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4. Die sieben Vettern.

Alle Jahre gab es einige Wochen, wo es in dem sonst so stillen Hause laut und sehr lustig zuging.

Während der großen Ferien kam der Professor Stedden mit seiner Frau Amalie – der Tante Hildchens – und seinen sieben Jungen zum Besuch.

Baldinger hielt es für seine Pflicht, die Verwandten seiner verstorbenen Frau alle Jahre einzuladen; aber wenn sie ankamen, fühlte er ein gelindes Gruseln, und wenn sie nach vier Wochen wieder abzogen, atmete er erleichtert auf und dankte dem Himmel, daß sein Hildchen noch unbeschädigt geblieben war.

Tante Mile lag nach der Abreise der Sommergäste ›auf der Nase‹, wie sich ihr Bruder auszudrücken liebte, das heißt sie lag nach all den Aufregungen und Anstrengungen zu Bett, trank den von ihr hochgeschätzten Lindenblütenthee und versuchte sich durch Schlafen wiederherzustellen.

Am schwersten aber wurde jedesmal Fräulein Schönchen von dem Ferienbesuche betroffen, denn sie fühlte sich für Hildchens Leben und Gesundheit verantwortlich. Schon früh erhob sie sich mit Herzpochen von ihrem Lager, folgte Hildchen auf Schritt und Tritt und erschöpfte sich in Ermahnungen, aber alles war vergeblich. Die Wildheit und Unternehmungslust der sieben Vettern wirkte offenbar ansteckend; Hildchen wurde wie ein wilder Junge und zeigte sich aufgelegt, jeden tollen Streich mitzumachen.

Die Hilfe der Eltern anzusprechen, nützte nicht viel. Der Professor steckte sich am Morgen die Taschen voll Bücher und begab sich in den Wald; er war also schwer aufzutreiben. Frau Professor aber, nachdem sie eingesehen, daß ihre Kräfte nicht ausreichten, die sieben Jungen zu bewachen, hatte sie der Aufsicht ihrer Schutzengel empfohlen und gab Hildchen in den gleichen Schutz.

Es schien wirklich geradezu ein Wunder, daß die sieben Jungen noch lebendig und ›ganz‹ geblieben waren; denn fast an jedem Tage des Jahres geriet mindestens einer von ihnen in Lebensgefahr.

Ehe sie die Schule besuchten, hatten sie die Eigentümlichkeit davonzulaufen, und sobald der Herr Professor oder sein Dienstmädchen auf der Polizei erschienen, wußten die Beamten schon, daß wieder einer der sieben Jungen abhanden gekommen wäre, und fragten nur nach dem Namen.

Ohne Brauschen und blaue Flecke – die Folgen gemütlicher Balgereien – kehrten sie selten nach Hause. Das wagehalsige Klettern der Steddens war in ganz Eisenach bekannt, und hörte man, daß ein Junge von irgend einem Neubau oder einem Baume gestürzt sei, so war die erste Frage: Wohl einer von den Steddens?

Im allgemeinen sind Väter schon nicht so ängstlich wie die Mütter, der Herr Gymnasialprofessor Stedden aber machte sich seiner Jungen wegen gar keine Sorge; denn er lebte nur in der Vergangenheit und war viel besser im alten Aegypten als in Eisenach zu Hause. Griechen und Römer gehörten bei ihm schon zu den modernen Völkern, darum interessierten sie ihn nur wenig.

Wurde ihm freilich einmal einer seiner sieben Jungen brüllend nach Hause gebracht, oder erhob sich vor seiner Studierstube ein mehr als gewöhnlicher Lärm, dann sah auch er sich durch einen plötzlichen Ruck in die Gegenwart versetzt, und das griff seine Nerven ungefähr ebenso an, als es einen Luftschiffer angreift, wenn er sich mit Hilfe eines Fallschirms auf den Erdboden hinunterläßt.

Auch waren die Exekutionen, die er von Zeit zu Zeit vollziehen mußte, nervenangreifend. Wurde nämlich eine solche Exekution notwendig, so begann der Professor, ein Röhrchen in der Hand, mit dem ältesten seiner Sprößlinge, den er am Röcklein festhielt, und zählte ihm das jedenfalls wohlverdiente Strafmaß auf; dann kam der zweite daran und so weiter, bis hinunter zum jüngsten – einerlei, ob schuldig oder unschuldig, jeder erhielt sein Teil zugemessen.

Das Gebrüll war ohrenzerreißend, markerschütternd, und des Professors Arm von der anstrengenden Thätigkeit wie gelähmt. Bis er sich in seine Stube zurückbegeben hatte, bewahrte er noch seine Haltung; dann aber sank er völlig erschöpft auf das Sofa, und die gute Frau Amalie kam schleunigst herbei, ihren armen Mann durch ein Glas Portwein wieder zu stärken.

Baldinger beobachtete die heranwachsende Schar mit Aufmerksamkeit. Weil ihm der Himmel einen Erben versagt hatte, hoffte er, daß sich vielleicht einer der sieben Steddens dazu eignen könnte, in der Zukunft die Fabrik zu übernehmen.

Vor ihrem sechsten Jahre zeigten seine Neffen freilich nur Neigung, Kutscher oder Postillon zu werden, oder sich dem Konditorberufe zu widmen. Als sie etwas älter wurden und in die Periode des Faustrechts eintraten, wollten sie sich am liebsten zu Vaterlandsverteidigern ausbilden. Schließlich griffen sie nach den verschiedensten Berufsarten; nur verriet leider auch nicht einer von ihnen eine technische oder kaufmännische Anlage. Ihr Interesse an Maschinen zeigte sich lediglich darin, daß sie sich zwischen den Schwungrädern und Dampfhämmern in Lebensgefahr brachten.

Bei seiner Vorliebe für die alten Aegypter hatte der Professor, falls ihm Söhne geboren würden, lebhaft gewünscht, den ältesten Ramses, den zweiten Amenhotep und so weiter nach ägyptischen Königen zu benennen; doch da diese Namen als unchristlich verworfen wurden, sah er sich genötigt, sich an den Kalender zu halten. Leider wählte er aber zum Aerger seiner Frau, die kurze Namen bevorzugte, lauter vielsilbige aus: Erasmus, Kornelius, Aurelian, Augustinus, Theodosius, Alexander, und nur der jüngste wurde als Pate des Kaisers Wilhelm genannt.

Sechsundzwanzig Silben auszusprechen, wenn man sieben Jungen rufen muß, verlangt eine Anstrengung, der die gute Frau Professor nicht gewachsen war, und sie fand einen Ausweg durch Kürzung der Namen; in sieben Silben faßte sie den ganzen Reichtum ihres Mutterherzens, und es tönte von ihren Lippen: »Ras, Nel, Jan, Stin, Dos, Lex und Wilm.«

Jetzt versetze man sich aber in Tante Miles Lage! Natürlich wollte auch sie sich an die Kürzungen halten; aber bei ihrer Vergeßlichkeit waren ihr die Silbennamen, wenn sie sie brauchte, niemals gegenwärtig.

Man kann sich ihre Verzweiflung vorstellen, wenn sie zum Beispiel sah, daß Jan auf einen Baum kletterte, in der offenbaren Absicht, sich an unreifen Birnen satt zu essen. Sein Name fiel ihr natürlich zuletzt oder auch gar nicht ein. Vergeblich schrie sie zum Fenster alle einsilbigen Wörter hinaus, die ihr auf die Zunge kamen; solange das Wort »Jan« nicht erschallte, fühlte sich der kleine Bengel völlig berechtigt, auf dem Baume zu bleiben und Birnen zu essen.

Tante Mile gebrauchte für alle sieben Jungen nur einen gemeinschaftlichen Gattungsnamen – sie nannte sie Heuschrecken; Fräulein Schönchen machte daraus: die Heuschreckenplagezeit – und wendete dieses umfängliche Wort für ›große Ferien‹ an.

Die Vergleichung der sieben Steddens mit Heuschrecken war nicht zu weit hergeholt. Man dachte dabei weniger an Aegyptenland, als an ihren namenlosen Appetit.

»In unsrer Speisekammer giebt es keine Reste, weil bei uns noch niemals etwas Eßbares übriggeblieben ist,« erzählte Frau Professor, und Tante Mile war bereit, diesen Ausspruch nach eigner Erfahrung zu bestätigen.

Sie ließ die Schüsseln mit Braten und Gemüse so gefüllt auftragen, daß man wohl meinte, ein Trupp Soldaten müßte genug daran haben; die Heuschrecken aber aßen alles, was ihnen vorgesetzt wurde, mit Begierde aus und ließen auch nicht ein Krümchen übrig.

Frau Amalie, von Hause aus eine sehr gebildete und feine junge Dame, hatte ihren Gatten – wie die Sage ging – nicht gewählt, weil er ihr Herz eroberte, sondern weil er ihr zu einer Zeit, wo sie für die Romane von Ebers schwärmte, so viel von dem alten Aegypten erzählt hatte.

Von der Hauswirtschaft und der Kindererziehung verstand sie nichts, und wenn sich ihr Gatte nicht die meiste Zeit – bildlich gesprochen – im Pharaonenlande aufgehalten hätte, würde er vielleicht eher bemerkt haben, daß es in seinem Hause drunter und drüber ging.

Doch das war nur während der ersten Jahre. Die Umstände erzogen die Frau Professor. Sie mußte mit wenigen Mitteln eine zahlreiche Familie erhalten lernen, und weil sie im Grunde eine tüchtige Frau war, wurde sie praktisch. Auf ein elegantes Aeußere verzichtete sie bei ihren Jungen. Ein feiner Anzug war, das hatte sie die Erfahrung gelehrt, sofort dem Untergange geweiht; Hecken, Mauern und Boxereien besiegelten nur zu schnell sein Schicksal. Gar bald guckten aus den Hosen die Kniee und aus den Aermeln die Ellbogen vor. Zwar hatte Frau Professor mit der Zeit im Einsetzen von Flicken geradezu eine Künstlerschaft erlangt, sie beschloß aber doch endlich, dieser Kunst, soweit es die Verhältnisse gestatteten, zu entsagen, und die Anzüge nur vom festesten, haltbarsten Drell herstellen zu lassen.

Wohl machten die sieben Jungen es möglich, selbst in den »festesten, haltbarsten Drell« Löcher zu reißen. Doch der Widerstand dieses vortrefflichen Stoffes war nicht ganz leicht zu bewältigen, und die Mutter fühlte über den Erfolg ihrer praktischen Einrichtung einen gewissen Stolz und fand sich sehr erleichtert.

Die Moral der sieben Jungen stimmte nicht in allen Punkten mit der landesüblichen überein. Sie erinnerte in den Ehrbegriffen ein wenig an den Korpsgeist einer Räuberbande. Es war unverbrüchliches Gesetz bei ihnen, daß, wenn ein dummer Streich entdeckt wurde, niemals einer den andern verraten dürfte. Daher die schon erwähnten Abstrafungen aller sieben der Reihe nach; die Eltern verzichteten darauf, den Schuldigen zu ermitteln.

Lügen dagegen galt ihnen für verächtlich, und wenn einer der jüngern einmal eine Unwahrheit sagte, so nahmen es sich die ältern Brüder heraus, ihn dafür durchzuprügeln. Ebenso hätten sie stehlen für unehrenhaft gehalten; nur waren ihre Begriffe über das, was ein Diebstahl heißen sollte, nicht ganz unanfechtbar. Die Beeren im eignen Garten und die Aepfel von den überhängenden Zweigen des Nachbargartens zu nehmen, bei einem Spaziergange die Rüben aus dem Felde auszuziehen, galt bei ihnen nicht als Diebstahl. Vergeblich predigte Frau Professor, die in diesen Punkten mit den Söhnen nicht übereinstimmte, dagegen.

Gelang es den ältern Brüdern einmal, ganz im geheimen eine Cigarre zu rauchen oder in einem öffentlichen Lokale, unbemerkt von den spähenden Augen eines Lehrers, ein Töpfchen Bier zu trinken, so wurden sie von den jüngern Brüdern als Helden angesehen. Der Reiz dieses sehr zweifelhaften Vergnügens lag für sie ja nur in der Umgehung des Verbots; denn Bier bekamen sie auch zu Hause, und eine Cigarre verursachte ihnen nur Uebelbefinden.

Vor allen Dingen aber waren die sieben Jungen streitlustig wie Kampfhähne, und nichts war bei ihnen beliebter als Wetten. Hildchen wurde auch von dieser Streitlust angesteckt und verwettete gewöhnlich schon in den ersten Tagen ihr ganzes Taschengeld. In Wermsdorf wurde von den Steddens besonders viel gewettet; die Ursache war, daß sie ihrer Cousine erstlich zu zeigen wünschten, Jungen wüßten stets mehr als Mädchen, und zweitens, ihre Lehrer seien viel besser unterrichtet als Fräulein Schönchen. Diese Ursachen wurden zwar von keiner Seite ausgesprochen, aber sie waren vorhanden. Hildchen kam so ins Streiten hinein, daß sie selbst mit Walter Roland anband, bis sie, von diesem in allen Punkten geschlagen, das Streiten endlich wieder aufgab.

Vor der Ankunft der Verwandten beschwor Fräulein Schönchen jedesmal Herrn Baldinger, Hildchen fortzuschicken, um ihre Gesundheit, ja ihr Leben zu sichern. Baldinger aber fürchtete nicht nur seine Verwandten damit zu beleidigen, sondern er gab auch Hildchens Bitten nach, die sich schon lange vorher auf die sieben Vettern freute. Endlich aber ereignete sich doch ein Fall, der ihn bestimmte, seine Einzige künftig vor den sieben Unholden zu bewahren.

Eine tote Katze war entdeckt worden, und es sollte nun ein feierliches Begräbnis veranstaltet werden. Da Menschen doch eigentlich eine tote Katze nicht betrauern können und die Katzenverwandten dem Trauergeleite wahrscheinlich ausgerissen wären, sollte der alte Nero als Hauptleidtragender, ein schwarzes Band um den Schwanz geknüpft, der Leiche folgen, und dem Hunde paarweise die junge Gesellschaft. Das Katzenbegräbnis war etwas Neues und hatte eine angenehme Abwechslung geboten, deshalb beschloß man, etwas Aehnliches noch einmal aufzuführen, und da man keinen toten Kater herbeischaffen konnte, sollte eine lebende Person seine Rolle übernehmen. Hildchen konnte der Beredsamkeit der Vettern leider nicht widerstehen, sie legte sich auf ein Plättbrett, wurde mit einem Tuche überdeckt und von den ältesten Jungen im Trauerzuge durch den Garten getragen.

Niemand bemerkte etwas von dem seltsamen Spiele, denn gerade an diesem Tage fand sich Pastor Horner mit seiner Frau ein, und weil es geregnet hatte, nahm man den Kaffee im Salon. Fräulein Schönchen aber litt an Migräne und lag in ihrer verfinsterten Stube zu Bett.

Bild: Fritz Bergen

Das Brett kippte um, und Hildchen lag im schlammigen Wasser …

Mit der Zeit begann nun den sieben Jungen das langsame Gehen in Prozession und das Herumschleppen des auf dem Plättbrette liegenden Hildchens langweilig zu werden. Die Träger gingen in immer schnellerm Trab, und die Leidtragenden ebenso hinterher. Auf einmal sprangen einige aus dem Gefolge im hintern Teile des Gartens über einen schmalen Graben, die Träger wollten nicht zurückbleiben und sprangen nach, das Brett kippte um, und Hildchen lag im schlammigen Wasser.

Zwar wurde sie sofort wieder herausgeholt, aber ihr Anblick war so schrecklich, daß die ganze Siebenschar, in Erwartung kommender ›Belohnung‹, schleunig verduftete, während Hildchen heulend und deutliche Schlammspuren auf dem Wege zurücklassend nach dem Hause lief.

Der Schreck, mit dem Fräulein Schönchen von ihrem Lager auffuhr, als Hildchen hereinstürzte, und das Entsetzen, das ihr trotz der Verfinsterung ihres Zimmers der Anblick des Kindes bereitete, gaben ihr den Mut, Herrn Baldinger zu erklären, daß sie entweder ihre Stellung in seinem Hause aufgeben, oder während der nächsten Ferien mit Hildchen fortgeschickt werden müsse.


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