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Schon am nächsten Morgen schwänzelte Klärchen wieder herbei. Sie schien mit Weisheit ordentlich beladen, so wichtig sah sie aus. Natürlich wünschte sie diese Weisheit leuchten zu lassen, und als sie sich erkundigte, wie die Geburtstagsfeier allerseits bekommen sei, konnte man's ihr ansehen, daß diese Frage nicht die eigentliche Ursache des Besuches war.
»Ich finde Loritzens viel netter, als ich sie mir vorstellte,« leitete Klärchen die Unterhaltung ein. »Ich bildete mir nämlich ein, sie seien auch nur so heraufgekommene Leute, und Parvenus kann ich nicht leiden. Tante Sophie sagt, man sehe es ihnen doch an der Nasenspitze an, woher sie kämen. Es ist wirklich komisch, aber ich hatte zuerst sogar gegen dich ein Vorurteil.«
Hildchen begriff nicht gleich, was Klärchen damit sagen wollte, und ehe sie anfing zu verstehen, daß auf die Herkunft ihres Vaters, worauf dieser so stolz war, angespielt wurde, war Klärchen schon wieder bei den Loritzens.
»Frau Loritz ist die Tochter des Großkaufmanns Jürgensen in Hamburg, hat mir Paula erzählt. Sie sagte mir, daß sie eigentlich gewöhnt wären, nur mit Millionären umzugehen.«
»Hat das Paula wirklich gesagt?« forschte Hildchen. Die Unterhaltung hatte für sie etwas Verletzendes, obgleich sie sich keine Rechenschaft geben konnte, worin es bestand.
Klärchen fühlte sich aber in sicherm Fahrwasser. »Wenn ich sage, ich habe es aus Paulas Munde, mußt du das nicht gerade wörtlich nehmen. Aber man konnte ihre Worte so verstehen. Paula sagte, es gebe jetzt viele reich gewordene Leute, darum müsse man im Umgang sehr vorsichtig sein. Vor deinem Papa, meinte sie, hätte aber selbst ihre Mama einen großen Respekt; doch Tante Mile hielte sie für unmöglich.«
»Für unmöglich? Was soll das denn heißen? Tante Mile ist doch eine wirkliche Person?«
»Wie kannst du dich nur anstellen, als ob du mich nicht verstanden hättest! Es muß dir doch selber aufgefallen sein, was für schlechte Manieren deine Tante hat.« – Klärchen setzte sich breit und legte die Hände auf die Knie. »So sitzt doch keine feine Dame,« erklärte sie. »Und natürlich glauben dann die Leute, daß Tante Mile ganz ungebildet sei. Paula dachte, sie könne nicht einmal lesen und schreiben.«
»Aber das ist ja gar nicht wahr!« rief Hildchen empört.
»Das habe ich Paula auch gleich gesagt; sie kann schreiben, nur ein bißchen konfus und unorthographisch, wie selbst Onkel meint, und Onkel ist sehr mild in seinem Urteil. – Paula redete ja auch nur über die schrecklichen Manieren deiner Tante und die ordinäre Sprache. Ihre Mama ist nämlich sehr besorgt, daß sich Paula und Mariette nichts Unfeines angewöhnen. Sie leben in den vornehmsten Kreisen, weißt du, und da kann man's Frau Loritz wirklich nicht verdenken, wenn sie mit dem Umgang ihrer Töchter sehr wählerisch ist. Meine Tante Adelheid hielt auch sehr viel auf gute Manieren, weißt du, und ich bin ihr recht dankbar, obgleich es manchmal wirklich unbequem werden kann, wenn man sich zu gebildet benimmt. – Hm! hm! – Findest du nicht, daß Fräulein Schönchen – ich will natürlich nichts gegen deine Erzieherin sagen, und sie macht auch so reizende Blumen, das muß man ihr ja lassen; aber in manchen Dingen merkt man's doch …«
»Ich will nichts gegen Fräulein Schönchen hören!« brauste Hildchen auf.
»Mit deiner Heftigkeit wirst du deine Freundinnen noch manchmal verletzen,« bemerkte Klärchen in einem spitzen Tone. »Ich nehme es dir aber nicht übel, wenn du Fräulein Schönchen verteidigst; es ist sogar lobenswert, seine Lehrer zu verteidigen. Vielleicht wäre es aber doch besser, wenn Fräulein Schönchen bei euch nicht die erste Rolle in den Gesellschaften spielte; denn sieh einmal, das weiß ja in den gebildeten Kreisen jedes Kind – das Nötigen gehört zum Anstand. Ich will in diesem Falle nicht sagen, daß man die Wirte für geizig hält, die ihren Gästen nicht zureden – daran ist ja bei euch kein Gedanke; aber trotzdem bleibt es peinlich, wenn die Gäste hungrig nach Hause gehen müssen. Findest du das nicht auch?«
»Hast du gehört, daß unsre Gäste hungrig nach Hause gegangen sind?« fragte Hildchen errötend. »Es ist doch so schrecklich viel Kuchen übrig geblieben.«
»Natürlich, wenn die Gäste den Kuchen nicht essen, bleibt er übrig,« meinte Klärchen mit überlegenem Lächeln. »Das ist's ja eben, was ich sage; denn gebildete Personen greifen nur zu, wenn man sie zum Zugreifen nötigt.«
»Na, da weiß ich nicht mehr, was gebildet sein soll!«, rief Hildchen. »Wenn Tante Mile so schrecklich viel nötigt, sagt Onkel Edi: ›Wir wollen auf den Tisch eine kleine Figur mit einem Banner stellen, auf dem geschrieben steht: Hier wird nicht genötigt.‹ Und das sagt Onkel Edi nur, weil er das Nötigen von Tante Mile gar nicht passend findet.«
»Es giebt eben eine Mitte, weißt du; aber gestern hätte ich gern mehr Schokolade getrunken, wenn Fräulein Schönchen sie mir dringender angeboten hätte.«
»O!« machte Hildchen, etwas betreten.
Klärchen war im besten Zuge. Sie setzte sich erst in dem Gartenstuhle ein wenig mehr zurück, dann fuhr sie mit Behagen fort, denn sie hatte noch allerhand auf dem Herzen: »Von den Rolands hat Paula auch mit mir gesprochen. Die Rolands sollen ja eine ganz powere Familie sein; denke dir nur, die jüngste Schwester dient in Podelwitz.«
»Walter sagte, seine Schwester sei erst in einer Anstalt gewesen, um zu lernen, wie man mit kleinen Kindern umgeht.«
»Ich bitte dich, Hildchen! Dienstmädchen ist Dienstmädchen. Die älteste Schwester würde ja herzlich gern auch dienen, aber sie hat ein zu kurzes Bein; na, und daß der eine Bruder Tanzmusik macht, wirst du wohl auch schon gehört haben. Wenn man solche Dinge von diesen Leuten erfährt, muß man sich doch sehr wundern, wie dein Vater erlauben kann, daß der Roland in euerm Hause verkehrt.«
Hildchen hatte gestern schon gefühlt, daß etwas nicht in Ordnung sei, und dieses bange Bewußtsein wurde durch Klärchens Rede noch verstärkt. Es war wie eine Last, die sich auf ihre jungen Schultern legte, und die sie vergeblich abzuschütteln versuchte. Vor Klärchen aber wollte sie nicht zeigen, daß ihr bei dem Berichte über Rolands Familie nicht gut zu Mute war. Mit einem hochmütigen Zurückwerfen ihres Köpfchens fragte sie: »Warum soll uns Walter nicht besuchen? Er ist doch in der Fabrik angestellt, und Papa muß mit seinen Beamten verkehren.«
»Ach, mache mir nichts vor, Hildchen! Du weißt ja recht gut, daß ich's anders meine. Dein Papa verkehrt auch mit seinen Arbeitern, aber er ladet sie nicht in sein Haus. Paula hat sich sehr gewundert, daß du Roland im Garten erwartest, und daß du dich mit ihm Du nennst.«
Hildchen wurde glühend rot. »Ich nenne Walter nicht mehr Du,« erklärte sie. Doch war sie zu erregt, um zu merken, daß Paula unmöglich ohne eine Mitteilung Klärchens Näheres über ihren Verkehr mit Roland erfahren haben könnte.
»Tante Ernestine sagt immer« – Klärchen war so glücklich, für jede Behauptung die Meinung einer ihrer Tanten anführen zu können – »›Nenne mir deine Freunde und ich weiß, wer du bist.‹ Wenn ihr natürlich mit Schulmeisters verkehren wollt, ist es unmöglich, daß ihr mit Loritzens verkehrt; so sagte wenigstens Paula.«
Das jetzt völlig eingeschüchterte Hildchen wagte nur einen schwachen Versuch, den Jugendfreund zu verteidigen. »Du konntest ja Paula sagen, daß wir Walter Dank schuldig sind; du hast doch gewiß gehört, daß er mir einmal das Leben gerettet hat.« – Bis dahin hatte Hildchen niemals daran gedacht, daß die Dankbarkeit eine Triebfeder ihrer schwesterlichen Neigung wäre.
»Ach, weißt du, daran habe ich wirklich nicht gedacht; das ist schon so 'ne alte Geschichte. Dein Papa hat ja dafür den Roland auf die Schule geschickt und studieren lassen; und jetzt bekommt er seine Arbeit natürlich auch viel besser bezahlt als ein gewöhnlicher Arbeiter. Na, ich dächte, damit wäre doch genug für den Roland geschehen.«
Wie doch für ein so unerfahrenes Kind wenige Worte die Welt verändern! Ihre ganze Umgebung, selbst den treuen Jugendfreund sah Hildchen auf einmal in einem andern Lichte. Das verwirrte sie und machte sie traurig; sie konnte sich nicht wieder zurechtfinden.
Gerade in diesem Augenblicke führte Walter sein Weg an dem Garten vorüber.
Ach, da sitzt ja Hildchen, dachte er. Nun wird sie gewiß kommen und mich schelten, daß ich gestern die Einladung zum Mittagessen abgelehnt habe.
Aber anstatt ihm entgegenzulaufen, wendete sich Hildchen ab – und doch mußte sie ihn gesehen haben – und redete mit der Freundin. Es sah beinahe so aus, als wolle sie seinen Gruß absichtlich verhindern.
Ich fürchte, daß ich Hildchen gestern beleidigt habe, dachte Walter betreten. Wahrscheinlich hab' ich's nicht richtig angefangen. Ich verstehe so wenig die Art junger Mädchen, und doch schien mir's unpassend, sie noch länger Du zu nennen; auch Herr Baldinger hat mir recht gegeben, wenn ich mich nicht sehr getäuscht habe. Aber lange kann mir das liebe Mädchen ja nicht zürnen.
Doch darin hatte sich Walter getäuscht. Er konnte während der folgenden Woche wohl zehnmal des Tags vorübergehen – niemals stand Hildchen da, um ihn zu begrüßen und ein paar herzliche Worte mit ihm zu wechseln. Es war unverkennbar, daß sie einer Begegnung auszuweichen suchte.
Mit unsrer Kinderfreundschaft ist's also vorbei, dachte er und fühlte dabei einen tiefen Schmerz.
Er hatte es kommen sehen, wie man wohl das Ende aller Freuden kommen sieht; aber seine treue Seele sträubte sich, an das Ende zu glauben. Hildchen ist ein so einfaches, warmherziges Kind, tröstete er sich. Sie ist sich ihres Reichtums noch gar nicht bewußt. Natürlich wird sie die trennende Kluft einmal erkennen; aber vielleicht kann ich noch ein Jahr – ach, wenn's auch nur noch einige Monate wären, die ich so unbefangen mit ihr verkehren könnte!
Nun war die so lange gefürchtete Stunde der Erkenntnis mit einem Male gekommen.
Mit schwerem Herzen begab er sich an seine Arbeit, doch wollte sie ihm nicht wie sonst von der Hand gehen. Der Verkehr mit diesem liebenswürdigen Kinde war der Sonnenschein seines Lebens. Erst in dem Augenblick, wo er Hildchen verlor, fühlte er, wie tief die Liebe zu ihr in seinem Herzen Wurzel gefaßt hatte. Nun war er von ihr getrennt – für immer getrennt! Hildchen war eine reiche Erbin – er ein armer Schulmeisterssohn, der ihrem Vater seine ganze Existenz verdankte. Von heute an verlangte es seine Pflicht, daß er allein die Bahn verfolgte, die ihm vom Schicksal angewiesen war, und sich der kleinen Freundin nicht mehr vertraulich wie sonst näherte. Er lief noch spät am Abend mit großen Schritten durch den Wald, merkte nicht, daß er vom Wege abkam, und kehrte erst nach Mitternacht, durchnäßt vom Frühlingsregen, in sein einsames Zimmer zurück.