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14. Herr Kommerzienrat.

Die Stimmung im Baldingerschen Hause ist völlig umgeschlagen, woraus man ersehen kann, daß das jüngste Glied der Familie eine gar wichtige Person ist; denn Hildchen ist es, die sich nun wieder gleichmäßig heiter zeigt und, wie man sagt, das »Blaue vom Himmel schwatzt«. Sogleich verschwinden auch bei den ältern Personen der Familie alle Wolken des Mißmuts und der Sorge, und überall ist eitel Sonnenschein.

Nach dem Besuche in Kiesberg befindet sich Tante Mile in stimmungsvoller Weichheit, ist aber dabei noch vergeßlicher als gewöhnlich. Sie hat ja nur immerfort dem lieben Gott zu danken für ein solches Kind! »Denn seit Hilde mir vor allen den fremden Leuten versichert hat, daß sie sich ihrer alten Tante niemals schämen würde« – Mile bildet sich wenigstens ein, diese Versicherung gehört zu haben – »weiß ich's, daß ich mir wieder einmal Raupen in meinen dummen Kopf gesetzt hatte. Das Kind wird seine alte einfältige Tante selbst vor dem Kaiser nicht verleugnen, und daß mich die Hilde lieb hat, darauf kann ich mich verlassen, das hat sie bewiesen, und das soll ihr auch nicht vergessen sein.«

Es ist ein schöner warmer Juliabend; die Familie sitzt auf der durch eine Ampel erleuchteten Veranda beim Abendbrote; außer den Hausgenossen nimmt nur Walter Roland an dem Mahle teil. Hildchen mit ihrer wiedergekehrten Lachlust und ihrem muntern Geplauder bildet so recht den Mittelpunkt des vertrauten Kreises, über den eine nicht alltägliche, eine besonders behagliche Stimmung ausgebreitet ist.

Wie sich nur das Mädel auf einmal 'rausmacht! denkt Baldinger mit väterlichem Stolze.

Zu Hildchens Erziehung kann ich mir gratulieren, schmeichelt sich Fräulein Schönchen, die wenige Tage zuvor an ihrem Zöglinge ganz irre geworden ist.

Walter Roland aber ist in einer ganz besonders fidelen Stimmung.

Als Baldinger am Abend die Fabrik verließ und Roland aufforderte, ihn nach Hause zu begleiten, um das Abendbrot auf der Veranda mit einzunehmen, war die Stimmung dieses jungen Mannes noch so finster wie eine pechrabenschwarze Nacht.

Man genießt ja das Vorrecht, sich selbst beleidigen zu dürfen, ohne dem Strafgesetz zu verfallen, und von diesem Vorrechte machte Walter seit einiger Zeit in ausgiebigster Weise Gebrauch. Er nannte sich thöricht, geradezu lächerlich; ja er ging so weit, sich einen »Esel« zu titulieren. Und weshalb überhäufte er seine eigne Person mit diesen Höflichkeiten? Weil er sich unglücklich fühlte.

Man sollte meinen, ein unglücklicher Mensch sei eher geneigt, sich zu bemitleiden. Aber Walter Roland schrieb sein Unglück der eignen Thorheit zu, und deshalb dieser Zorn.

»Du hast's doch längst gewußt, wie es kommen würde – wie es kommen mußte,« sagte er sich. »Es war unglaublich einfältig von dir, daß du dich seit Jahren an den Strahlen eines Glückes gesonnt hast, das ja gar nicht für dich bestimmt ist. Vielleicht willst du dich entschuldigen, du habest niemals an die Zukunft gedacht; aber das ist gar nicht wahr! Du hast Augenblicke gehabt, in denen du dir alles ganz klar und vernünftig gesagt hast. Doch diese vernünftige Ueberlegung hat leider niemals lange vorgehalten. Sobald du wieder Hildchens freundliche Stimme hörtest und in ihre lieben Augen sehen durftest, war's damit vorbei. Ein so dummer Kerl sollte sich wenigstens nicht wundern, wenn er unglücklich wird; er hat's nicht besser verdient!«

In diesem liebenswürdigen Tone war Roland nun schon seit Hildchens Geburtstag mit sich zu reden gewohnt; aber diese Selbstgespräche trugen nicht dazu bei, seine ziemlich schwierigen Arbeiten zu fördern.

Er hat sich selbst so in die Abwehr gedrängt, daß er sich, als Baldinger ihn mitzukommen auffordert, sträubt und allerhand Entschuldigungen vorbringt.

Baldinger nimmt ihn aber entschlossen unter den Arm und sagt sehr bestimmt: »Keine Ausflüchte! Mein kleines Fräulein befiehlt, und da müssen wir beide gehorchen.«

Was war das? Hildchen selbst wünscht ihn wiederzusehen? Aber das ist ja kaum glaublich! Hat sie nicht seit ihrem Geburtstage jede Begegnung mit ihm geflissentlich vermieden?

Ei, wo bleibt da die vernünftige Ueberlegung? Auf einmal ist's, als steige die Sonne, die sich schon stark zum Untergange neigte, wieder aufwärts, und die Welt kleidet sich nochmals in Gold und Purpur.

Davon merkt aber der kleine Chef an seiner Seite nichts; für ihn hat die Dämmerung begonnen.

Doch wenn es auch Abend geworden ist, und wenn sich auch die Sonne nicht noch einmal über den Horizont erhebt, so verbreitet dafür der Mond ein wunderbar glänzendes Licht. So kommt es Walter wenigstens vor, als ihn Hildchen unbefangen begrüßt. Sie blickt ihn mit den hellen Kinderaugen freundlich an und nennt ihn wie sonst Walter. Nur das »Du« ist sie in ein »Sie« zu verwandeln bemüht, was ihr aber noch nicht immer gelingen will, und wenn sie sich verspricht, lacht sie ihn jedesmal schelmisch an.

»Wir haben Ihnen noch Grüße zu bringen, Walter,« sagt Tante Mile und reicht ihm die Hand über den Tisch.

»Mir? Von wem könnten Sie mir Grüße zu bestellen haben?« forscht Walter erstaunt.

»Ja, da raten Sie einmal,« ruft Hildchen lachend. »Sie kommen wohl nicht auf Ihre Mutter und Schwester Lene?«

»Meine Mutter? Meine Schwester? Ich kann nicht recht verstehen, wie?«

»Na, Walter, es brauchte Sie eigentlich nicht zu wundern, daß wir Ihre Mutter endlich einmal besucht haben. Vorgenommen hatt' ich mir's schon lange; aber wenn die Hilde nicht darauf gehalten hätte, wär's doch nicht dazu gekommen.«

Das ist zu viel! O du wetterwendisches Herz! Aus Walters Augen bricht ein Strahl jubelnder Freude. Zum Glück aber verbreitet die Ampel kein helles Licht, und weil er im Schatten sitzt, hat niemand den Strahl bemerkt. Oder vielleicht doch einer?

»Wir haben gestern bei Loritzens einen Besuch gemacht,« erklärt Hildchen, »und da sind wir dann gleich bei Ihrer Mutter vorgefahren. Sie steckte gerade Salatpflanzen, und Lene kam auf der Draisine herbei; sie hatte in der Laube gesessen. Ihre Schwester Lene hat mir sehr gut gefallen, Walter.«

»Und auch das Mutterchen,« fällt Tante Mile ein. »Eine brave Frau! Habe sie übrigens nicht anders erwartet.«

»Und die ist mal stolz auf dich … Sie – wollte ich sagen. Und da haben wir uns erzählen lassen, wie – Sie als kleiner Junge gewesen sind.«

»Nein, wie kann aber nur Mutter so was thun! Das ist eben ein Fehler, den alle Mütter haben, glaube ich. Man darf's ihr nicht zum Vorwurf machen.«

»Das fehlte noch!« rief Hildchen eifrig. »Es war ja so interessant zu hören, wie – Sie – schon als ganz kleiner Junge Maschinen gebaut haben.«

»Na ja, die Hilde säße heute noch da und hörte zu, wenn ich nicht aufgebrochen wäre; 's ist wirklich schade, daß das Mädel keinen Bruder hat. Nichts hört sie lieber als solche Jungengeschichten.«

»Und Sie brauchen Ihre Mutter nicht zu schelten, Walter, die hat am wenigsten erzählt, die hat für uns Milch und Honig und Brot herbeigeschafft; die Lene hat am meisten von Ihnen zu erzählen gewußt, die hat – Sie auch sehr lieb und ist schrecklich stolz auf ihren Bruder.«

»Und unsre Hilde hat einen Appetit entwickelt! Na, ich habe mich nur immer gewundert. Und lustig war sie, als wäre sie bei alten Bekannten.«

»Und sind sie denn nicht so gut wie alte Bekannte für uns, Tantchen? – Aber was ich noch sagen wollte, Ihr jüngster Bruder war auch zu Hause und übte in der Dachstube auf seiner Geige, und Ihre Mutter wollt's ihm immer hinaufrufen, daß er aufhören solle; denn weil er uns nicht kommen hörte, spielte er weiter. Aber ich wollt's nicht leiden; er spielt sehr hübsch Geige. Warum muß er aber zum Tanze aufspielen? Er könnte doch bessere Musik machen.«

»Was?« mengt sich Baldinger ein. »Zum Tanze spielt der Bursche auf? Die beste Gelegenheit, daß er sich das Trinken angewöhnt. Das sollten Sie doch nicht leiden, Roland.«

»Ja, Herr Baldinger, sobald ich so weit bin, den Philipp unterhalten zu können, will ich ihn zu einem ordentlichen Lehrer oder auf das Konservatorium geben, denn er hat Talent; aber jetzt muß er sich noch forthelfen, so gut 's geht.«

Hildchen zupft ihren Papa am Aermel, und dieser nickt mit dem Kopfe. »Papa hat noch was zu sagen,« kündigt Hildchen an.

»Hm! Hildchen hat in Gedanken schon Ihren Bruder auf das Konservatorium geschickt – versteht sich auf meine Kosten. Ich hoffe, daß Sie ihr diesen Wunsch nicht abschlagen werden.«

»Hallo!« kommt plötzlich vom Garten her eine wohlbekannte Stimme.

»Onkel Edi!« jubelt Hildchen und springt so eilig auf, daß ihr Stuhl beinahe umgeworfen wird; sie fliegt ihm entgegen und gleich in seine ausgebreiteten Arme.

Bild: Fritz Bergen

»Onkel Edi!« jubelt Hildchen und fliegt ihm entgegen …

»Ach, Onkel Edi, wie soll ich dir danken!«

»Wofür denn? Für die Predigt?«

»Ja, lieber Onkel. Du mußt mir manchmal so 'ne Predigt halten. Ich will dich auch immer um Rat fragen, wenn ich mir selber nicht zu helfen weiß.« – Und dann berichtet sie, leise redend, mit wenig Worten den großen Erfolg des Besuches in Kiesberg.

»Damit kann ich zufrieden sein,« meint Steinbach. »Am Ende hätte ich Kanzelredner werden sollen. – Guten Abend, meine Herrschaften! Guten Abend, Kommerzienrat Baldinger!«

»Was? Weshalb machen Sie denn schlechte Witze, Steinbach?« forscht Baldinger, springt dabei aber wie elektrisiert vom Stuhle auf.

»Ich wollte mir doch das Vergnügen nicht nehmen lassen, der erste zu sein, der Ihnen zum Kommerzienrat gratuliert. Morgen früh werden Sie das Schreiben offiziell erhalten, daß der Kaiser in Ansehung Ihrer Verdienste …«

»Ist das eine große Ehre, Onkel Edi?« fällt Hilde ein.

»Nun, es giebt schon noch größere Ehren, aber es ist der Anfang …«

»Da bin ich aber wirklich überrascht, Steinbach!« ruft Baldinger mit sehr erfreuter Miene.

»Und was sagen Sie dazu, Tante Mile?«

»Daß der August die Ehre schon lange verdient hat,« meint Mile und trocknet sich dabei verstohlen die Augen.

»Die Ernennung sollte schon zu Ihrem sechzigsten Geburtstage eintreffen, ist aber verschleppt worden,« fuhr Steinbach fort. »Wissen Sie aber auch, was man von Ihnen erwartet, Baldinger? Daß Sie sich in Frankfurt eine hübsche – eigentlich will ich sagen, eine sehr schöne Villa bauen und selbstverständlich auch ein Haus machen.« – Hat jemand geseufzt?« Steinbach blickt hinüber zu Roland, dann zu Tante Mile. Eines von den beiden muß, wenn er sich nicht sehr täuschte, geseufzt haben.

»Nein, Steinbach; mit solchen Vorschlägen verschonen Sie mich,« eifert Baldinger.

»Ja, da kann Ihnen niemand helfen, lieber Freund, noblesse oblige

»Die Sache will sehr überlegt sein,« versetzt Baldinger, und dann wissen alle, daß er nach seinem Willen entscheiden wird. Niemand wagt noch etwas darüber zu sagen.

»Meinst du nicht, Onkel Edi, daß wir Papa mit Champagner leben lassen müssen?«

»Ei, da höre mir einer das Mädchen!«

»So ein Grünschnabel und denkt an Champagner!«

»Na, da kann man sehen, wohin die Verwöhnung führt! Champagner!«

»Den Weinkellerschlüssel hoffentlich nicht verlegt, Mile?«

»Nein, Herr Kommerzienrat; Fräulein Baldinger hat ihn seit jenem denkwürdigen Tage mir zur Aufbewahrung übergeben,« ruft Fräulein Schönchen und erhebt sich eilig. »Befiehlt der Herr Kommerzienrat eine oder gleich zwei Flaschen Champagner?«

»Der Tausend! Sie haben sich wohl den Kommerzienrat schon im geheimen eingeübt, Fräulein Schönchen?« neckt Steinbach.

»Bringen Sie nur gleich drei Flaschen. Müssen doch auch eine für das Souterrain spendieren.«

»Soll alles sofort besorgt werden, Herr Kommerzienrat.«

In den spitzen Gläsern sprudelt und perlt der Schaum, und der helle Klang beim Anstoßen tönt weit hinaus in die Abendstille.

»Warum sehen Sie denn auf einmal so finster aus, Walter?« fragt Hilde und hält ihm ihr Glas zum Anstoßen hin.

»Soll ich nicht traurig sein, Hildchen? Können Sie nicht begreifen, wie einsam es hier draußen wird, wenn Sie alle nach der Stadt gezogen sind?«

»Dann kommen Sie oft herein und besuchen uns. Gelt, Papa, du giebst Walter allemal Urlaub, wenn er uns besuchen will?«

»Woher weißt du denn jetzt schon, Hilde, daß wir nach der Stadt ziehen?«

»Das muß mir ein Heimchen verraten haben, Papa.« – Sie schmiegt sich an ihn. »Mir ist's gerade, als hätte mir jemand gesagt: Kommerzienrat Baldinger wird sich eine Villa bauen, und das wird die schönste Villa in der ganzen Stadt sein.«

»Aber weißt du, was mir ein Heimchen vertraut hat, Hilde?« fragt Steinbach. »Seine liebe Tochter schickt der Kommerzienrat Baldinger in eine Pension; sonst spielt das Kind zu früh die große Dame.«

»Ja, das wird er auch thun; das Vögelchen wird mir zu zeitig flügge; müssen einen Dämpfer aufsetzen,« erklärt Baldinger und erhebt sich. Es ist in der zwölften Stunde.

»Nun gute Nacht, Roland! – Sie bleiben doch die Nacht in meinem Hause, Steinbach?«

So geht die heitere Gesellschaft auseinander. Aber Walter Roland ist, als sie sich jetzt trennen, durchaus nicht mehr so frohgemut wie wenige Stunden zuvor.


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