sieht dieses Zusammentreffen als ein vom Himmel besonders für sie vorbereitetes an; denn sie hat den einmal gefaßten Plan nicht aufgegeben und ist noch immer gesonnen, dem armen Bruder Artur in Hildchen eine nette Frau zu verschaffen.
Da Hildchen von diesem Heiratsplane keine Ahnung hat, wird ihr Behagen nur durch die Sorge um die Tante getrübt.