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»Freiheit, die ich meine –«
(von Schenkendorf.)
Unteroffizier von Frielinghausen war für den Herbst zur Oberfeuerwerkerschule in Berlin kommandiert worden. Vorher wurde er ein paar Mal in Vormundschaftsangelegenheiten auf das Amtsgericht bestellt. Es handelte sich um die Neuanlage der paar Hundert Mark, die ihm die Mutter hinterlassen hatte.
Der junge Mensch machte in dem sauberen Ordonnanzanzug einen vorteilhaften Eindruck. Er hatte sich das Fahrige und Schlenkrige in seinen Bewegungen abgewöhnt, seine Gestalt war breiter und männlicher geworden, und auf der Oberlippe begann sich ein kleines Bärtchen zu zeigen. Dabei hatte sein gebräuntes Gesicht den alten, offenen, ein wenig jungenhaft weichen Ausdruck behalten, – alles in allem ein hübscher Kerl, nach dem sich die Frauenzimmer bereits umzudrehen anfingen.
Im Wartezimmer des Amtsgerichts saß neben ihm ein junges Mädchen, sehr einfach und schlicht in tiefe Trauer gekleidet. Die jungen Leute langweilten sich beide gleichmäßig. Es war eine dumme Situation. Man hockte ganz allein in der kahlen Stube und mußte wahre Anstrengungen machen, um immer wieder aneinander vorbeizusehen. 628
Frielinghausen betrachtete das junge Mädchen verstohlen von der Seite. Es war ein hübsches, frisches Ding mit einem lieben Gesicht, das blühend und jung aus der schwarzen Halskrause herausschaute. Sie hielt die Augen gesenkt und starrte unverwandt den staubigen Fußboden an. Der Unteroffizier fand vor allem die langen Wimpern schön, die so beharrlich die Wangen beschatteten.
Da blickte das Fräulein auf und er sah angelegentlich zum Fenster hinaus in die Äste eines alten Lindenbaumes. Dabei fühlte er deutlich, wie das junge Mädchen seinerseits nun ihn musterte. Schließlich gerieten sie in ein Gespräch. Es war ja auch zu töricht, so lange stumm nebeneinander zu sitzen.
Weshalb man hier saß und wartete, darauf kam natürlich die Rede zuerst. Und es war sonderbar, wie gleichartig es ihnen im Leben ergangen war.
Das junge Mädchen hatte Erzieherin werden wollen. Da war plötzlich der Vater, ein pensionierter Oberlehrer gestorben, das Geld zur Vollendung der Studien mangelte, – so hatte sie sich entschlossen, eine Stelle als Handarbeitslehrerin anzunehmen. Im Herbst gedachte sie ihr Amt anzutreten.
Frielinghausen erzählte ihr nun treuherzig sein hartes Geschick. Aber so ganz subaltern wollte er der jungen Dame doch nicht erscheinen. Deshalb schilderte er die Stellung eines Feuerwerkers und besonders die eines Feuerwerksoffiziers mit ziemlich hellen Farben. Sonst blieb er streng bei der Wahrheit. Es war ihm, als ob eine gute Schwester ihm zuhörte, und es tat ihm wohl, von der jungen Leidensgenossin getröstet zu werden.
Sie wurden beide ein zweites Mal auf das Gericht bestellt. Der Zufall wollte es, wiederum fast um die gleiche Zeit. Als sie einander in dem kahlen 629 Wartezimmer wiedersahen, grüßten sie sich mit einem freudigen Lächeln. Sie plauderten abermals wie zwei gute Kameraden, und am Ende hätten sie gewünscht, noch ein wenig länger warten zu müssen.
Frielinghausen war es, der sich mit der Bitte um einen gemeinsamen Sonntagsspaziergang hervortraute.
Das junge Mädchen, Namens Bertha Katz, willigte nach einigem Zögern ein. Der verstorbene Vater hatte fast keine Bekannten in dem Städtchen gehabt, sie selbst war seit Jahren in dem Lehrerinnenseminar gewesen, und was kümmerte es sie schließlich, wenn ihr ein paar böse Jungen etwas Schlechtes nachredeten? Sie stand ja doch im Begriff, in kurzer Zeit die Stadt zu verlassen.
Und zu alledem: sie kam sich eher wie eine mütterliche Freundin vor, der da der hübsche Junge sein Leid klagte. Obwohl er fast genau in ihrem Alter war, konnte sie ihn nicht recht ernst nehmen. Er war noch gar zu unreif, aber sein bedrücktes Herz mochte er ihr immerhin ausschütten.
Sie schenkte Frielinghausen also die drei Sonntagnachmittage, die sie noch in dem kleinen Neste zu verleben hatte, und es konnte ihr keiner inniger dafür dankbar sein als er.
Es war das erste Mal seit dem Tode der Mutter, daß er mit einem Menschen wieder über etwas anderes reden konnte als über Dienst und Pferde, über ruppige Vorgesetzte und stockdumme Kanoniere. Er grub alte Erinnerungen vom Gymnasium wieder aus und schalt sich zuweilen insgeheim, wie wenig er sich in jenen längst vergangenen glücklichen Jahren angeeignet hatte. Fräulein Bertha besaß viel gründlichere Kenntnisse als er, und wenn sie zuweilen unwillkürlich in einen lehrhaften Ton geriet, hörte er wie ein braver Schüler zu.
Die jungen Leute schwatzten miteinander, wie es 630 ihnen ihre unvollendete Bildung gerade eingab. Sie tauschten meist recht unreife Ansichten über Welt und Menschen aus und verweilten durchaus nicht auf den Gipfeln der Weisheit. Aber als Frielinghausen vom ersten dieser Spaziergänge in die Kaserne zurückgekehrt war, wollte ihm der Verkehrston der Kameraden plötzlich ganz und gar unerträglich erscheinen. Es kam ihm nach langer Zeit wieder einmal zum Bewußtsein, wie tief er herabgestürzt war.
Am zweiten Sonntage stellte er sich mit verdüsterter Miene ein. Er wütete gegen sich selbst wegen seines namenlosen Leichtsinns und erging sich in verzweifelten Klagen über sein verpfuschtes Leben. Fräulein Bertha hörte ihn geduldig und aufmerksam an.
Diese wilden Ausbrüche fanden indessen bei ihr nicht das erwartete Verständnis.
»Gehen Sie, Herr von Frielinghausen!« sagte sie, »Sie meinen am Ende, Sie haben's allein so schwer. Glauben Sie denn, daß es mir spaßhaft sein wird, kleine Mädels sticken, stopfen und nähen zu lehren, nachdem ich mich darauf gespitzt habe, Molière und Shakespeare in der Ursprache zu dozieren? Ich finde, das Leben hat uns auch darin ganz gleich mitgespielt. Wir haben Offiziere werden wollen, da ging das liebe elende Geld zu Ende, und wir sind Unteroffiziere geworden. Das ist nun einmal nicht zu ändern. Darum heißt's, nicht mit dem Kopfe durch die Wand wollen, sondern retten, was zu retten ist. Soviel werden meine Augen nach dem Nadelunterricht schon noch hergeben, daß ich mal ein vernünftiges Buch lesen kann.«
»Ja, Sie, Fräulein Bertha,« versetzte Frielinghausen. »Sie werden Ihr Stübchen für sich haben, Sie werden schöne freie Zeit haben, netten Verkehr und alles mögliche. Aber ich habe ja nicht einmal einen Raum, wo ich 631 mal für eine Stunde allein sein könnte, meinethalb um ein Buch zu lesen. Ich bin ja mitten unter das garstige Volk eingepfercht.«
Das junge Mädchen beharrte bei seiner Meinung.
»Doch nicht für immer!« erwiderte es. »Je weiter Sie sich auf Ihrem Wege voranarbeiten, desto mehr bessert sich Ihre Lage. Das muß Ihnen doch allein schon Mut machen, daß Sie vorwärts schauen und nicht ewig rückwärts, wo nichts mehr zu holen ist. Nehmen Sie mal mich dagegen an! Ein ganzes Leben lang nichts als stricken, sticken und stopfen! Ich hätte Grund zu verzweifeln!«
Sie sprach ihm in ihrer herzlichen Art guten Mut zu und redete ihm ein Langes und Breites davon vor, wie unrecht seine Mutlosigkeit und seine Energielosigkeit wäre.
Noch am Abend dieses zweiten Sonntags setzte sich Frielinghausen hinter seine Bücher. Als die letzten der Kameraden schon längst lärmend den Schlafsaal aufgesucht hatten, studierte er noch, die Finger in die Ohren gesteckt und die Augen auf das Buch gesenkt, um nichts außer seinem Lernstoff zu hören und zu sehen. Erst als das ärarische Petroleum in der Lampe ein Ende nahm, ging er zur Ruhe.
Die ganze Woche hindurch war er so pflichteifrig und so lebendig in seinem Dienste, daß Wegstetten wieder einmal auf ihn aufmerksam wurde. Der Hauptmann war in den letzten Monaten einigermaßen enttäuscht von seinem Schützling gewesen. Er hatte irgend etwas Außerordentliches von ihm erwartet, aber das war nicht eingetreten. Frielinghausen war eben doch im öden Durchschnitt der neuen Umgebung untergegangen und mehr als »sehr gut« konnte er ihm auch nicht in das Führungszeugnis schreiben. Nur meinte er, dieser plötzliche glühende Eifer hätte nur etwas zeitiger kommen müssen, 632 nicht erst, als der junge Mensch im Begriff war, nach der Oberfeuerwerkerschule abzugehen. Gleichwohl freute er sich, den Unteroffizier loben zu können, und er hielt mit seiner Anerkennung nicht zurück.
Frielinghausen erschien zum dritten und letzten Sonntagsspaziergang sehr feierlich gestimmt am Stelldichein.
Nach einigem verlegenen Schweigen machte er Fräulein Bertha Katz einen klipp und klaren Heiratsantrag. Er war gerade neunzehn Jahre alt.
Diese Ehe sollte natürlich nicht sofort geschlossen werden. So unvernünftig war er nicht. Nein, – er bat die Lehrerin um nichts weiter, als daß sie auf ihn warten sollte, daß sie sich wenigstens nicht anderweitig binden sollte. Als Feuerwerksleutnant erst wollte er als ernsthafter Freier auftreten.
Das junge Mädchen hatte die größte Lust, hell aufzulachen. Aber andererseits war dieser spaßhafte Heiratsantrag so rührend ernst gemeint, daß sie nicht einmal den Mut fand, ihm von vornherein jede Hoffnung abzuschneiden. Sie erwiderte, ja, sie wollte schon gern warten; denn daß jemand anders um sie, um ein armes Mädchen, anhielte, das sei ja ganz ausgeschlossen.
Von Liebe oder auch nur von Zuneigung hatte Frielinghausen gar nicht geredet. Wie er durch sie aus der Gefahr errettet worden sei, in der Roheit und Unbildung der Kameraden unterzugehen, wie sie ihn wieder auf den rechten Weg geführt habe und wie er hoffe, an ihrer Seite diesen rechten Weg immerdar zu gehen, das schilderte er in seiner sonderbaren Brautwerbung. Er wollte sie gleichsam heiraten, um eine andere sorgende und behütende, ratende und tröstende Mutter zu haben, der er ganz gewiß keinen Kummer machen würde.
Als sie ihm ihren Bescheid gab, drang er nicht 633 weiter in sie. Er war mit dieser Antwort zufrieden. Es fiel ihm auch nicht ein, beim Abschied seine »Braut« um einen Kuß zu bitten. Mit einem einfachen, festen Händedruck gingen sie auseinander, er nach Berlin zur Oberfeuerwerkerschule, sie in die kleine Stadt im Tieflande, um die Mädchen stricken und nähen zu lehren.
»Schreiben Sie mir doch, bitte!« sagte sie zuletzt noch. Es interessierte sie, was aus dem jungen Menschen werden würde, wie lange er ihr »Bräutigam« sein würde.
Sogleich in den ersten Tagen schrieb ihr Frielinghausen einen langen Brief. Von dem Fenster, an dem er saß, konnte er die Menschenflut beobachten, die ununterbrochen aus dem Lehrter Bahnhof und wieder zurück strömte. Da gab es zu sehen! Es dauerte geraume Zeit, bis der Brief zu Ende geführt wurde.
Dann begann der Unterricht. Er schrieb, man müßte sich dabei gewaltig zusammennehmen und sich gehörig vorbereiten. Deshalb wurden auch die Briefe immer kürzer. Schließlich wurden Ansichtskarten daraus. Großenteils stellten sie ein Ball- und Gartenlokal in Pankow dar. Und auch die blieben aus.
Nach zwei Jahren erhielt die Handarbeitslehrerin eine auf Büttenpapier gedruckte Vermählungsanzeige. Sie hatte ihre eigene Verlobungsepisode fast vergessen, der »Bräutigam« offenbar auch. Walter Freiherr von Frielinghausen und eine Frau Minna Victoria Freifrau von Frielinghausen, geborene Kettke, empfahlen sich als Vermählte.
Frielinghausen hatte seine Entlassung aus dem Militärdienst durchgesetzt. Er schützte die Folgen eines alten Kniescheibenbruches vor, den er vordem ängstlich verheimlicht hatte. Minna Victoria aber war die dereinstige Erbin des Pankower Vergnügungsetablissements, und Walther Freiherr von Frielinghausen repräsentierte 634 als Schwiegersohn des etwas unmöglichen Papa Willi Kettke den Wirt. Er ging durch die Stuhlreihen, in einen noblen schwarzen Rock gekleidet, und zeichnete einzelne, besonders wohlhabend ausschauende Gäste mit einer leichten, höflichen Verbeugung aus. Dann stand er mit der Gebärde eines Fürsten in der Nähe der Bierausgabe, und die Kellner und Köche, die Büfettmamsells und Küchenmädchen hatten Respekt vor ihm. Er wurde dick, und Minna Victoria mußte ihm zuweilen eine Szene machen, wenn er eine der eleganten Damen, die das Lokal beehrten, allzu intim begrüßte.
Die sechste Batterie des Osterländischen Feldartillerie-Regiments hatte aber Gelegenheit, nach seinem Ausscheiden einen anderen Unteroffizier zur Oberfeuerwerkerschule zu kommandieren, – Gustav Weise. Hauptmann von Wegstetten war mit Weise wohl zufrieden, er hatte in ihm eine bleibende Eroberung für König und Vaterland gemacht. Aber Weise neigte – was man bei dem früheren Sozialdemokraten eigentlich nicht hätte erwarten sollen – zu Übergriffen gegen die Untergebenen, und deshalb war der Batteriechef auf die Idee gekommen, ihn zur Feuerwerkerkarriere zu überreden. Der Unteroffizier hatte einen hellen Kopf; so ließ sich erwarten, daß er seinen Weg machen würde.
Unter diesen Umständen verfluchte Weise immer mehr die Stunde, in der er sich seinerzeit diese albernen Krakeleien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf den Arm hatte tätowieren lassen. Es verursachte jedesmal Verdruß, wenn ein Kamerad die Enden der Zeichnung unter dem Ärmel hervorgucken sah und dann das Ganze sehen wollte.
Eines Tages sah er in der Wilhelmshavenerstraße ein Schild »Dr. Büchsenstein. Spezialarzt für 635 Hautkrankheiten u. s. f.« Er meinte, der müßte ihm helfen können, und ging in der nächsten Sprechzeit hinauf.
Der Arzt, ein kleiner Herr mit dunklem Kraushaar, war erstaunt, als der Unteroffizier den Arm entblößte, und als der Patient mit dem Anliegen herausrückte, die Tätowierung wegzuätzen, konnte er sich des Lachens nicht ganz enthalten.
»Ja, lieber Freund,« sagte er, »da kann ich nichts tun. Das läßt sich nicht »wegätzen«. Übrigens tragen Sie ja den Königlichen Unteroffiziersärmel über der Revolution. Und wenn Sie ein übriges tun wollen, dann streichen Sie dick Lanolin auf und pudern Sie mit Reismehl darüber. Dann sieht man's nicht so.«
»Ich danke, Herr Doktor,« versetzte Weise aufstehend. »Was ist meine Schuldigkeit?«
»Aber nichts, lieber Freund!« sprach der kleine Arzt lachend. »Es war mir ja ein so großes Vergnügen!«
Und der Unteroffizier ging zur nächsten Drogenhandlung, kaufte sich die größte Tube Lanolin, die es gab, dazu ein halbes Pfund Reismehl.
* * *
Der Festungsgefangene Wolf wollte seinen Augen nicht trauen, als er seinen früheren Kameraden Vogt in der grauen Drillichkleidung erblickte.
Es wurde zum Arbeitsdienst angetreten. Vogt stand am Ende der Reihe, Wolf war unter den ersten vom rechten Flügel herein. Es war ganz unmöglich, sich einander zu nähern. Außerdem war es streng verboten, ein Wort laut werden zu lassen.
Die Wache trat ins Gewehr, und eine Anzahl Wachmannschaften nahm die vorgeschriebenen Plätze rings um die Gefangenen ein. Es wurde den Häftlingen jederzeit unter die Nase gerieben, daß diese Posten scharfgeladene Gewehre auf der Schulter trugen und daß im Falle eines 636 Fluchtversuches nicht gefackelt werden würde. Ein dreimaliges »Halt!«, wer dann nicht stand, auf den wurde geschossen.
Der aufsichtführende Unteroffizier machte seine Meldung. Darauf wurde das Torschloß aufgeschlossen, und die schweren Torflügel öffneten sich.
Im Hof hatte die Sonne nur das oberste Stockwerk des einen Flügels beschienen, und innerhalb der hohen Mauern war es kühl und frostig gewesen. Wie aus einem Schachte sah man den klaren Himmel zu Häupten glänzen. Nun trat man wirklich in den Sonnenschein hinaus, man fühlte die Wärme der hellen Strahlen.
Der kleine Zug der Festungsgefangenen bewegte sich an der Rückseite der Gebäude entlang, um ja nirgends ein Aufsehen zu erregen. Er drückte sich an Stallgebäuden und fensterlosen Arsenalschuppen vorüber und betrat den großen Exerzierplatz der hauptstädtischen Garnison auf einem Seitenpfade.
In der Zeit von den Herbstübungen bis zum Frühjahr lag die riesige Fläche menschenleer da. Die Einzelausbildung der Truppen vollzog sich in den Kasernen, und erst nach der Beendigung der Rekrutenbesichtigungen wurden die Übungen auf den großen Platz verlegt.
Die Festungsgefangenen waren dazu kommandiert, alles für den Frühling wieder in Ordnung zu bringen, was etwa im Sommer Schaden genommen hatte. Sie beseitigten die Unebenheiten des Bodens, indem sie hier Löcher ausfüllten, dort Erhöhungen abtrugen, sie zogen neue Gräben als Einfriedigung des Vierecks und befestigten neuerdings die Kugelfänge auf den nahegelegenen Schießständen. Vor allem aber war ein hoher Hinderniswall frisch aufzuschütten und dahinter eine tiefe Grube zu graben, beides für die Fahrübungen der Artillerie. Das gab eine unsäglich mühsame Arbeit. Der 637 Boden bestand bis zu einer Tiefe von mehreren Metern hinab aus klarem, feinem Sand. Man stand bis über die Knöchel darin und lud Schubkarren auf Schubkarren mit der Schaufel voll, – aber unten in der Grube kam man nicht tiefer, und oben auf dem Wall bemerkte man kein Höherkommen. Es war, als ob man unter Wasser schöpfte und es oben wieder ausgösse.
Wenn die Gefangenen keuchend die Karren auf den steilen Laufbrettern emporgeschoben hatten und oben von dem Walle in die Grube zurückblickten, schien der Sand neben ihnen langsam wieder hinabzurieseln. Sie blickten mit verzweifelten Augen in das unergründliche Loch hinab, in dem die graugekleideten Menschen stumm ihren Frondienst verrichteten, und wischten sich seufzend den vergeblichen Schweiß von der Stirn. Dann nahmen sie die Tragbänder wieder um die Schultern und rannten den Karren nach die abschüssigen Stege wieder hinunter. Vor dem Untertauchen in die Grube sandten sie noch einen Blick ringsum. Da war nichts als die gelbe sandige Fläche, in der Richtung, wo die Kasernen lagen und wo sich weiterhin das Häusermeer der Stadt ausbreitete, ein karger Fichtenwald und an den Seiten der Grube die Posten, deren Gewehrläufe in der Sonne blitzten. –
Wahrend des Arbeitsdienstes ließ es sich leichter bewerkstelligen, daß man sich einander näherte.
Als Vogt und Wolf zum ersten Male aneinander vorübergingen, der eine seinen Karren emporschiebend, der andere hinter dem leeren Karren wieder abwärts in die Grube trottend, grüßten sie sich mit einem traurigen Nicken. Darnach fügte es sich, daß sie nebeneinander den losen Sand in ihre Karren schaufelten. Es war zwar verboten zu sprechen, aber es gab eine Art, die Worte ganz leise und fast ohne die Lippen zu bewegen vor sich 638 hinzumurmeln, daß man sich gleichwohl verständigen konnte.
»Wie kommen Sie hierher?« war Wolfs erste Frage.
Vogt gab ihm Auskunft, unzählige Male durch den Zwang der Arbeit unterbrochen. Wenn er dann sein Fuder Sand oben ausgeschüttet hatte, pürschte er sich stets wieder in die Nähe des Regimentskameraden. Endlich hatte er die Geschichte seines Verbrechens zu Ende erzählt.
Er ließ die Schulter hängen und schloß: »So war's, und kein Haar anders.«
Wolf stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus, so daß sich der Wachposten aus seinem faulen Hinschlendern jäh herumdrehte.
Der arme Kerl tat ihm herzlich leid, – aber war das nicht ein neues Beispiel dafür, daß die Sozialdemokratie gar nicht groß zu werden brauchte? Daß ihr die reifen Früchte ganz ohne eigenes Zutun in den Schoß geschüttelt wurden? Dieser Vogt, der bravste Soldat, der gefügigste Mensch, der einen Posten in der Leibgarde der Stützen der Monarchie verdiente, karrte hier zwischen Dieben und Raufbolden! Und neben ihm, dem blutroten Sozialdemokraten!
Und dann hörte er Vogt weiter erzählen von den wenigen Bekannten in der Batterie, jeden Tag ein Bruchstück, an manchem kaum ein paar abgerissene Worte.
Weise trug die Unteroffizierstressen! Dieser ewig unsichere Kantonist! Dieser Leisetreter, der aller Welt zum Munde redete, wie es gerade der augenblickliche Vorteil verlangte! Dieser Schwätzer, der es nur seinem flinken Mundwerk zu verdanken gehabt hatte, daß er oben in der Fabrikstadt sich als Vertrauensmann der Gewerkschaft brüsten konnte! 639
War das nicht eine verkehrte Welt?
Aber nein. Bei Weise stimmte die Rechnung aufs Haar. Diese ausgemachte Lakaiennatur war da gerade auf den richtigen Platz geraten. Der kleine Hauptmann von Wegstetten würde sich keinen Unteroffizier denken können, der besser seinen Bestrebungen nachkam oder inbrünstiger um die Zufriedenheit des Batteriechefs warb – als Gustav Weise. Der Mann stand dort, wohin er gehörte.
Wenn er bei der Sozialdemokratie ausgehalten hatte, – dachte Wolf bei sich, – würde er eben der gefügige Lakai irgend einer Parteigröße geworden sein. Verlaß auf ihn war nirgends, weder hier noch dort.
Wie anders war es mit Vogt, diesem Bauern, dem die Ehrlichkeit und eine verständige Treue gerade aus den ruhigen, grauen Augen schaute! Wenn der sich einmal zu einer Partei geschlagen hatte, dann war er ein sicherer Mann.
Und Wolf begann ihn zu bearbeiten.
Diese hastig zugeflüsterten Schlagworte von der großen Ungerechtigkeit und Unterdrückung der Gegenwart und von der wunderbaren Gleichheit und Freiheit der Zukunft mußten ja um so länger nachklingen und um so nachhaltiger wirken, je schärfer sie durch die harte Gefangenschaft beleuchtet wurden. Zwei Menschen, die sich mit gutem Gewissen von jeder Schuld freisprechen durften, waren hier mit ehrlosen Verbrechern eingesperrt und karrten, wie diese, Sand.
Der Bauer gab das ohne weiteres zu. Wolf und er, sie duldeten die Strafe unverdientermaßen. Und auch sonst war die Welt voll Ungerechtigkeit.
»Dann gehören Sie ja zu uns,« sagte Wolf.
Vogt fragte zurück: »Wieso? Zu euch?«
»Nun, Sie sind Sozialdemokrat.« 640
»So?« meinte Vogt. »Das kann sein. Ich weiß es nicht.«
»Doch, wenn Sie so denken, dann ist es schon so.«
»Ja, ich will doch aber gar nichts wie eine Revolution oder etwas Ähnliches. Es ist mir doch ganz egal, ob wir einen König haben oder eine Republik. Ich will nur, daß ich meine Arbeit habe und daß ich damit soviel schaffe, wie ich brauche. Im übrigen mögen sie mich möglichst ungeschoren lassen!«
»Eins kommt mit dem andern,« erwiderte Wolf. »Wenn es besser werden soll, muß eben auch die Regierungsform eine andere sein.«
Er flüsterte ihm weiter zu von der Verbrüderung, die alle Völker der Erde umspannen sollte, so daß es keinen Krieg und keine Soldaten mehr geben würde. Wer war das anders als die Fürsten, die diese schöne Vereinigung noch hinderten? Die Völker wollten ganz gewiß den immerwährenden Frieden. Der Druck der Gefangenschaft gab ihm große, gewaltige Worte ein, an denen er sich selbst berauschte und die schließlich auch den nüchternen Verstand Vogts verwirrten.
Der Bauer nickte: »Ja, ja. Das wäre schön!«
Er vermochte sich keine rechte Vorstellung von diesem Zukunftsbilde zu machen. Alle Menschen Brüder? Kein Streit und kein Krieg mehr? Keiner, der dem andern zu befehlen hatte, keiner, der Zins und Steuer verlangen durfte? War das wohl möglich?
Aber der andere sprach so überzeugt, so sicher davon, daß man gar nicht zweifeln konnte. Das also wollten die Sozialdemokraten, vor denen einem immer bange gemacht wurde, daß sie alles vernichten und zerstören wollten?
Gewiß, Recht hatten sie. Es sollte ja dann nur besser, schöner werden! Und dafür einzutreten, das lohnte 641 der Mühe! Dafür durfte man getrost, wenn es sein mußte, auch sein Leben einsetzen! –
Es war auf dem Wege vom Arbeitsplatz nach dem Gefängnis. Wolf schritt neben Vogt in der Reihe. Der lange, hagere Mensch schien nur mehr Haut und Knochen zu sein. Die Wangen waren ihm eingefallen, und die Glieder schlotterten in dem grauen Zeug. Aber seine Augen leuchteten und glühten, als ob er ein inneres Fieber hätte, und um seinen Mund lag ein stolzes Lächeln.
Vogt nickte ihm zu. Ein festes Gelöbnis war in dieser Gebärde ausgedrückt.
Der kleine Trupp der Gefangenen langte am Tor an. Ein heftiger Regenschauer trieb sie in den gewölbten Torweg hinein. Sie standen eng aneinander gedrängt, bis das Tor geöffnet wurde.
Da fühlte Vogt plötzlich Wolfs Hand die seine fest erfassen.
»Ich glaube, wir sind nun einig, Genosse,« hörte er den anderen flüstern. »Wollen wir uns nicht du nennen?«
Und der Bauer gab ihm den starken Druck zurück und antwortete: »Ja, Kamerad.« – –
Die Tage der Gefangenschaft glichen einander. Wie eine Kette von ganz gleichgeschmiedeten Gliedern glitten sie vorüber.
Aber über den großen Platz sank ein immer grauerer Herbsthimmel herab, der zuweilen naßkalte Güsse auf den glatten Sandboden herabschleuderte. Dann schimmerte es an einem Morgen blendend hell durch die kleinen Zellenfenster. Es war Winterschnee gefallen.
Der November ließ sich rauh an. Die harte Kälte kroch durch die dicken Mauern des Festungsgefängnisses, und die Gefangenen bebten unter den dünnen Wolldecken vor Frost. Wenn draußen der Boden gefroren war, daß 642 weder Spitzhacke noch Spaten eindringen konnte, bekamen sie Strohmatten zu flechten oder Säcke zu nähen.
Dann fluchte Vogt: »Zum Teufel! Hätte ich doch damals die Knie durchgedrückt! Was ging's mich an, daß der Leutnant ein so hochnäsiges Gesicht zog?«
Er schaute nach dem bleigrauen Himmel, der durch die vergitterte kleine Scheibe hindurchblickte. Das harte Arbeiten in der freien Luft hatte er leicht ertragen, aber wenn er in der engen Zelle sitzen mußte, meinte er manchmal elend ersticken zu müssen.
Eine Schar Tauben strich regelmäßig um die Mittagszeit vom Dache abwärts am Fenster vorbei. Die Tiere mußten irgendwo in der Nähe ihren Schlag haben und schienen auf Küchenabfall oder etwas Ähnliches zu lauern. Vielleicht waren sie auch verwildert und nisteten draußen im Forste.
Der Gefangene war glücklich über diesen flüchtigen Gruß des freien Lebens draußen. Gottlob waren auch die ersten drei von den fünf Monaten nun überstanden. Im Januar kehrte er in die Garnison zurück. Dann hieß es noch die zwei ausstehenden Monate nachdienen, und im März, gerade in den ersten Frühlingstagen, wurde er frei.
Aber vorher noch, in den ersten Dezembertagen, kam eine schlimme Nachricht von außen zu ihm.
Der Vater war tot. Und schlimmer noch: er war schon begraben, als der Sohn sein Sterben erfuhr. Aber so war es der Wille des Alten gewesen.
Es hörte sich wie eine erfundene Geschichte an, was dem Festungsgefangenen Vogt von dem Vorstand des Festungsgefängnisses, einen kränklichen, kleinen Infanteriehauptmann, in dem Verwaltungsdienstzimmer mitgeteilt wurde.
Der Ortsvorsteher von daheim hatte sich selbst auf 643 den Weg gemacht und berichtete dem Sohne den Tod des Vaters. Er stand groß, dick und stark in seinem schafpelzgefütterten Mantel in dem Zimmer. Mit ihm schien eine freiere Luft hereingeströmt zu sein.
Und er erzählte, was geschehen war.
Man wußte nicht einmal gewiß, wann der Chausseegeldereinnehmer gestorben war.
Mit dem Scheiden des Sommers war der Greis immer mehr verfallen. Man hatte es ihm bei den herbstlichen Verrichtungen, bei dem Einbringen des Spätheus und der Kartoffeln und bei der Neubestellung der Äcker für die Saat, nur zu deutlich angemerkt, wie sehr ihm das Alter mitspielte. Die Arbeit ging ihm langsam und mühevoll von der welken, kraftlosen Hand. Die Nachbarn sahen ihn oft, auf die Hacke oder auf den Pflug gestützt, verschnaufen und lange müßig vor sich hinstarren.
Trotzdem lehnte er es ab, eine helfende Kraft zu dingen. Allein, wie vorher schon, versah er sein Hauswesen und das Vieh. Als dann die kalte Witterung zum Einstellen der Feldarbeit zwang, bekam ihn überhaupt niemand mehr zu sehen. Das Einnehmerhaus lag mit versperrten Läden wie ausgestorben da. Nur die dünne Rauchsäule, die am Morgen und um die Mittagszeit von der Esse aufstieg, verriet, daß ein Leben darin vorhanden war.
Die Dorfkinder schlichen bereits scheu an dem Häuschen vorüber. Sie erzählten sich, daß der alte Vogt mit einer Flinte hinter der Tür stände und jeden Eindringling totschieße, und selbst die frechsten Buben wagten nicht mehr, mit Steinen nach der stets verschlossenen Tür zu werfen, als eines Tages der Chausseegeldereinnehmer auf die Schwelle getreten war, mit langem, zerrauftem weißen Haar und Bart und mit einem mächtigen Stecken drohend.
Dann kam der strenge Frost des Vorwinters. Er 644 versenkte die Felder und Wiesen in jene stillfeierliche Ruhe, die von der schlummernden Erde ausgehend auch die bäuerliche Bevölkerung ergreift. Das ganze Dorf schien in der trüben, bereiften Dämmerung dieser Novembertage zu schlafen.
Da erzählte der Molkereiknecht, beim Chausseegeldereinnehmer hätte nicht wie sonst der Milchkrug im Hoftor gestanden.
Der Buchhalter in der Genossenschaft strich für diesen Tag den Anteil des Teilhabers Friedrich August Vogt. Es war am Ende nichts Besonderes daran. Vielleicht hatte sich der alte grämliche Sonderling Butter machen wollen. Die Bauern hielten es für eine seiner neuen Launen.
Mittags fuhr einer am Einnehmerhause vorüber ein paar Zentner Getreide zum Windmüller. Die Räder knarrten auf der hartgefrorenen Straße, die Pferde dampften. Es fiel dem Bauern ein, sich nach dem Hause umzudrehen. Es war Mittagszeit, und doch stieg kein Rauch aus der Esse hervor. Kochte der alte Vogt nicht einmal mehr? Wenn er auch sich das warme Essen absparte, mußte doch das Vieh sein warmes Futter haben.
Bei der Heimfahrt hörte derselbe Bauer die Kühe brüllen, unablässig und schmerzlich. Er erzählte es abends im Wirtshaus.
Da steckten die Nachbarn die Köpfe zusammen. Sollte der Chausseegeldereinnehmer gar krank geworden sein? Die Neugierigsten stapften von der warmen Gaststube aus auf die Chaussee in den eisigen Ostwind hinein. Sie standen in ihre Schafpelze gehüllt vor dem Einnehmerhaus. Nirgends war eine Spur Licht zu erblicken. Der Sturm pfiff über die Hochebene hin, und zwischen seine heulenden Stöße hinein klang das klagende, dumpfe Brüllen des Viehs. Man vernahm deutlich, wie die 645 drei Kühe gewissermaßen einander ablösten: wenn die eine aufgehört hatte zu brüllen, hob die andere und darauf die dritte an, kläglich und schon ein wenig heiser.
Die Bauern klopften an die Tür und an die Fensterläden. Alles blieb still, nur der Wind blies jammernd um das freistehende Gebäude. Da trollten sich schließlich die Nachbarn heimwärts. Der Sturm schnitt ihnen die Vermutungen vom Munde ab, und zuweilen flog ein abgerissener Ton, der wimmernde Schrei eines Tieres, an ihnen vorbei.
Am nächsten Morgen fehlte abermals der Milchkrug. Abermals blieb die Esse ohne das lebendige Rauchwölkchen. Der Molkereiknecht hatte mit der Peitsche geknallt, lautschallend mit dem Stiel an das Hoftor und an die Haustür geschlagen und keine Antwort erhalten.
Da wurde der Ortsvorsteher benachrichtigt. Er nahm den Gendarm mit und den Schmied, der nebenbei Schlosserarbeiten verrichtete. Und das halbe Dorf lief hinterdrein und umstand das Einnehmerhaus in einem dichten Kreise, so daß der Gendarm Mühe hatte, die Kinder und Weiber von der Haustür fern zu halten.
Das Brüllen des Viehs hatte sich in ein dumpfes Stöhnen verwandelt. Dazwischen hörte man, wie die Kühe rasend an den Ketten rissen.
Der Vorsteher pochte mit der Faust an die Tür und rüttelte an der Klinke.
»Herr Vogt!« rief er, »Herr Vogt! Machen Sie auf!«
Und nochmals: »Herr Vogt! Herr Einnehmer! Machen Sie doch auf!«
Und der Gendarm, ein alter Kriegskamerad des Chausseegeldereinnehmers setzte hinzu: »August! Mach' doch auf! Oder gib ein Zeichen, wenn du krank bist!«
Alles blieb still. Die Läden waren geschlossen, das 646 ganze Haus schien zu schlafen. Nur vom Stall her stöhnten die Kühe. Sie rasselten wilder mit ihren Ketten, als hätten sie die Rufe gehört, die ihren Herrn nicht wecken konnten.
Der Ortsvorsteher rüttelte zum letzten Male an der Tür und horchte, das Ohr an das Holz gepreßt. In dem steinbelegten Flur klang nichts als das Schütteln des Schlosses wieder.
Da sprach er zum Schmied: »Gühne, dann brechen Sie auf!«
Der Schmied nahm sein Schlüsselbund und hatte bald das Schloß zurückgedreht. Aber die Tür öffnete sich nur ein par Finger breit. Eine eiserne Schiene war quer vorgelegt.
Nun kletterte der Vorsteher, ein rüstiger Mann, über das Hoftor. Alles war gleich sorgfältig verwahrt, die Stalltür und der Hauseingang vom Hofe her. Als er mit seinen schweren Schritten dem Stalle näher kam, hielten die Kühe lauschend mit Brüllen inne, und begannen wie rasend an ihren Halfterketten zu reißen, als er sich wieder entfernte.
Der Vorsteher hob den Sperrbalken aus und öffnete das Hoftor. Er ließ zwei junge Burschen an den Torpfeilern Posto fassen, um die hereindrängende Menge zurückzuhalten. Dann beriet er sich mit dem Gendarmen. Die Fenster der Rückseite waren nicht durch Läden geschützt. Man mußte nur eine Scheibe eindrücken.
Klirrend fielen die Glassplitter auf die Fliesen des Flurs. Der Gendarm griff durch die Öffnung und schob den Wirbel zurück. Dann stieg er zuerst ein, hinter ihm der Vorsteher.
Die Menge vor dem Hause verharrte in atemloser, schweigender Neugierde.
Die beiden Beamten schritten durch den Flur. Der Gendarm klinkte die Küchentür auf. Es war eisig kalt 647 darin. Auf der Herdplatte lag eine Handvoll kleingespaltenes Brennholz. Daneben die Streichholzbüchse, zum Feueranzünden bereit gestellt.
Die Einnehmerstube, vorn neben der Haustür, war durch die vorgelegten Läden verdunkelt. Eine ganz leise Spur von Lampendunst schwebte noch über dem finsteren Zimmer, ein seltsam banger, eingesperrter Hauch drang durch die geöffnete Tür heraus, wie aus einer Gruft.
Dort saß der Einnehmer am Tische – tot. Der Kopf war ihm vornüber auf die Holzplatte gefallen. Der Körper hockte starr und steif in dem eng herangerückten Stuhle, der Arm, auf den er das Kinn gestützt haben mochte, stand noch in die Höhe, halb in der Lähmung des Todes, halb in der eisigen Kälte erstarrt. Vor dem Toten waren allerhand Papiere ausgebreitet, Rechnungsbücher und vergilbte Zeugnisse, noch aus der Militärzeit des Einnehmers herrührend. Daneben waren Pappkisten voll Geld aufgereiht, jedes mit einer sauberen Aufschrift versehen: Milchkasse, Getreidekasse und Viehkasse. Der Greis hatte sie aus einem Kasten genommen, der ausgeräumt vor ihm stand. Auf dem Boden des Behälters lagen die Orden und Ehrenzeichen.
Der Gendarm legte dem Toten die Hand auf die Schulter und sagte: »Hast dir dein Kreuz noch einmal angesehen, alter Kamerad, nicht wahr? Und dabei bist du eingeschlafen.«
Die beiden Männer legten das Geld und die Papiere in den geräumigen Kasten zurück, und der Ortsvorsteher schloß ihn in einen offen stehenden Schrank. Den Schlüssel zog er ab.
»Wir müssen nachher alles versiegeln,« sagte er.
Der Gendarm nickte und schlug die Läden zurück Das helle Tageslicht fiel auf das wirre weiße Haar des Kopfes und kroch an den wachsbleichen Schläfen hinunter. 648 Die beiden Hände streckten sich mit dürren und fleischlosen Fingern aus, die eine auf der Tischplatte, die andere, aufgestützte, in die leere Luft.
Die Beamten schauerten in ihren dicken Mänteln zusammen, vor Frost und vor Grauen.
Der kalte Schein des Wintertages kroch weiter in die Ecken der Stube und spähte sie aus.
»Da liegt noch etwas!« rief der Gendarm plötzlich. Er wies auf ein zusammengefaltetes Papier, das auf einem Tischchen neben der Tür recht eigentlich in die Augen fiel.
»Mein letzter Wille. Sofort zu eröffnen!« stand darauf mit der etwas ungefüg und zitterig gewordenen klaren Schreiberhand des Chausseegeldereinnehmers geschrieben. Das »sofort« war dreifach unterstrichen.
Nun, die Aufforderung war dringlich genug. Und die beiden Beamten zögerten auch nicht, ihr zu folgen.
Sie hatten ja das amtliche Recht dazu, und dann waren sie über alle Maßen neugierig.
Das Papier war nicht einmal versiegelt. Es enthielt auch nichts Bemerkenswertes. Der alte Vogt bestimmte darin, daß für den Fall seines Todes der invalide Häusler Wackwitz, der ihm schon zuweilen zur Hand gegangen war, das Vieh besorgen sollte, bis der Sohn vom Militär zurückkäme. Er setzte ihm für diese Mühewaltungen täglichen Milcherlös aus. Dann fuhr er fort. »Alles, was ich habe, gehört natürlich meinem lieben Sohn Franz. Die Begräbniskosten wird die Sterbekasse ›um Frieden‹ tragen. Jedoch wünsche ich eine ganz schlichte, prunklose Beerdigung und bestimme ausdrücklich, daß mein Sohn erst nach stattgefundener Feier von meinem Tode benachrichtigt wird, falls dieser vor dem 3. Februar des nächsten Jahres eintreten sollte.« – 649
»Damals,« sagte der Ortsvorsteher in dem Verwaltungsdienstzimmer des Festungsgefängnisses zu Franz, »damals haben wir darüber den Kopf geschüttelt. Es war ja auch komisch, dieses ganz willkürliche Datum.« Er räusperte sich, spuckte und fuhr verlegen fort: »Jetzt freilich wissen wir, daß der selige Vater es uns nicht hat erfahren lassen wollen, was Sie für – Unglück bei den Soldaten gehabt haben, wenigstens nicht, so lange er noch über der Erde war. Nun, nun, – es ist ja auch gar nicht so schlimm gewesen, wie mir der gnädige Herr Hauptmann dort erzählt hat.«
Der Vorstand des Gefängnisses schnitt ihm die Rede nervös ab: »Das gehört wohl nicht zur Sache, Herr Ortsvorsteher? Nicht wahr?«
Darauf fuhr der Bauer umständlich fort zu berichten.
Nachdem man den Toten gefunden hatte, wurde selbstverständlich zuerst das Vieh versorgt. Es wurde Futter in die Raufen gesteckt und Wasser zum Tränken herzugetragen, und ein paar Weiber waren gern bereit, die übervollen Euter der Kühe abzumelken. Straff und stramm hingen sie, steinhart und zum Platzen voll, so daß die Kühe ordentlich breitbeinig stehen mußten.
Nein, nein, beruhigte er den sorgenden Blick des jungen Burschen, es hatte keiner etwas geschadet; bei der einen Falbe, die erst vor zehn Wochen gekalbt hatte, war man besorgt gewesen, daß ihr die Milch ins Blut getreten sein möchte, sie hatte starke Hitze gehabt, aber alles gab sich wieder. Die Schweine hatten vor Hunger das ganze Stroh im Stalle mitsamt den Mist gefressen, und das Hühnervolk stürzte nun wie toll auf das Körnerfutter.
Alles war in Ordnung. Und er, der Vorsteher, sorgte auch dafür, daß der Invalide das Vieh gehörig 650 abwartete und nichts beiseite brachte. Es war alles verschlossen bis auf die Ställe, und das Futter wurde wöchentlich zugeteilt. Übrigens war der alte Wackwitz eine zu dumme, ehrliche Haut. Man durfte ihm schon trauen.
Mit dem Begräbnis hielt man es natürlich, wie es der Verstorbene gewünscht hatte. Man gab dem Sohne keine Nachricht, und alles sollte schlicht und einfach werden gemäß dem Willen des Seligen. Aber der Kriegerverein ließ es sich nicht nehmen, dem Kameraden die drei Ehrensalven über das Grab zu feuern, und der Herr Rittergutsbesitzer in seiner Uniform als Rittmeister der Landwehrkavallerie, der Herr Baron von Nauslitz mit allen seinen Orden und der gnädige Herr Kammerherr von Naundörfel, auch zwei alte Krieger von 1870/71, gingen in der ersten Reihe des Trauergefolges. –
Bis dahin hatte der Gefangene gespannt zugehört, ohne recht zu begreifen, was er vernahm. Klang das nicht alles wie ein Märchen? Aber nun diese breitspurige Schilderung der Beerdigung!?
Sie erinnerte ihn an das Begräbnis des alten Gutsauszüglers Merz, der noch bei Leipzig mitgekämpft hatte und beinahe hundert Jahre alt geworden war. Er hatte damals als Schuljunge mit am Grabe gesungen. War es also doch wahr, daß ihm der Vater genommen war? Er konnte wohl nicht gut daran zweifeln. Auch in der Erzählung überzeugten ihn erst die Erdschollen, die den Sarg bedeckten, von der grausamen Trennung.
Er hörte wie aus weiter Ferne, wie ihm der Ortsvorsteher seine Teilnahme ausdrückte und ihm versicherte, daß er sein Erbe wohlbehalten vorfinden würde.
Dann verließ der große Mann in seinem dicken, pelzgefütterten Rock das Zimmer, von der Tür her wehte 651 noch einmal ein Strom freier, frischer Luft herein, dann war es wieder dumpf und öde wie sonst in dem Raum.
Wenn ihm recht war, ließ auch der Hauptmann einige Worte des Bedauerns verlauten, dann kam der Inspektor und führte ihn zur Zelle zurück.
Er trat ein. Der Schlüssel klirrte hinter ihm ins Schloß – er war endlich allein. Endlich konnte er sich ungestört zurecht legen, was da eigentlich geschehen war.
Über den viereckigen grauen Himmelsausschnitt des kleinen Fensters rieselten langsam Schneeflocken herab. Er dachte an den Friedhof daheim, der sich hinter der schmucklosen Dorfkirche einen sanften Abhang hinunter erstreckte, von einer dicken Feldsteinmauer umfriedet. Dichte Brombeersträucher wuchsen an ihr entlang und bildeten mit ihren stachlichen Ranken eine stärkere Schutzwehr als die lose geschichtete Mauer. Wohin mochte der Totenbettmeister wohl den Toten gebettet haben? Der alte Meixner, der die Buben schon mit einem drohenden Blicke seiner schielenden Augen aus dem Kirchhofe gescheucht hatte? Lag das frisch aufgeschüttete Grab in der Nähe der Sakristei, dort, wo schon die Mutter schlief, oder weiter unten am anderen Ende der Reihe, in dem neueren Teile nach der Mauer zu?
Nun, der Schnee fiel jetzt gewiß auch daheim und deckte alle Gräber, die alten und auch das neue, weich und warm ein.
Die frühe Dämmerung des Winternachmittags hüllte die Zelle allmählich in trübe Schatten, und vor der kleinen Scheibe drängten sich die Flocken immer dichter.
Da holten die Bauern zu Hause die Schellengeläute hervor, und die Gespanne klingelten dann gemächlich am Einnehmerhause vorüber. Noch von den Zeiten her, in denen das Wegegeld erhoben wurde, hatte es der Vater nie lassen können, aufzustehen und durch das Fenster zu 652 schauen, wenn das Geläute gerade vor dem Hause klang. Und die Stange in der Ecke, die den gestreiften Geldbeutel an der Spitze trug, schien nur darauf zu warten, durch das Klappfenster geschoben zu werden und mit dem Chausseedreier zurückzukehren.
Nun war die Einnehmerstube leer, die Stube, das ganze Haus und die ganze Welt.
Der Vater hatte seinen Jungen allein gelassen.
Wie einer von jenen grimmigen Werwölfen der Sage hatte er sich in seinen Bau zurückgezogen, um einsam zu sterben. Hatte er den Tod kommen sehen oder war er jählings von dem Sensenmann überrascht worden? Das würde niemand je erfahren. Aufrecht und mitten im Schaffen war er einen schönen Tod gestorben. Ein Ende, das herrlich zu dem ganzen Leben des Mannes stimmte.
Franz Vogt saß auf seinem Schemel in der dunklen Zelle und weinte dem Vater heiße Tränen nach.
Der arme Teufel hatte wahrhaftig Grund, sich über sein Schicksal zu beklagen. Erst nahm ihm der Tod den Freund und nun den Vater!
Sollte er denn immer einsam sein? – –
In den frostharten Wintertagen hatte Vogt den Regimentskameraden Wolf kaum je zu Gesicht bekommen. Beim Arbeitsdienst in der Küche, bei der Reinigung der Korridore oder bei den täglichen Spaziergängen im Hofe, einer hinter dem anderen, hatten sie einander ein paar Mal zugenickt. Aber sie waren nie nahe genug aneinander vorübergestreift, um auch nur ein einziges Wort tauschen zu können.
Nun löste ein unnatürlich frühes Tauwetter den grimmigen Frost ab. In den letzten Januartagen vollzog sich fast in einer Nacht die Umkehr, und plötzlich strahlte eine lachende Sonne von einem klaren, blauen Himmel herab auf die verwunderte, schläfrige Erde. 653
Die Festungsgefangenen begannen sogleich wieder ihr Tagewerk auf dem großen Exerzierplatz. Der Schnee mußte weggebracht werden, ehe das Schmelzwasser auf der mühsam geebneten Fläche Lachen und Höhlungen bildete. So nahte sich in der grauen Morgendämmerung wieder der kleine Trupp, die Gefangenen, alte Mäntel über den Sträflingskleidern, rings umgeben von den Schildwachen mit den geschulterten, scharfgeladenen Gewehren. Die Zellenluft hatte die Gesichter bleich und fahl gemacht. Sonst, in der guten Jahreszeit, konnten die Gefangenen, wenn sie so eifrig mit Schaufel und Karren hantierten, am Ende für eine Schaar Erdarbeiter angesehen werden, jetzt glichen sie den deportierten Sträflingen, die in Sibirien aus den Salzbergwerken in das Tageslicht emporsteigen. Die Augen ertrugen den klaren Sonnenschein nur mit Mühe, aber die Lungen sogen die reine freie Winterluft inbrünstig ein.
Es war ein Wiedersehen nach einer langen Trennung, als Vogt und Wolf zuerst wieder miteinander flüsterten.
Der Bauer erzählte von dem Tode des Vaters, mit einem gewissen Stolze die außerordentlichen Umstände hervorhebend, unter denen der Greis in der selbstgewählten Einsamkeit sein Ende gefunden hatte.
»Ein ganzer Mann bis zuletzt!« erwiderte Wolf. Aber er konnte nicht einmal dem Freunde die Hand zum Troste drücken.
Darnach fing Vogt an, von dem Tage der Befreiung zu sprechen. Für ihn brach er nun bald an. Er wußte, daß jedes Wort dem Kameraden ins Herz schneiden mußte, dem unglücklichen Menschen, der noch jahrelang die Marter der Gefangenschaft tragen sollte, aber er konnte nicht anders. Die große Freude mußte sich in irgend eine Form kleiden, sie zersprengte ihm ja bereits 654 fast die Brust. Er zählte die Stunden und Minuten, die hinter ihm versanken, und vermochte in den Nächten kaum zu schlafen.
Und draußen schien es sich der Frühling in den Kopf gesetzt zu haben, diesen Tag der Freiheit zu verherrlichen. Wenn sich am Morgen das Tor öffnete, um die Gefangenen zur Arbeit zu entlassen, schritten sie in eine immer mildere und lauere Luft. Fast hatte man Lust, sich beim Arbeiten des Mantels zu entledigen, – falls es erlaubt gewesen wäre.
Vogt schritt mit erhobenem Haupte und mit leuchtenden Augen, er handhabte sein Schanzzeug mit fröhlichem Eifer und stemmte sich frisch gegen die Wucht des schwerbeladenen Schubkarrens.
War er nicht in wenigen Tagen frei?
Aber Wolf preßte die Lippen zusammen, und je heiterer die Sonne vom Himmel herabstrahlte, desto finsterer wurde seine Stirn. Seine Wangen fielen mehr und mehr ein, der Schweiß rann ihm bei der kleinsten Anstrengung in Strömen über das abgemagerte Gesicht. Er war dem Zusammenbrechen nahe. Nur seine Augen glühten in einem wilden Feuer.
»Das halt' ich nicht mehr aus,« raunte er eines Morgens Vogt zu. »Ich gehe ja kaput dabei. Lieber brenne ich durch.«
»Du bist verrückt!« erwiderte Vogt. »Siehst du nicht die Posten? Du kämest nicht hundert Schritt weit!«
Wolf sah sich um. In der Tat war die Aussicht aus diesem Kreis von Schildwachen zu entfliehen gering.
Aber er beharrte bei seinem Plan und versetzte: »Was tut's wenn sie mich totschießen? Ist das nicht immer noch besser, als noch drei Jahre lang hier auszuhalten?«
Mit einem Male erschien ihm sein Vorhaben in 655 einem ganz neuen Lichte. Wenn ihm die Flucht mißlang, wenn er von der Kugel eines Postens fiel, war er dann nicht gleichsam ein Blutzeuge seiner Anschauungen? Mußte nicht dieser Opfertod der Sache der Revolution und der Freiheit neue Anhänger werben? Und, war es nicht am Ende sogar besser so, als wenn er entkam und irgendwo im Auslande in einem kümmerlichen Leben geduldet wurde, stets in der Besorgnis, als lästiger Fremder abgeschoben zu werden?
Wenn er vorher um jeden Preis hatte frei werden wollen, so leuchtete ihm jetzt der Tod als das wünschenswertere Ziel. Nur wollte er nicht zum Krüppel geschossen werden.
Am folgenden Tage flüsterte er Vogt zu: »Wenn das nächste Mal Jäger auf Posten sind, dann versuch' ich's.«
Vogt schüttelte mit einer heftig warnenden Gebärde den Kopf. Der Kamerad mußte reinweg den Verstand verloren haben. Es war ja ein Ding der Unmöglichkeit, aus der scharfen Bewachung zu entkommen. Und warum wollte Wolf gerade dann sein Heil versuchen, wenn Jäger auf Wache waren, die Truppe, die am sorgfältigsten im Schießen unterrichtet war? Das sah fast so aus, als ob er den Tod suchte.
Der gutmütige Bursche nahm sich vor, dem Kameraden recht eindringlich von seinem Plane abzuraten. Das durfte nicht sein, daß ein so braver Bursche in einem Verzweiflungsanfall gleichsam Selbstmord beging. Aber bald mußte es geschehen. In fünf Tagen war er selbst frei, bis dahin mußte ihm Wolf das Versprechen gegeben haben, von seiner Torheit abzustehen.
Er sah sich nach der Wache um. Man konnte an ihrer Uniform berechnen, wann die Jäger wieder an die Reihe des Postens kamen. Sieben Bataillone lösten sich 656 hintereinander täglich ab, die drei Leibgrenadierbataillone, drei von dem Füsilierregiment der Hauptstadt und das Jägerbataillon. Ein kleiner Füsilier stand zunächst. Die Seitengewehrtroddel war ganz gelb, also war er von der elften Kompagnie. Das war dumm. Dann zog schon am nächsten Tage das Jägerbataillon auf Wache.
Wahrend er den schwerbeladenen Karren vor sich herschob, suchte er Wolf mit den Augen: der Kamerad hatte wie er seine Karre gefüllt. Er schritt dicht an ihm vorüber und winkte ihm mitzukommen. Aber Wolf zögerte absichtlich und schüttelte lächelnd den Kopf.
Bald darauf wurde eingerückt. Die Gefangenen lieferten ihr Gerät und ihre Karren in dem Schuppen ab. Vogt stand wartend in dem halbdunklen Raum, während die Voranstehenden abgefertigt wurden.
Plötzlich fühlte er, wie seine Hand mit einem heftigen Druck erfaßt wurde, und Wolf flüsterte ihm ins Ohr: »Leb' wohl, Genosse, und bleib' treu!«
Im Augenblick war der hagere, lange Mensch hinter ihm vorbeigeglitten, die Nachdrängenden schoben vorwärts. Es war unmöglich, ihm noch etwas zuzuraunen.
Beim Wegtreten im Gefängnishofe fing er noch einen Blick von Wolf auf. Der Kamerad schaute heiter und siegesfroh drein, wie einer, den keine Sorgen mehr drücken, der seine Zukunft klar vor sich liegen sieht.
Die Wache, die tags darauf beim Abmarsch nach dem Arbeitsplatz ins Gewehr trat, trug die grüne Jägeruniform. Ein Gefreiter war drunter, ein flotter Bursche mit einem sorgfältig gewichsten schwarzen Bärtchen und flinken Augen; auf der Brust hing ihm die Schützenauszeichnungsschnur. Er tat offenbar zum ersten Male diesen Dienst und musterte die Gefangenen mit einem neugierigen Blicke, wie etwa einer seltene, wilde Tiere 657 betrachtet. Dann stellte er sich auf seinen Platz an der Seite des Zugs und marschierte strammen Schrittes zum Tor hinaus.
Über der weiten Fläche des Exerzierplatzes lag noch der Frühnebel. Aber die Sonne vertrieb die dampfenden Schwaden und schaute wärmend und unverhüllt auf die Erde herab.
Vogt sah sich besorgt nach Wolf um. Aber der Kamerad schien seinen Plan aufgegeben zu haben; er war emsig über seine Hacke geneigt und hielt sich nicht einmal nach dem Rande der Arbeitsstätte zu; mitten unter den anderen schaffte er.
In einer geringen Entfernung von den Gefangenen umstreiften die Wachtposten den Platz. Seitwärts ritt eine Stabsordonnanz einen schweren Braunen zu. Immer wieder mußte der Gaul einen kurzen, majestätischen Galopp hergeben, wie er beim Abreiten einer Paradeaufstellung beliebt ist.
Der Jägergefreite mit dem schwarzen Bärtchen hielt das Gewehr nachlässig auf der Schulter und sah angelegentlich hinüber. Es war auch gar zu langweilig immer zuzuschauen, wie die Gefangenen im Schmutze puddelten.
Plötzlich löste sich aus dem scharf abgegrenzten Kreise der Sträflinge eine hagere Gestalt los, – Wolf. In langen Sätzen floh er hinter dem Rücken des Gefreiten nach dem Walde zu.
Der Posten hatte seine Flucht gar nicht bemerkt. Erst der Zuruf des aufsichtführenden Feldwebels machte ihn aufmerksam. Nun riß er das Gewehr von der Schulter, machte sich schußfertig und rief sein erstes »Halt!«
Wolf rannte ohne Zaudern weiter.
Da geschah etwas, das die Aussichten des Flüchtlings bedeutend verbesserte: die Stabsordonnanz nebenan fühlte sich zur Mitverfolgung bewogen. Der Reiter setzte 658 seinen Braunen in starken Galopp und sprengte hinter dem Ausreißer her.
Wolf hörte die Hufschläge hinter sich und blickte sich flüchtig um. Der Reiter befand sich gerade zwischen dem Posten und ihm. Es waren nur noch ein paar Schritte bis zum Wald, bis dahin hatte ihn das Pferd nicht erreicht, und im Wald war er geborgen.
Mit einem Schlage war der verzweifelte Wunsch nach einem Märtyrertode in ihm ausgelöscht. Er wollte nicht mehr sterben, er wollte frei sein und leben. Da, in dem Wald, dem er sich in fliegender Eile näherte, war seine Freiheit verbürgt. Wie sollte ihn einer in dem dichten Gestrüpp der jungen Fichten finden? Er würde das Unterholz am Saume durchbrechen und sich jäh seitwärts wenden. Dann mochten sie immerhin auf den Wald schießen. Er würde am Boden hinkriechen, während die Kugeln über ihn wegpfiffen.
Von rückwärts schallte das zweite »Halt!« des Postens schärfer und dringender.
Ja, ruf' du nur!
Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Wald. Ein kleiner Graben trennte das Gehölz von dem Platz, einen Meter etwa breit, mit Leichtigkeit zu überspringen.
Wolf nahm seinen Anlauf.
Er wußte, der Wald dehnte sich weit, bis zur Stadt, aus. Die ersten Häuser der Vorstadt lagen noch inmitten der Bäume. Arbeiter wohnten dort, Eisengießer und Formschmiede, Parteigenossen. Sie oder ein mitleidiges Weib gaben dem Flüchtling gewiß ein paar abgelegte Kleider, und dann gedachte er schon bis zur Grenze zu gelangen.
Von rückwärts das dritte drohende »Halt!«
Der Reiter schien das Vergebliche seines Bemühens 659 eingesehen zu haben, er hatte wohl sein Pferd pariert. Die Hufschläge klangen nicht mehr auf den Fersen.
Also nur noch der Graben!
Der Flüchtling sprang. Er meinte schon, den kräftigen Duft der Fichten zu atmen, da, ein wenig zur Linken, war eine Öffnung im Randgestrüpp, gerade recht zum Durchschlüpfen, dann war er gerettet.
– Da, mitten im Sprung, fuhr ihm ein Feuerstrahl durch das Genick. Er stürzte vornüber, mit dem Gesicht in das rettende Unterholz hinein, die Augen immer noch weit geöffnet, nach dem Lande der Freiheit ausschauend.
* * *
Wenige Wochen später hielt der dirigierende Arzt des hauptstädtischen Garnisonlazaretts in der medizinischen Gesellschaft unter Vorzeigung von Präparaten einen Vortrag »über einen interessanten Fall der Nahwirkung kleinkalibriger Geschosse.« 660