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»Hinaus in die Ferne
Mit lautem Hörnerklang!«
(Methfessel.)
Der durch Steindruck vervielfältigte Regimentsbefehl vom 31. Mai, dem Sonnabend vor Pfingsten, lautete:
1) Am 3. Juni 630 V. steht das Regiment zum Marsch nach dem Truppenübungsplatz in der Waisenhausstraße bereit. Spitze: Ecke der Braugasse. Reihenfolge: 1., 2., 3., 4., 5., 6. Batterie. Trompeterkorps mit Harmonieinstrumenten.
2) Das Regiment marschiert geschlossen bis Obergruna.
3) Die Gepäckwagen, Reservemannschaften pp. sind abteilungsweise vereinigt 530 V. in Marsch zu setzen. Die von den Abteilungen hierzu kommandierten berittenen Unteroffiziere sind für alle Vorkommnisse während des Marsches voll verantwortlich.
4) Vom 3. Juni an treten die vom Regiment ausgegebenen Bestimmungen über das Verhalten auf dem Truppenübungsplatz, bezw. bei den An- und Abmärschen in Kraft.
5) Am 5. Juni 110V. steht das Regiment ausgeruht auf der Straße Hinterriedern-Truppenübungsplatz bereit. Spitze: Kilometerstein 28,5. Reihenfolge: 6., 5., 4., 3., 2., 1. Batterie. Trompeter mit Harmonieinstrumenten. 247
6) Es wird erneut auf den diesseitigen Befehl vom 13. d. M. hingewiesen. Mannschaften ist für das Pfingstfest Urlaub in keinem Falle zu erteilen. Es ist den Mannschaften in geeigneter Weise bekannt zu geben, daß sie an Stelle des aus dienstlichen Gründen für Pfingsten ausfallenden Urlaubes nach den Schießübungen – soweit dessen würdig – auf Ersatz rechnen dürfen.
7) Die Vorbereitungen für den Marsch sollen möglichst schon bis heute Abend vollendet sein.
8) Für den ersten Feiertag unterliegt die Erteilung von Nachturlaub keiner Beschränkung; Nachturlaub für den zweiten Feiertag ist in keinem Falle zu erteilen.
gez. von Falkenhein.
Oberst und Regimentskommandeur.
Daß es nun auch für Pfingsten keinen Urlaub geben sollte, das hatte manchem von den Rekruten einen herzhaften Fluch entlockt. Man hätte sich gar zu gern wieder einmal zu Hause umgetan und sich den Verwandten und den Freunden in der Uniform gezeigt. Aber was half es? Man mußte sich schon fügen.
Den beiden Freunden Vogt und Klitzing war auch ein derber Strich durch ihre Rechnung gemacht worden. Sie hatte schon so schön gestimmt: Vogt hatte sich's vom Vater erbeten, den Kameraden mit auf Urlaub bringen zu dürfen. Nun – aufgeschoben war ja nicht aufgehoben.
Für den ersten Feiertag kamen sie darum doch nicht um Nachturlaub ein. Alle beide fanden kein Vergnügen daran, in den heißen Tanzsälen mit irgend einem Frauenzimmer herumzuspringen. 248
Weise dagegen war dort wie zu Hause. Kaum war den Rekruten der Ausgang in die Stadt frei gegeben worden, so hatte er schon eine Braut. Sehr schön war sie allerdings nicht und auch nicht allzu jung, dafür bezahlte sie ihm stets die ganze Zeche, und als er ihr die Heirat versprochen hatte, kaufte sie ihm sogar eine Extrauniform.
Der jugendliche Bräutigam machte unter den Kameraden nicht gerade feine Witze über seine liebesdurstige Dame, aber so ganz spaßhaft faßte er die Angelegenheit doch nicht auf. Die ältliche Braut betrieb am Eisenbahndamm in der Nähe des Flusses, im Viertel der Schiffs- und Kohlenarbeiter, einen schwunghaften Handel mit Fleischwaren und Cigarren. Er überlegte bei sich, daß dieser einträgliche Laden eine recht passende Ruhestätte für die Zeit nach dem Dienen sein würde, viel bequemer und einträglicher als seine schwere Schlosserarbeit in der Fabrik, besonders wenn man dabei ein wenig den Arbeiterführer spielte und den Handel ein bißchen politisch aufputzte. Dann war er des größtmöglichen Zulaufs sicher. Er wunderte sich, daß in dem kleinen Neste, das eine immerhin zahlreiche Arbeiterbevölkerung aufwies, noch keiner auf diese schlaue Idee gekommen war. So wollte er der Schlaukopf sein. – Vorausgesetzt natürlich, daß ihm inzwischen nicht etwas noch Besseres einfiel. –
Während er durch das vordere Tor in die Arme seiner Braut eilte, die schon wartend auf der Landstraße auf und ab ging, verließen Vogt und Klitzing die Kaserne durch den rückwärtigen Ausgang.
Langsam stiegen sie den Zickzackweg zur Höhe empor; sie hielten oben auf dem Ausblick eine kleine Rast und bummelten dann einen Feldweg entlang 249 nach einem Vorwerk, in dem ein grauhaariger Bauer nebenbei noch eine alte Schenkgerechtsame ausübte.
Vor Jahrzehnten war das Holzbergvorwerk eine Vorspannstation für die Fuhrleute gewesen, die ins Böhmische hinein wollten. Jetzt hatte die Eisenbahn den meisten Verkehr an sich gerissen, und selbst die neue Kunststraße hatte sich eine andere, ebenere Stelle herausgesucht, um die Gebirgsterrasse zu erklimmen.
Vogt hatte die einsame Wirtschaft ausgekundschaftet, und er ging fortan an jedem freien Feiertag hin, obwohl das Bier recht matt vom Zapfen lief.
Das Vorwerk war rings von Feldern umgeben. Die Stadt und die Kaserne lagen hinter dem Abhang der Hochfläche versteckt, in der ganzen Runde sah man nichts als jungsprossiges Getreide und fette Wiesen; allenfalls in der Ferne ein Dorf mit seinen Ziegeldächern inmitten der grünen Gärten und nach der Grenze zu die Linien des Forstes, ganz am Horizont endlich den Gebirgszug, der im Sommerdunst verschwamm.
Das war ein Ausblick, der ihm Freude machte. Jawohl, da hatte Klitzing die Augen aufgerissen, dieser arme Teufel von einem Städter, der nicht einmal eine Weizenähre von einer Roggenähre unterscheiden konnte, geschweige denn die grünen Sprossen von Hafer und Gerste! Das war weit! Das war groß!
Der Bauer vom Vorwerk war ein Mann wie der Vater daheim, einer, der seinen Boden liebte, immer der Meinung, daß nur die Arbeit, die man selbst verrichtete, gut und recht war. Er und der junge Soldat waren bald gute Freunde und einmütig in dem Bedauern Klitzings, des Dritten, der so gar keine Ahnung davon hatte, was für eine Kraft und was für Schätze in der Erde steckten. 250
Während die beiden Bauern breit und umständlich ihre Meinungen austauschten, freute sich der Schreiber der köstlichen Ruhe, die über dem einsamen Hof lagerte.
Der Tisch war auf den gepflasterten Hof hinausgetragen worden. Eine breitkronige Roßkastanie hielt die heiße Sonne vom Platze ab. Die roten Blütenkerzen waren von Bienen umsummt und hauchten ihren starken Duft aus. Zuweilen rauschte ein leiser Wind durch die Äste und verschob den dichten Blätterschirm, so daß einzelne Strahlenkringel über die weißgescheuerte Tischplatte huschten.
Klitzing lehnte sich im Stuhle zurück und sah mitten in die Blätter und Blüten hinein.
Wie schön das alles war! Der Baum, der Schatten, der Frieden, der hier herrschte!
Nirgends noch hatte er eine so süße, erquickende Ruhe gefunden.
Er lächelte ein wenig.
Welchem Umstand hatte er es im Grunde zu danken, daß er diese schöne, friedliche Stätte betrat, die er sonst nie betreten haben würde? – Doch nur dem, daß er Soldat war.
»Wahrhaftig,« dachte er, »alles hat sein Gutes.« – –
Vogt hatte bei einer schicklichen Gelegenheit Sergeant Wiegandt gebeten, ihn mit Klitzing zusammenzuschreiben, wenn nach Vollendung der Ausbildung die Mannschaften der Batterie in »Geschützkorporalschaften« abgeteilt würden. Wiegandt hatte nicht nur dies getan, er hatte sie sogar beide zu seinem Geschütz, dem 6., genommen, Klitzing mit seinen scharfen Augen als Richtkanonier oder Nummer 2, Vogt als Nummer 1, der das Abfeuern oblag.
So kamen sie nebeneinander, nur durch das 251 Kanonenrohr getrennt, auf die Lafettensitze des 6. Geschützes zu sitzen.
Als Wegstetten mit seiner hellen, schneidigen Stimme sein »Batterie – aufgesessen!« kommandierte, murmelte Vogt zu Klitzing hinüber: »So, nun kann die Reise losgehen.«
Die lange Kolonne der sechsunddreißig Geschütze und sechs Munitionswagen des Regiments setzte sich langsam in Bewegung. Im Anfange stockte der Marsch oft, und von der Musik an der Spitze hörte man über dem Gerassel und Getöse keinen Ton, zumal in der letzten Batterie am letzten Geschütz nicht, das nur durch den Munitionswagen von dem Ende des Zuges getrennt war. Hinter dem Wagen ritt noch als allerletzter Wachtmeister Heppner.
»Rührt euch!« kommandierte vorn der Oberst, und die Zug- und Geschützführer gaben das Kommando nach rückwärts weiter.
Man konnte es sich nun bequem machen.
Vogt lachte Klitzing fröhlich an. Das war gar nicht übel, am dritten Pfingstfeiertage ein wenig sich spazieren fahren zu lassen. Die Sitze der Kanoniere waren zwar weder auf der Protze noch auf der Lafette mit weichen Polstern versehen, und die Geschütze entbehrten jeder Art von Federn, aber auf der ebenen Landstraße merkte man nicht viel von dem Schütteln und Rütteln; höchstens, wenn die Räder über frisch aufgeschüttetes Geröll knirschten, zitterte und zuckte es unter dem Sitze.
Zu allem Glück war am Nachmittag des Pfingstmontags ein derbes Gewitter niedergegangen, das den Staub auf den Straßen gelöscht hatte. Jetzt schien eine milde Sonne, die Luft war noch frisch vom Regen, 252 man kam einmal ein wenig heraus aus der Garnison, – was wollte man Besseres?
Vogt und Klitzing rollten ganz zufrieden in ihrer hartfederigen Equipage zwischen den blühenden Kirschbäumen der Chaussee hin. –
Der Munitionswagen, der noch hinter dem letzten Geschütz sich anreihte, war nur mit vier Pferden bespannt.
Inoslawski saß auf dem Vordersattelpferd. Auch er war vergnügt und lachte den beiden Kameraden, die vor ihm auf der Lafette saßen, fröhlich zu. Scherzend trieb er seine zwei Gäule so an, daß die Pferdenasen beinahe die Gesichter der Kanoniere streiften. Die »Cora«, die Inoslawski ritt, schnappte sogar nach Vogts Kopfe.
Klitzing hatte sich mit einer etwas ängstlichen Miene weit zurückgebeugt, aber Vogt gab der Stute einen derben Klapps aufs Maul, so daß sie sich erschreckend bäumte. Inoslawski verlor dabei die Bügel. Im Augenblick war auch Heppner von hinten zu ihm vorgaloppiert.
Der Wachtmeister hatte die Frechheiten, die sich der Pole, seine Unkenntnis der deutschen Sprache vorschützend, seinerzeit gegen ihn herausgenommen hatte, keineswegs vergessen. Jetzt war eine gute Gelegenheit, dem Lümmel den faulen Spaß einzutränken.
Er ließ Inoslawski nur die Bügel hoch nehmen.
Die »Cora« mit ihrem harten, hohen Trab ohne Bügel reiten, das genügte.
In der Tat verdüsterte sich Inoslawskis Gesicht nach wenigen Augenblicken bedeutend. Es lief krebsrot an, und der Schweiß floß ihm in Strömen von der Stirn. Wie er sich auch setzte, immer trafen ihn die Stöße des trabenden Pferdes hart und schütternd. 253 Seine Eingeweide wurden heftig durcheinander geworfen. Er bekam Seitenstechen und biß krampfhaft die Zähne aufeinander.
Heppner sah von hinten den Helm des Fahrers unablässig auf und nieder tanzen. Er brauchte gar nicht vorzureiten, er konnte sich schon denken, wie das Gesicht des Polen ungefähr aussah.
Wie er beim Halt an Inoslawski herantrat, fand er seine Erwartung noch übertroffen.
Genau so wie damals, als ihm der Pole die Gebärde nachgemacht hatte, schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen.
»Inoslawski! Kerl!« rief er, »wie siehst du denn aus?«
Der Fahrer sah stumm beiseite.
Für den Weitermarsch zündete er sich eine Pfeife an, auf deren Kopf eine Mutter Gottes gemalt war. Aber er schmauchte seinen Tabak mit mißmutiger Miene. Wenn man wie zerschlagen im Sattel hing, machte einem auch das Rauchen nicht mehr Spaß.
Erst am Abend, im Quartier, gewann er seine gute Laune wieder.
Der ganze Zug, das fünfte und sechste Geschütz und der Munitionswagen, lag mit Mann und Pferd in einem großen Gehöft zusammen, insgesamt ein Sergeant, ein Trompeter, zwei Unteroffiziere, einundzwanzig Mann und zwanzig Pferde.
Der Gutsbesitzer ließ es an nichts fehlen. Die Streu für die Mannschaften war dicht und weich geschüttet; saubere Laken waren über das Stroh gebreitet und warme Wolldecken zum Zudecken. Als Nachtmahl wurden zwei riesige gekochte Schinken aufgetragen, dazu eine Unmasse Kartoffelsalat, mit Speck angerichtet und mit Kopfsalat untermengt, eine wahre 254 Göttermahlzeit. Der noble Bauer hatte außerdem ein derbes Faß Braunbier und eine Hundertkiste Zigarren gespendet.
Die Leute wollten sich ihm dankbar erweisen. Sie zogen in geordnetem Trupp vor das schmucke Herrenhaus und brachten dem Gutsbesitzer ein Hoch aus.
Dann saßen sie noch singend und rauchend um die große Hoflinde herum, bis kein Tropfen mehr vom Hahne lief. Es war dabei dunkel geworden. Die meisten von den Mannschaften wurden allmählich schläfrig, nur ein paar schielten nach dem Brunnen hinüber, wo die Hausmägde für den nächsten Tag Kartoffeln wuschen und schälten. Aber es schlich sich keiner hin. Denn gleich bei der Ankunft hatten alle dem Besitzer versprochen, die Frauenzimmer auf dem Gute in Ruhe zu lassen. Dafür hatte wiederum er ihnen das Festmahl ausgerichtet.
Der Handel war ehrlich von dem Bauer gehalten worden, da durfte man sich wohl nicht lumpen lassen, und außerdem schien da ein altes, grobknochiges Frauenzimmer gewissermaßen als Schildwache bei den Mädels aufgestellt zu sein, ein richtiger böser Drache, der einen schon giftig anschaute, wenn man einen Eimer Wasser vom Brunnen holte.
Es war sicherer so. Den prachtvollen Schinken und den frischen Salat im Magen, wußte man, was man hatte.
Und daß der Gutsbesitzer die Mahlzeit auf den Abend gelegt hatte, wo man sich zum Einhauen Zeit nehmen und sich satt und voll essen konnte, ohne hernach Kanonen oder Pferde putzen und zum Dienst laufen zu müssen, das war erst recht eine gute Idee gewesen. So brauchten die Fahrer nur noch einmal nach den Pferden zu sehen, die sich am Heu 255 hatten gütlich tun dürfen, dann machten es sich alle bequem. Man streckte sich faul und schwer auf die weiche Streu und war eingeschlafen, kaum daß der Trompeter vor dem Hoftor den Zapfenstreich geblasen hatte.
Am zweiten Marschtage traf man es nicht wieder so günstig. Vogt und Klitzing lagen zusammen bei einem Häusler im Quartier. Der arme Teufel besaß nicht einmal eine Kuh. Aber es war wohl richtig, was die alten Mannschaften erzählten, – daß arme Leute zumeist bessere Quartierwirte waren als reiche. Der Tagelöhner setzte den beiden Kanonieren gepökeltes Fleisch mit großen Graupen vor, und zum Abendbrot bekam die Einquartierung Spiegeleier und grünen Salat. Aber die Häuslersleute selbst hielten sich mittags nur an das Gemüse und begnügten sich abends mit Brot und Schmalz. Auf dem Rittergute dagegen wurden die Zugskameraden mit salzigem Speck und Pellkartoffeln abgespeist. –
Am dritten Tage sollte das Regiment auf dem Truppenübungsplatze eintreffen.
Die Gegend wurde nun ebener. Der schwarze Boden nahm allmählich eine hellere Färbung an; an die Stelle des Laubwaldes traten Fichtengehölze, und zuweilen unterbrachen unfruchtbare Sandstrecken die Flächen der Getreidefelder.
Zuletzt breitete sich eine ganz flache Landschaft aus. Am Horizont wurde sie durch einen gewaltigen Forst begrenzt.
Im Näherkommen erkannte man vor dem Walde einzelne weiße Häuser, und seitlich vorwärts ragte ein hoher, dicker Wasserturm in der Ebene empor.
Hauptmann von Wegstetten ließ halten und 256 absitzen. Die 6. Batterie war als erste am Sammelplatze angelangt.
Weiter zurück auf der eben durchmessenen Chaussee und auf einem Nebenwege sah man langsam die anderen Batterieen herankommen. Schließlich trafen die beiden Abteilungskommandeure mit ihren Adjutanten ein und zuletzt der Oberst mit seinem Stabe. Er nahm die Meldungen der Stabsoffiziere entgegen und setzte sich nach einem kurzen Aufenthalt an die Spitze seines Regiments.
Das Trompeterkorps voran, zog die lange Reihe von Mannschaften, Pferden und Fahrzeugen in das Barackenlager ein. Dem Infanterieposten am Lattentore erlahmten beim Präsentieren fast die Arme. Es dauerte geraume Zeit, bis der letzte Offizier an ihm vorbei war.
Die Geschütze und Wagen fuhren nebeneinander auf einem Parkplatze auf. Die Pferde wurden ausgespannt und die Tornister von den Geschützen losgeschnallt. Dann rückten die Fahrer nach ihren Ställen ab, die Kanoniere nach den Wohnbaracken. Jedem einzelnen war bereits durch die Quartiermacher der Platz angewiesen, so daß man bloß sein Bett und seinen Schrank in Besitz zu nehmen brauchte.
Die jungen Mannschaften, die noch nicht im Lager gewesen waren, machten lange Hälse.
Im allgemeinen sah es ganz einladend aus. Eine breite Heerstraße lief, zu beiden Seiten von breiten Fußwegen begleitet, anscheinend kaum absehbar durch das ganze Lager. An ihr entlang waren dann zur Linken die Wohnbaracken, zur Rechten die Ställe erbaut.
Die Wohngebäude sahen eines wie das andere aus: in der Mitte ein einstöckiger, viereckiger Bau und 257 von ihm auslaufend je ein Seitenflügel, der die Mannschaftsstuben enthielt, hohe, luftige Räume, die bis unter das Holzgerüst des Schieferdaches reichten. Auf der Rückseite waren dann kleine überdachte Veranden vorgebaut, in denen bei schlechtem Wetter der Unterricht und die Appells abgehalten wurden.
Jenseits dieser Vordächer begann dann sogleich der Wald, ein dichtes Gehölz von schönen, stattlichen Fichten. Durch die Fenster drang der harzige Nadelduft in die Stuben.
»Siehst du, Heinrich,« meinte Vogt zu Klitzing, »das ist nun unsere Sommerfrische. Nicht? Ist das nicht eine wahre Pracht, diese Luft?«
Der Schreiber hielt einen Augenblick mit Auspacken inne und sog den kräftigen Geruch tief in die Lungen.
»O ja,« antwortete er, »hier läßt sich's schon aushalten.« –
Eine »Sommerfrische« war allerdings die Zeit auf dem Truppenübungsplatze nicht gerade. Das merkten alle beide bald genug heraus. Es gab höllisch zu tun in diesen Wochen, aber man tat ganz gern mit. Das Scharfschießen war ein ander Ding als das Hantieren mit der Exerziermunition in der Garnison, das auf die Dauer namenlos langweilig wurde.
Es war ein ganz besonderes Gefühl, mit dem man die scharfen Geschosse in die Hand nahm, die so sauber in ihrem roten Anstrich, mit dem blanken Messing des Zünders und dem blitzenden Kupfer der Führungsringe ausschauten.
Das Häuschen, in dem die scharfe Munition ausgegeben wurde, lag, von einem hohen, dicken Erdwall umgeben, weit ab von den anderen Gebäuden in der Nähe des Parkplatzes. Daran sah man gleich, 258 wie gefährlich der Inhalt war. Aber die Feuerwerker, die die Schrapnells und die Zünder ausgaben, gingen gleichgiltig mit den Geschossen um, als stäke nicht Tod und Verderben in jedem einzelnen. Und doch waren ein paar hundert Bleikugeln in jedem Schrapnell, die recht gut eine ganze Kompagnie außer Gefecht setzen konnten, die Sprengstücke des Mantels gar nicht gerechnet.
Vogt schleppte mit Klitzing einen Korb voll Schrapnells nach dem Munitionswagen hin. Es war eine tüchtige Last und eine unheimliche dazu. Aber der muntere Bursche konnte es nicht lassen, dem Kameraden einen kleinen Streich zu spielen.
Er blieb unterwegs plötzlich stehen, ließ den Korb ein wenig sinken und rief: »Heinrich, sieh doch! Die Dinger gehen los!«
Aber Klitzing erschrak nicht im geringsten. »Da wäre doch auch nichts weiter bei,« erwiderte er ruhig.
»Na ja,« meinte Vogt, »es war ja bloß ein Spaß.«
Er hätte eigentlich wissen können, daß der Schreiber vor nichts irgendwie Furcht hatte, wie schwächlich er auch war. Was den Mut anbetraf, war er wirklich ein ganzer Kerl. – –
Übrigens schien das erste Schießen nicht gerade gefährlich zu werden. Nur vierundzwanzig Schrapnells, also für jedes Geschütz sechs Schuß, waren dafür ausgesetzt. Es war ein Schulschießen, gewissermaßen eine Übung für die jüngeren Offiziere, und Leutnant Landsberg sollte die Batterie kommandieren.
Die Mannschaften waren ungemein neugierig, was er wohl zustande bringen würde. Der geschniegelte, zimperliche Bengel war bei jedermann im höchsten Maße unbeliebt. Außerdem war er 259 offenbar nicht gerade einer von den klügsten, denn beim Bespanntexerzieren in der Garnison waren auf ihn allein mehr Tadel und Scheltworte niedergehagelt, als auf die ganze übrige Batterie zusammen. Immer wieder hatte die Trompetenstimme Wegstettens über den Platz gegellt: »Herr Leutnant Landsberg, Sie sind nicht vor Ihrem Zug!« »Herr Leutnant Landsberg, Sie haben viel zu viel Abstand!« Ab und zu hatte der kleine Hauptmann auch einen grimmigen Fluch ausgestoßen, war auf seiner hochbeinigen »Walküre« herangebraust und hatte sich in einer gröberen Tonart hören lassen: »Herr Leutnant Landsberg, dösen Sie nicht!« oder »Herrr!! Passen Sie zum Donnerwetter endlich auf! Schlafen Sie nicht! Es ist schon spät am Tage!«
Die Geschützführer und Vorderreiter hüteten sich natürlich, den hochmütigen Menschen durch leise Zurufe aufmerksam zu machen, wenn er sich nicht mehr vor der Mitte des Zuges befand, falsche Richtung hatte, oder sonst einen Verstoß gegen das Exerzierreglement beging, – eine Unterstützung, die sich selbst Leutnant Reimers gern gefallen ließ, der doch seinen Kram gründlich zu verstehen schien.
Aber Landsberg hatte sich das verbeten. »Ich verstehe meine Sache schon allein,« sagte er.
Daraufhin ließ man ihn reiten, wohin es ihn gut dünkte, und freute sich, wenn es derb über ihn herging.
Nun sollte er heute gar die ganze Batterie kommandieren. Vorsorglich begleitete Wegstetten die Expedition des jungen Mannes, um nötigenfalls helfend einzugreifen.
Er sollte es bald nötig haben.
Die Batterie rückte vom Parkplatze ab und 260 verließ das Barackenlager durch das Lattentor. Kurz darauf bog sie von der Straße ab und fuhr auf der Heide zurück, der riesigen Fläche des Übungsplatzes zu.
Plötzlich krähte die überschnappende Stimme Landsbergs: »Batterie – ha–lt!« und gleich darauf: »Schrapnells, Aufschlag!«
Die Mannschaften grinsten. Ein paar von den Kanonieren waren abgesessen und standen ratlos da. Es sollte geladen werden und dabei war noch nicht »Umhängen!« kommandiert! Wie sollte man aber laden, wenn die Lafetten und Protzkästen noch verschlossen waren und wenn der Verschlußüberzug noch über dem Rohre lag? Der schlaue Herr Leutnant hatte das Kommando, das noch vor dem Abrücken vom Parkplatz hätte kommen müssen, vergessen.
Aber das Dümmste war, daß er nicht einmal merkte, was los war. Wegstetten hielt ruhig neben ihm. Er hatte die Bügel losgelassen und baumelte mit seinen kurzen Beinen gemütlich hin und her. Seine Augen blitzten höhnisch zu dem ratlosen Leutnant hinüber.
»Ja, Herr Leutnant Landsberg,« sagte er achselzuckend, »wenn ich jetzt Kanonier wäre, ich wüßte auch nicht, was ich tun sollte!«
Der Leutnant hob seine tadellos behandschuhte Hand zum Helm und erwiderte: »Zu Befehl, Herr Hauptmann.« Aber der erlösende Gedanke fiel ihm nicht ein.
Da richtete sich der Hauptmann auf, und seine helle Stimme schallte über die Batterie hinweg: »Umhängen!«
Nun kam Leben in die Mannschaften, jeder führte emsig die zugeteilten Obliegenheiten aus. 261
Wegstetten aber wandte sich zu dem Leutnant, der nicht sehr geistreich dreinschaute: »So, Herr Leutnant, nun dürfen Sie das Kommando wieder übernehmen.«
Er wartete den Gruß Landsbergs gar nicht erst ab. Die »Walküre« bekam ein paar derbe Sporen hinter den Gurt und mußte seitwärts in einem weiten Zirkel galoppieren. Irgendwie mußte der Ärger sich Luft machen, wenn man so einen Offizier in der Batterie hatte, einen Menschen, der die Eigenschaften eines Dummkopfes und eines Faulpelzes, eines Gecken und eines Liederjahns in schöner Vereinigung aufwies. Als er sich endlich wieder zur Batterie zurückfand, hatte die dicke, große »Walküre« Schaum zwischen den Hinterbacken, und ihre Flanken flogen.
Unterdessen ließ Landsberg laden.
Am 6. Geschütz brachte Truchseß, der Brauer, als Nummer vier das Schrapnell recht zaghaft heran. Wie leicht konnte so ein Biest losgehen! Gar, da nun die Zündschraube darauf geschraubt war, die das Ding draußen explodieren lassen sollte! So ein Vieh hatte auch seine Mucken!
Die alten Mannschaften wußten da schaurige Geschichten zu erzählen von Unglücksfällen, die schon beim Scharfschießen passiert waren. Da war beim Laden ein Geschoß nach hinten explodiert und hatte der Nummer drei ein richtiges Loch durch die Brust gerissen, genau von dem Kaliber wie das Geschoß. Hernach, als der Tote weggetragen worden war, hatte die Sonne durch den Leichnam geschienen, und mitten im Schatten des Körpers war ein heller Sonnenfleck aufgetaucht, kreisrund und genau so groß wie der Boden eines Geschosses.
Daran mußte der Brauer in einem fort denken, 262 und er schob das Schrapnell recht behutsam in das Rohr hinein. Aber Klitzing stieß es kräftig mit dem Ansetzer vor, daß das Metall des Geschosses hell gegen die Rohrwand klang.
Truchseß flüsterte: »Du, Landsmann, sei doch nich so derb! Das Aas kann doch losgehen!«
Aber Klitzing lächelte nur, und der Brauer dachte mürrisch: »Na ja, dem Schreiber scheint sein Leben ohnehin nicht viel Spaß zu machen, – aber mir doch!«
Er schob vorsichtig die Kartusche hinterdrein und atmete auf, als der Verschluß wieder zurückglitt und damit die Geschichte wenigstens nicht mehr nach hinten, auf ihn zu, losgehen konnte.
Die Batterie setzte sich nun wieder in Bewegung und fuhr in einem bequemen Trabe auf dem Übungsplatze vor.
Vogt schaute von seinem Sitze aus auf den Boden, über den man hinwegkam, eine sandige, mit hohen Heidekrautsträuchern bewachsene Fläche. Mißbilligend brummte er vor sich hin: »Ein gottverlassener Fleck Erde das! Was soll wohl da wachsen außer diesem zähen Krautgestrüpp?«
Dabei war der Boden durchaus nicht eben. Als die Batterie zur Linie aufmarschierte, mußte man sich fest gegen die Trittbretter der Sitze stemmen, um bei den Sprüngen des Geschützes nicht heruntergeschleudert zu werden.
Mitten in einem üppig wuchernden Heidekrautfelde wurde abgeprotzt. Es war ein ganz sonderbares Bild – die Kanonen und die einzelnen Kanoniere zwischen den friedlichen Sträuchern. Die blühenden Zweige reichten den blauen Geschützrädern fast bis zur Achse, den Menschen bis über die Kniee, und der Lafettenschwanz war ganz von ihnen überwuchert. 263 Wie durch einen kleinen Wald mußten sich die Bedienungsmannschaften erst einen Weg durchs Kraut treten.
»Schrapnells! Aufschlag! Geradeaus! Batterie vor dem Wegweiser am Waldrande! Drittes Geschütz! Zweitausendachthundert!« kommandierte Leutnant Landsberg. »Vom linken Flügel Feuer!«
»Vom linken Flügel Feuer« – das hieß, das 6. Geschütz sollte beginnen, sollte die Ehre haben, vom Regiment den ersten Schuß der diesjährigen Übung abzugeben.
Klitzing als Richtkanonier stellte den Aufsatz im Nu auf 2800, setzte sich rittlings auf den Lafettenkasten und kurbelte das Rohr herunter, bis das Ziel auf dem Korn aufsaß.
Die feindliche Batterie war nicht eben schwer zu entdecken. Man hatte dem jungen Offizier keine allzu schwere Aufgabe gestellt. Weit draußen, wo die Heide gelb und sandig schimmerte, hoben sich sechs dunkle, ziemlich breite Scheiben von dem hellen Boden ab, jede zu beiden Seiten von kleineren umgeben. Das waren die sechs bedrohten Kanonen mit ihren Bedienungsmannschaften.
Sergeant Wiegandt als Zugführer sah die Richtung nach. Er nickte zufrieden und kommandierte, »Sechstes Geschütz – Feuer!«
Darauf sprangen die Kanoniere aus dem rückwärtigen Geleise der Lafette, und Vogt riß auf »Feuer« die Abzugsschnur mit einem kurzen Ruck an sich.
Es gab einen gewaltigen Knall, und das Geschütz rollte schwerfällig wohl acht Schritt zurück. Im Augenblick war es wieder auf die alte Stelle vorgebracht.
Weit draußen aber in der Heide stob nach wenigen Sekunden erst eine helle Staubwolke auf, als ob eine 264 ungefüge Hand kräftig in den Sand gepatscht hätte, und kurz hinterher, fast gleichzeitig, verschwanden die Scheiben in einer großen grauen Rauchwolke. Als der Rauch sich verzogen hatte, waren die Mannschaftsscheiben zur Linken der dritten Geschützscheibe verschwunden, und auch die Kanone selbst schien beschädigt worden zu sein, sie stand ganz windschief da.
Der erste Schuß war ein Volltreffer.
Im Grunde bedeutete das weiter nichts, als daß eine ausgezeichnete Seitenrichtung genommen worden war. Die Entfernung stimmte rein zufällig genau mit der Schätzung überein.
Aber so etwas machte trotzdem Freude.
Oberst von Falkenhein hielt seitwärts von der Batterie auf seinem großen Schweißfuchs. Er hatte das Ziel mit dem Feldstecher beobachtet und ein leises anerkennendes »Donnerwetter!« vor sich hingemurmelt, als er durch das scharfe Glas draußen die Holzstücke im Rauche fliegen sah. Nun wandte er sich nach der Batterie und rief ein kurzes »Brav, der Richtkanonier!« hinüber.
Wegstetten war neben ihm abgesessen und schmunzelte. Jawohl, es blieb doch seine sechste Batterie, wenn sie auch ein Schafskopf kommandierte.
Das Schießen verlief ohne Störung. Nach der Ermittelung der Entfernung wurden die Schrapnells mit Brennzünder verfeuert. Nun krepierten sie pünktlich über dem Ziel. Die kleinen Wölkchen zeichneten sich zierlich von dem dunklen Waldhintergrunde ab. Auf der Erdoberfläche draußen sah es dann aus, als ob schwere Regentropfen auf eine staubige Landstraße fielen. Überall spritzten winzige Sandsäulen in die Höhe. 265
Die Kanoniere hatten sogleich nach dem ersten Schuß alle Scheu vor der scharfen Munition verloren. Selbst Truchseß faßte herzhaft beim Laden zu, und als die vierundzwanzig zugeteilten Schrapnells zu Ende waren, hätten sie gar nicht ungern länger mitgetan. –
Bei der Schießbesprechung kam Landsberg glimpflich weg. Er hatte vier scharfe Treffer von einem Schrapnell. Das war ein ganz erträgliches Ergebnis. Allerdings war es hauptsächlich dem Zufallstreffer des ersten Schusses zuzuschreiben, der allein die ganze Bedienungsmannschaft eines Geschützes außer Gefecht gesetzt haben würde.
Der Leutnant setzte eine hochmütige Miene auf, als ob er sagen wollte: »Bei mir war das ja selbstverständlich.«
Falkenhein, der sich stets sorgfältig über jeden einzelnen Offizier auf dem Laufenden hielt und bisher nicht das Günstigste über den jungen Herrn gehört hatte, hielt es daher für angemessen, ihm ein wenig den Stolz zu beschneiden.
»Übrigens, Herr Leutnant Landsberg,« sagte er, »hat es Ihnen Ihr Batteriechef auch sehr leicht gemacht. Als jüngster Offizier des Regiments hatten Sie auch die leichteste Aufgabe. Messen Sie daran Ihr wirkliches Verdienst und seien Sie versichert, daß man Ihnen nächstes Jahr nicht wieder solche Scheunentore als Scheiben hinbauen wird.«.
Darauf wandte er sich gemütlich zu Wegstetten und fragte: »Sind Sie nach dem Schießen hinausgeritten, lieber Wegstetten, und haben Sie sich die Scheibe – die mit dem vollen Treffer meine ich – angesehen?«
»Zu Befehl, Herr Oberst. Das Schrapnell muß beinahe innerhalb des Geschützes krepiert sein.« 266
»Nicht wahr? – Und spaßhaft war es: der erste Schuß im Jahre ein Volltreffer. Das macht Ihnen keiner nach, Wegstetten!«
Der Hauptmann wehrte geschmeichelt lächelnd das scherzhafte Lob ab: »Es war doch nur Zufall, Herr Oberst.«
Aber der Oberst fuhr ernsthaft fort: »Nun, doch nur zur Hälfte. – Und noch eins, lieber Wegstetten. Sagen Sie, der Richtkanonier von diesem Flügelgeschütz mit dem Glücksschuß, – ist der vielleicht krank gewesen? Er fiel mir auf. Er sah ja wie das liebe Leiden Christi aus.«
Wegstetten gab Auskunft, soviel er selbst von dem Manne wußte. Das übrige tat Reimers dazu, nur Landsberg stand stumm dabei.
»Eigentlich müßten Sie mir das alles sagen können, Leutnant Landsberg!« tadelte Falkenhein. »Sie haben doch die Rekruten ausgebildet und müßten daher auch darüber orientiert sein.«
Zu Wegstetten gewandt fuhr er fort: »Wenn der Mann so tüchtig ist, wie ich da höre, kann man ihm die Sache ja ein wenig leichter machen.«
»Zu Befehl, Herr Oberst«, beeilte sich der Hauptmann zu erwidern. »Ich hatte vor, ihn im Herbste als Hilfsschreiber zu verwenden.«
Das war nicht wahr. So lange Zeit vorher konnte man an solche Einzelheiten unmöglich denken, auch als Chef der ausgezeichnetsten Batterie im ganzen Armeekorps nicht. Aber es machte sich vortrefflich, und außerdem war es eine wirklich praktische Idee.
Falkenhein nickte zufrieden: »Sehen Sie, mein lieber Wegstetten, das ist wieder mal ein Gedanke von Ihnen, der mitten ins Schwarze trifft. Man darf die Leute nicht über einen großen Kamm scheren. Einzeln 267 muß man sie sich ansehen. Der eine dient dem König am besten mit seinen kräftigen Armen und Beinen, Ihr Richtkanonier eben mit den Augen und mit der Feder.«
Er legte die Hand an die Mütze, und die Herren verabschiedeten sich.
Sie hatten sehr verschiedene Gedanken, als sie ihren Wohnräumen zustrebten.
Reimers dachte voll warmer Bewunderung: »Was für ein Mann, der über seinen großen Pflichten noch mit dem kleinen Schicksal eines armen Teufels von Kanonier sich befaßt!«
Wegstetten schmunzelte. Man durfte nur nicht maulfaul sein, nur nicht sein Licht unter den Scheffel stellen! Lieber einmal zuviel mußte man geben, als zu wenig. Dann tat man den Vorgesetzten einen kleinen Gefallen und sich selbst den allergrößten.
Landsberg endlich spottete für sich: »Über einen lappigen Kerl von Kanonier schwätzt der Mann beinahe ebenso lange wie über mein prachtvolles Schießen. Und das ist hernach der vielgerühmte Oberst von Falkenhein!« – – –
Am Morgen beim Scharfschießen hatten fast alle Kanoniere gern mitgetan, – aber das Geschützreinigen hinterdrein war nach niemandes Geschmack.
Dieses rauchlose Pulver ließ im Rohr einen abscheulichen, zähen Schleim zurück, der beileibe nirgends haften bleiben durfte. Da hieß es, immer wieder frisches Wasser in das Rohr schütten, Schmierseife darein mengen und mit dem Wischer so lange reiben und pumpen, bis das Wasser so spiegelklar wieder herausfloß, als es hineingegossen war.
»Kerls,« pflegte Sergeant Wiegandt zu sagen, »wenn ihr nicht Appetit kriegt, das Wasser gleich 268 aus dem Rohr zu trinken, dann ist's noch nicht rein genug. Denn man immer weiter!«
Und hernach erst das Trocknen! Man mußte die Lappen und Tücher so dick um den Wischer wickeln, daß der Wulst kaum in die Mündung sich einführen ließ. Sonst blieben die Innenkanten und Winkel des gezogenen Rohres naß, und ein Fleckchen Rost auf dem blanken Metall, – das war beinahe so schlimm wie ein Totschlag. Es galt zu stoßen und zu würgen, zu ziehen und zu zerren, daß der Schweiß in Strömen von der Stirn troff. Dann wurde das Rohr mit einem gelinden Ölüberzug eingefettet, und am nächsten Tage begann das Schießen und hinterher die Plackerei des Reinigens wieder von neuem.
Da war es schon vergnüglicher, an den Nachmittagen über den Platz weg zu den Zielen hinaus zu wandern, nur im Drillichzeug und den Brotbeutel umgehangen, – zum Kugelsuchen. Die Heide brannte freilich in der glühenden Sonne, so daß man die Hitze des Bodens durch die Sohlen fühlte, aber das machte nichts aus bei der leichten Mühe. Dabei konnten sich diejenigen, die ein scharfes Auge hatten, einen gar nicht unansehnlichen Verdienst verschaffen. Die gußeisernen Sprengstücke galten allerdings nur wenige Pfennige das Kilo, schon mehr die Bleikugeln, das meiste aber die Messing- und Kupferteile. Wer Glück gehabt hatte, brachte es fast auf zwei Mark Erlös.
Das waren die Preise, die von der Militärverwaltung bezahlt wurden. Der Althändler gab natürlich mehr dafür, und so kam es, daß manches Stück an einer heimlich gekennzeichneten Stelle niedergelegt wurde, um hernach gelegentlich abgeholt und verschachert zu werden.
Besonders aber hatte sich in dem benachbarten 269 Forst trotz aller Wachen und Patrouillenreiter ein richtiger Nomadenstamm von Bummlern und Strolchen angesiedelt. Sie stürzten sich fast noch während des Schießens auf eine hervorstechend wertvolle Beute, einen Blindgänger etwa, und verschwanden blitzschnell, ehe ihnen die Posten zu nahe kamen. Zuweilen wurde bei einer Streife im Walde eine Hütte, wie sie sich diese Landstreicher aus Zweigen und Erde für die Nacht erbauten, gefunden und zerstört. Aber die Bewohner waren natürlich längst geflüchtet. Dann wieder, wenn die Mannschaften sich zum Suchen zerstreut hatten, tauchten plötzlich zerlumpte Gestalten auf, die sich irgendwo wie Hasen in eine Furche geschmiegt hatten. Sie schlugen auf der Flucht vor der berittenen Patrouille Haken, abermals wie die Hasen, und rannten im gestreckten Galopp dem Dickicht zu, in das ihnen der Reiter nicht folgen konnte. – –
Die »Sommerfrische«, von der Vogt und Klitzing im Anfang geträumt hatten, erwies sich also als eine Zeit, in der man vor Dienst und Arbeit beinahe nie zur Ruhe kam. Trotzdem wurden die Anstrengungen leichter ertragen, als in der Garnison. Einmal half die Mannigfaltigkeit der Übungen darüber hinweg, und dann war vor allem die fürchterlichste Plage des Soldatenlebens zu Hause gelassen worden, – jenes einförmige Drillen, unter dem man erstickte und dessen Zweck man niemals einsehen lernte.
Da war man beim Marschieren so gräßlich gezwickt und gezwackt worden, bis alles auf einen Schlag klappte und knallte, da war man beim Turnen wie ein steifer Zappelmann gehupft und gesprungen, anstatt frei die Kräfte zu üben und den Körper gelenkig zu machen, – und nun hatte es fast den Anschein, als sei die ganze, abscheuliche Plage, die einem das 270 ganze Soldatsein verbittern konnte, nur für die eine Parade, nur für die eine Besichtigung dagewesen.
Das sahen selbst die dümmsten Leute, geschweige denn Vogt mit seinem einfachen, klaren Verstande, ein, daß die Schießübungen hier auf dem Truppenübungsplatze das Allerwichtigste von der ganzen Ausbildung waren. Hier zeigte sich's wenigstens einigermaßen ernsthaft, was man gelernt hatte. Und wo war da auch nur eine Spur von dem famosen Parademarsch, von dem Turnen auf Kommando? Hier war Klitzing, der zu Hause der allerjammervollste Soldat gewesen war, mit einem Male zu Ehren gekommen. Beim Preisrichten hatte er den ersten Preis erhalten, weit, weit vor allen anderen. Aber sein Marschieren war nicht besser geworden, und turnen hatte er auch nicht gelernt. Eigentlich war er also doch ein miserabler Soldat!
Vogt schüttelte den Kopf, wenn er darüber nachdachte.
Immerhin, – er, als Artillerist, konnte noch zufrieden sein, andere waren weit schlimmer daran.
In die Nebenbaracken war vor ein paar Tagen ein Infanterieregiment eingerückt. Man konnte die Bataillone exerzieren sehen, wenn man durch das Gatter hinter dem Stall auf den Platz hinausschaute.
Da war ein Major, ein dürrer, gelbhäutiger Mensch, – der konnte sich nie und nie zufrieden geben. Das Bataillon stand bis über Mittag draußen in der Sonne, und nach einer kurzen Eßpause fing die Schinderei von neuem an. Zum Teufel auch! Wie sollten ein paar hundert Menschen so gleichmäßig sein können, wie eine Maschine? Und was für einen Zweck hatte das? Erst klappte ein Gewehrgriff nicht. Dann, wenn der Griff geklappt hatte, flogen die Hände nicht 271 gleichzeitig und gleichartig zur Hosennaht, und wenn endlich die Hände gleichzeitig und gleichartig herunterflogen, klappte wieder der Griff nicht. Und beim Marsche gar! Da störte ein einziger, zu tief gehaltener Lauf die Linie der geschulterten Gewehre, und wenn die Gewehre in einer Linie lagen, machte einer die Kniee beim Ausschreiten krumm.
Die Fahrer von der Artillerie hatten sich an den Zaun gestellt. Sie polierten ihre Kandaren und Tauketten und lachten zu dem Theater draußen. Vogt aber fand das nicht im geringsten lächerlich. Was sollte das nur, daß diese paar hundert Menschen auf dem Platze dort so kindische Dinge trieben? Wollten sie etwa so in die Schlacht marschieren? Er dachte an die Scheiben draußen, die von Kugeln wie gespickt waren, wenn ein einziges Schrapnell richtig vor der Front krepiert war. Das wäre Wahnsinn gewesen. Kriechen mußten sie, laufen, springen und wieder kriechen! Und taten's auch, des Morgens, wenn sie ihre Gefechtsschießen auf dem Infanterieplatz abhielten, wo es dann so klang, als ob tausend Telegraphisten emsig bei der Arbeit wären, – immer tack – tack – tack – tack.
Wozu also dieser Unfug, der die Leute nur erbitterte?
Denn die Kameraden von der Infanterie zogen nicht eben heitere Mienen, und besonders auf den dürren, gelben Major richteten sie Blicke, die voll verhaltener Verwünschungen und Drohungen waren. Wenn sie dann einrückten, stellten sie ihre Gewehre in die Ecke, waren todmüde und fluchten über die Zwangsjacke, in der sie steckten.
Zu alledem trug eine Kompagnie des Bataillons die Kaiserabzeichen an den Ärmeln, – sie hatte also 272 am besten im Armeekorps geschossen. Gleichwohl wurde ihr genau so mitgespielt, wie den anderen, und die ausgezeichneten Schützen lernten ihren Rock trotz der Abzeichen am Ende genau so hassen, wie die anderen. Darnach kam es doch also darauf an, daß diese Masse von Menschen mit Armen und Beinen einer Maschine möglichst gleich kam. Das war wichtiger als das Schießen.
Vogt wußte nicht, was er davon denken sollte. Vielleicht hatte das alles doch seinen Sinn, er kannte ihn nur nicht.
Jedenfalls nahm er sich vor, den Vater darum zu befragen. Der war ja Infanterist gewesen.
Einstweilen konnte er nicht anders, – die armen Kerls taten ihm von Herzen leid.
Und wahrhaftig, man brauchte durchaus nicht in allem mit einem Sozialdemokraten wie Weise übereinzustimmen, aber in manchen Dingen – da hatte er ganz zweifellos recht.
Weise begann jetzt des Abends, wenn die Unteroffiziere in den Kantinen saßen und die Mannschaften ihre Schemel in die offene Veranda nach dem Walde zu hinausgetragen hatten, das große Wort zu führen. Rauchend oder ihr Zeug instand setzend, hockten die Kameraden um ihn herum und lauschten seinen Reden.
Wenn ein paar Kameraden, die vom Lande kamen, über ihre harte Arbeit, über die unbegrenzte Arbeitszeit und über den geringen Lohn sich beklagten, dann lachte er hell auf.
»Das laßt ihr euch gefallen von euren Herren Gutsbesitzern?« höhnte er. »So dumm seid ihr? Ja, wenn ihr keinen Mucks dagegen sagt, verdient ihr's gar nicht besser! Noch ärger müßtet ihr geschunden werden!« 273
Und er erzählte, wie es in seinem Berufe als Maschinenschlosser zuging. Wenn einem da etwas zu Unrecht geschah, oder wenn der Lohn zu niedrig schien, dann gab es einen frischen, freien Streik. Natürlich suchte man sich dazu die passendste Zeit aus, in der die Fabriken die dringendsten Aufträge hatten. Die Gewerkschaft, der man selbstverständlich angehören mußte, hielt jeden Zuzug fern, und so kämpfte man's durch, bis wieder ein neuer Arbeitsvertrag geschlossen wurde. Meist setzte man ja nicht alles von den Forderungen durch, aber ohne irgend einen Vorteil für die Arbeiter lief selten ein Streik aus. Jawohl, man mußte den Leuten nur zeigen, daß man auch eine Macht war, daß man sich nicht auf dem Kopfe herumtanzen ließ, sondern auch seinen Teil an dem Gewinnst haben wollte, den die Reichen doch nur durch den sauren Schweiß der Arbeiter verdienten und in die weiten Taschen steckten.
Die Kameraden aus den ländlichen Gegenden spitzten die Ohren und merkten sich diese einfache Weisheit. Die konnte man auch mal daheim verwenden, und wenn die dickköpfigen Gutsbesitzer nicht mitmachten, – ei was: dann rückte man eben aus und zog in die Stadt, wo man den so- und sovielfachen Lohn bekam und seine neun oder höchstens zehn Stunden arbeitete, keine Minute darüber!
Oder Weise rechnete vor, wie viel ein Tag in diesen Schießübungen wohl kostete. Das war ja nicht schwer auszurechnen. Ein Schuß kostete ungefähr fünfzehn Mark, und gegen einhundertundzwanzig Schuß hatte die eine, sechste Batterie, am Morgen getan. Sechs Batterien hatte das Regiment, vier Regimenter das Armeekorps, und dreiundzwanzig Armeekorps gab es in Deutschland. 274
»Mag's ausrechnen, wer will!« meinte Weise. »Jedenfalls reicht das Geld hin, um allen armen Teufeln der Welt mal einen guten Tag zu machen!«
Die Mannschaften nickten: das war sehr richtig.
Und Weise fuhr fort: das war ja nur ein kleiner Teil von dem Riesengelde, das es kostete, diese zahllosen Regimenter Infanterie, Kavallerie, Artillerie und was sonst noch, bei der Fahne zu halten. Er zog ein Blättchen hervor und las eine Summe ab, die Deutschland jährlich für sein Heer bezahlen mußte.
Da rissen die Kameraden die Augen auf! Ein Heidengeld war das, von dem man sich gar keine rechte Vorstellung machen konnte!
Manchmal wandte einer ein: »Aber sieh mal, Landsmann, wenn nun ein Krieg wird, und wir haben keine Soldaten?«
Dann hielt Weise dawider: »Krieg! Krieg!! – Was Krieg!! Wer macht denn den Krieg? – Willst du etwa, daß Krieg wird? Daß du dich hinstellen mußt, gerade so wie hier, draußen am Ziel, wo einem die Schrapnellkugeln in den Schädel fahren und in den Bauch?«
»Nein, – ich nicht.«
»Oder du etwa, Findeisen?«
»Ich? – Gott verdamm mich, – nein!«
»Oder du, Truchseß?«
Der Brauer sann nach und antwortete: »Ich? – Nein, wahrhaftig nicht. Ich will, daß Frieden ist. Aber die Franzosen drüben wollen vielleicht Krieg, oder die Russen.«
»Hoho!« versetzte Weise. »Stell' dir mal vor: da drüben in Frankreich sitzen so einfache, arme Kerls zusammen, wie wir hier. Frag' sie mal, ob sie sich 275 plötzlich mir nichts dir nichts totschießen lassen wollen? Glaubst du, daß sie ja sagen werden?«
»Nein. Das glaube ich nun auch nicht. – Aber – aber wer will denn dann überhaupt den Krieg?«
Weise schwieg eine Weile und lachte ein wenig. Dann erwiderte er, die Achseln zuckend: »Ja – das weiß ich doch nicht. Niemand wahrscheinlich. – So viel ist nur klar: wir wollen ihn nicht.«
In der Veranda war es dunkel geworden, und die einzelnen Gesichter waren nicht mehr zu erkennen. Alle brüteten schweigend vor sich hin.
Endlich begann der Brauer seufzend: »Aber wozu dann das viele schöne Geld?«
Und Weise antwortete lustig: »Nicht? Landsmann, wenn's wenigstens ein paar Schoppen für jeden davon gäbe?«
»Ja, das wäre wohl gut,« schmunzelte Truchseß, »ein paar Schoppen für jeden!« –
Bei diesen Unterhaltungen pflegte Wolf, der hagere Kanonier vom alten Jahrgang, seitwärts an einer Holzsäule zu lehnen. Er hörte auf das Gespräch, aber er beteiligte sich nie daran.
Wenn dann die Kameraden sich in die Stuben zurückgezogen hatten, um sich niederzulegen, blieb er noch immer, in die wunderschöne Waldnacht hinausschauend.
Die Gewißheit, daß »der große Tag der Freiheit« anbrechen mußte, stand für ihn so fest wie die Sonne am Himmel. Bei den eigenen Parteigenossen war er als ein Schwärmer und Phantast angesehen, der im nüchternen Parteikampfe zuweilen sogar unbequem werden konnte, wenn man sich einmal nicht gänzlich einwandfreier Mittel bedienen mußte. Er redete dann von einer »Befleckung der reinen Sache der Freiheit« 276 und ähnliche Phrasen, die sehr nett klangen, mit denen man aber keinen Hund vom Ofen locken konnte.
Er selbst freilich zögerte nicht, seine Überzeugung in Taten umzusetzen. Er schränkte seine persönlichen Bedürfnisse bis auf das Unentbehrlichste ein, nur um die Genossen bei irgend einem Ausstand zu unterstützen, und wie er bereitwillig seinen sauer verdienten Lohn hingab, mit dem er sich sein Leben hätte schmücken können, so würde er das Leben selbst hingegeben haben, wenn er der guten Sache damit hätte einen Dienst leisten können. Ohne seine im letzten Grunde weiche und träumerische Natur wäre er vielleicht ein Propagandist der Tat geworden, mehr passiv, wie er war, hatte er nur das Zeug zu einem Märtyrer.
Keiner sehnte so inbrünstig wie er das Ende der Militärdienstzeit herbei. Zweimal zurückgestellt, war er erst bei der dritten Musterung ausgehoben worden. Der Umstand allein, daß er drei Jahre älter war als die übrigen Rekruten seines Jahrgangs hätte ihn trotzdem nicht zu sehr von den Kameraden abgesondert. Aber er wehrte sich geradezu dagegen, sich unter sie zu mischen und vertraut mit ihnen zu werden. Er, der jeden Tag beklagt hatte, an dem er nicht für die Zwecke der Sozialdemokratie und der Revolution tätig gewesen war, die Lauen mahnend und die Säumigen anspornend, für die Gewerkschaften werbend und für die Ausständigen in irgend einem Winkel des Reichs sammelnd, – er sollte zwei lange Jahre hindurch kein Wort von dem über die Lippen gehen lassen, was ihm das Herz bewegte, was ihm einzig den Kopf beherrschte, was sich ihm mit jeder Silbe auf die Zunge drängte? – Das war ihm unmöglich. Und darum hielt er sich lieber von allem näheren 277 Verkehr fern. So war er am sichersten, keine Dummheit zu begehen, die ihm etwa noch eine Verlängerung des verhaßten Zwanges hätte eintragen können.
Sonst hatte er sich nur eine sehr unklare Vorstellung von dem Begriff der Freiheit machen können, jetzt meinte er zuweilen klarer zu sehen. Freiheit – das war die Zeit nach der Entlassung, die Zeit, in der er nicht mehr im Soldatenrock steckte. Eine einstweilige Auslegung natürlich, – aber vorderhand lag ihm diese Freiheit am meisten am Herzen.
Wenn er in diesen Wochen Weise seine heimlich aufreizenden Reden halten hörte, drängte es ihn jedesmal, hinzuzutreten und mitzusprechen, und er wußte, die Worte wären ihm viel überzeugender und fortreißender vom Munde geflossen als jenem. Aber er wußte ebenso genau, daß er dann Tags darauf in festem Gewahrsam sitzen würde, und schwieg. –
Auch ohne ihn war der Zweck erreicht. Man sah es den Bauernburschen und den anderen, die etwa bisher noch nichts von Sozialismus und Arbeiterbewegung gehört hatten, nach diesen Gesprächen deutlich an, wie ihnen die neue, schmackhafte Weisheit im Kopfe herumging, obwohl noch kein direktes Wort der Propaganda an sie gerichtet worden war. Es war die langsam und unmerklich vorschreitende Vorbereitung des Bodens, in dem die Saat später unfehlbar Wurzel schlagen mußte.
Und wenn dieser Erfolg schon bei der eigenen Truppe, wo der Dienst nicht lästig und drückend war, deutlich erkennbar zu Tage trat, wie mußten solche scheinbar harmlose Reden erst bei den Infanteristen drüben wirken, denen man fast absichtlich die geringe vorhandene Lust am Soldatenleben durch den tödlich langweiligen Paradedrill zu verleiden schien! 278
Vor kurzem war drüben ein Mann mitten im »Griffekloppen« plötzlich wahnsinnig geworden. Er hatte getobt und geschrieen wie ein wildes Tier, dann waren Krämpfe eingetreten, in denen er sich mit Schaum vor dem Munde und gräßlich verdrehten Augen auf der Erde wand, darnach wiederum eine furchtbare Erschöpfung und eine so lange anhaltende Bewußtlosigkeit, daß man bereits alle Hoffnung verloren hatte, den Kranken wieder ins Leben zurückzurufen. Aber er war wieder »zu Sinnen« gekommen und schaute nun mit blöden Augen vor sich hin, unverständliche Worte lallend und nicht fähig zu denken. Der Verstand war ihm verloren gegangen.
Wer wollte sagen, was an diesem Unglück schuld war? Die Sonne, die Überanstrengung, vielleicht eine ererbte Anlage, die früher oder später doch zur Katastrophe geführt hätte? Niemals würde sich das feststellen lassen. Aber die Mannschaften, die den armen Teufel gesehen und gehört hatten, wie er sich wand und wie er schrie, faßten ihre Gewehre krampfhaft fest, und allen stand derselbe Gedanke in den Blicken geschrieben.
Auf diese Art gestaltete sich gerade die Militärdienstzeit ungemein fruchtbar für die Sozialdemokratie. Es bedurfte nicht einmal eines so hervorstechenden Falles, daß einer zusammenbrach und hernach blödsinnig wurde, – die Verhältnisse warben ganz von selbst für den Sozialismus.
Wolf sah, welche Rolle Weise in der Batterie spielte.
So war es überall. Niemals bestand eine Rekrutenquote aus gleichgearteten Leuten, immer waren ländliche und städtische Elemente gemischt. Die Städter, wenn auch geringer an Zahl, hatten doch 279 über die Bauernburschen sofort ein Übergewicht. Sie waren geweckter und in der Erziehung des städtischen Lebens gewandter geworden als jene. Eben infolgedessen eigneten sie sich auch schneller die Erfordernisse des militärischen Dienstes an, so daß sie oft sogar bessere Soldaten wurden, als die schwer begreifenden Landrekruten. So geschah es ganz ohne willkürliches Zutun, daß die Städter unter den Mannschaften, fast ausnahmslos industrielle Arbeiter, über ihre Kameraden eine geistige Oberherrschaft ausübten, die sie natürlich nicht gerade zur Verherrlichung der patriarchalischen ländlichen Verhältnisse benutzten. Bei weitem die meisten von ihnen waren gar nicht mit Bewußtsein sozialistische Agitatoren, ganz unbewußt teilten sie den Kameraden die Ideen mit, die ihnen selbstverständlich erschienen, für jene aber einen Umsturz des ganzen Denkens bedeuteten.
Nun war der Acker gepflügt, und der Boden lag bereit da, den Samen zu empfangen. Und draußen ließ der Säemann nicht auf sich warten, dafür sorgte schon die Partei.
Was nützte es dann, daß in bestimmten Zwischenräumen die Kasernen bis auf den letzten Schrankwinkel nach sozialistischen Schriften durchsucht wurden, daß immer wieder das Verbot, sich an sozialistischen Betätigungen und Veranstaltungen zu beteiligen, verlesen wurde? Natürlich war keiner so fabelhaft dumm, dawider zu handeln, und die Wissenden lachten über diese naiven Verordnungen. Flugblätter und rote Schleifen hätte man allenfalls konfiszieren können, wie aber sollte man luftigen, flüchtigen Gedanken nachjagen? Diese unfaßbaren Verbrecher saßen vor Vergnügen zappelnd auf den Schränken und hielten sich die Nasen zu, wenn die Offiziere die schmutzigen 280 Hemden der Mannschaften auseinander wickeln ließen und mit den Säbelscheiden im muffigen Bettstroh stöberten.
Und bei ihm, Wolf, der natürlich von vornherein dem Regiment als höchst verdächtiges Element signalisiert worden war, wurde stets am eingehendsten gesucht. Wegstetten funkelte ihn jedesmal mit seinen messerscharfen Augen an, als ob er irgendwo im Kopfe nach einem besonderen Versteck für die sozialistische Kontrebande suchte. Gewiß doch, da innen war sie aufgespeichert, in Haufen, großen, großen Haufen, – aber zwischen seinen Strümpfen und Unterhosen war nichts verborgen.
O nein, er war auf der Hut. Sogar von den disputierenden Kameraden hielt er sich fern. Lieber lehnte er an der Holzsäule der Veranda. Er schaute in die Waldnacht hinaus und wartete auf den Tag, der ihm für sein Teil zunächst die Freiheit des Kommens und Gehens, des Tuns und Lassens, zurückgeben sollte.
Und er schwärmte und phantasierte weiter: jetzt war es noch Nacht, aber einmal mußte auch der andere Morgen heraufdämmern, der Morgen der großen, allgemeinen Weltfreiheit. Irgend einmal, – das war gewiß.
* * *
So voller Leben das Barackenlager an den Werktagen war, so still lag es an den Sonntagen da.
Der Umkreis, den die Mannschaften ohne Urlaub nicht überschreiten durften, war ziemlich weit gezogen. Drei große Bauerndörfer lagen darin, und in ihre Wirtshäuser ergoß sich Sonntags die Menge der im Lager verquartierten Soldaten. Die spekulativen Schankwirte waren vortrefflich auf diesen 281 Massenbesuch eingerichtet. Sie hatten im Freien große Brettergerüste aufgeschlagen, auf denen unermüdlich getanzt wurde. Die einzelnen Regimentskapellen spielten dazu auf, und Bier wurde an einem einzigen Sonntage oft mehr verschänkt, als das ganze Dorf den langen Winter über trank.
Allerdings mußten starke Patrouillen zum Ordnungsdienst auf diese Tanzplätze und Schankstätten abgeordnet werden.
Da es viel zu wenig Tänzerinnen gab, brach alle Augenblicke ein Streit aus, der selten gütlich beigelegt wurde. Gemeinhin kam es zu einer Schlägerei; zuweilen artete der Zank aber auch in eine richtige Schlacht aus. Denn abgesehen von den privaten Parteiungen spielten dann die Eifersüchteleien der einzelnen Waffengattungen und der »Kouleuren« untereinander eine Rolle.
In den Dörfern am Truppenübungsplatz war es übrigens ortsüblicher Gebrauch geworden, die Mägde nur mit monatlicher Kündigungsfrist zu dingen. Die Bauern konnten ihnen sowieso von dem Eintritt des Winters ab kaum noch schwere Arbeiten zumuten.
Es waren auch noch andere weibliche Wesen vorhanden, nicht Dienstpersonen, sondern Damen, die sich diese Dörfer als Sommerfrische erkoren hatten.
Diese verursachten der Kommandantur des Truppenübungsplatzes das meiste Kopfzerbrechen. Es kam vor, daß die Mannschaften vor den Türen dieser Sommerwohnungen Queue bildeten, wie die Leute vor den Bäckerläden bei einer Hungersnot, und wenn dann ein paar Betrunkene darunter ungeduldig wurden, entstand auch hier eine Prügelei. Übelwollende erlaubten sich über solche Vorgänge höhnische Glossen. Man wäre auch nur zu gern gegen das Übel eingeschritten. 282 Es ging andererseits jedoch auch nicht an, an den bedrohten Stellen Posten aufziehen zu lassen. Schließlich half man sich dadurch, daß man auf die Ortsbehörden einen sanften moralischen Druck ausübte.
Und die wackeren Gemeindekollegien bereiteten dem Unfug durch eine administrative Ausweisung das verdiente Ende. –
Als die Kameraden sich zum Ausgehen fertig machten, fragte Vogt den Schreiber: »Nun, Heinrich, was wird aus uns? Wollen wir mitgehen, ein Glas Bier trinken und dem Rummel ein bißchen zusehen?«
»Wie du willst, Franz,« erwiderte Klitzing.
»Also nicht,« meinte Vogt. »Du sollst's doch gleich sagen, wenn dir was nicht paßt. Übrigens, ich hatte auch keine Lust, und, weißt du, Bier kriegen wir ja auch in der Kantine, – da gehen wir jetzt ein bißchen am Wald lang nach den Zielen heraus. Nicht?«
»Gerne, Franz.«
Sie ließen die Kameraden abziehen und schlenderten dann langsam in den kühlen Wald hinein. Der große Trupp verließ das Lager durch das Lattentor und wanderte auf der harten Chaussee den Dörfern zu, die man in der Ferne liegen sah.
Vogt sah der Staubwolke nach.
»Begreifst du, was die an den Frauenzimmern finden?« fragte er.
»Nein, wahrhaftig nicht.«
»Du machst dir wohl überhaupt nichts aus Frauenzimmern?«
Der Schreiber schüttelte verneinend den Kopf.
»Und du, Franz?« erkundigte er sich.
»Ich auch nicht. Jetzt wenigstens nicht.«
Es war bei beiden die Wahrheit. Das Leben war ihnen in so anhaltender Arbeit verflossen, daß 283 sie niemals die Muße gefunden hatten, sich mit Liebeleien abzugeben. Und was man nicht kannte, vermißte man nicht.
Immer im Schatten des Waldrandes gehend, waren sie endlich an den Zielen angekommen. Die schwarzen, geteerten Brettscheiben waren für den nächsten Tag schon bereit gestellt und starrten mutig dem Schrecken der bevorstehenden Beschießung ins Gesicht.
Etwas seitwärts von der Hauptschußrichtung ragten die Ruinen eines Dorfes in den blauen Sommerhimmel. Der Staat hatte es bei einer Erweiterung des Platzes angekauft, und es war stehen geblieben, um die Wirkung der Geschosse gegen Gebäude zu erproben.
Die Granaten hatten auch redlich ihre Schuldigkeit getan. Starke Mauern waren von klaffenden Rissen durchzogen, Essenköpfe und Giebel umgeworfen. In einzelnen Häusern schienen die Geschosse gezündet zu haben, und was die Feuersbrunst an Holzteilen übrig gelassen hatte, das war von irgendwem gestohlen und weggeschleppt worden. Nirgends, wohin man auch blickte, waren in einem Flur Treppen oder in einer Stube Dielen zu sehen. Die Dachsparren und Tragebalken hatte man abgehauen und Türen und Fenster samt den Verschalungen herausgerissen. An die Wände waren mit Farbe und Rötel Zeichnungen geschmiert, scherzhafte Inschriften und Ferkeleien; meist aber lag der Kalkputz abgefallen unten am Boden, so daß das rohe Mauerwerk hervortrat.
Es war ein trostloses Bild der Verwüstung. Fast meinte man noch den Geruch des Brandes zu spüren.
Vogt sah finster über die Trümmer hinweg und sagte: »So also sieht's ungefähr auch im Kriege aus! 284 Gottsdonnerwetter! Es ist ganz richtig: den Krieg müßte man abschaffen!«
Klitzing lachte still vor sich hin.
»Wer fängt aber an?« versetzte er.
Der andere fuhr in die Höhe: »Das ist ja das Dumme!«
»Siehst du, Franz! Und weißt du, wir machen das nicht.«
»Wer denn?«
»Die Zeit ganz von selbst, – das Leben.«
Schweigend traten sie den Rückweg nach dem Lager an. Beinahe anderthalb Stunden lang waren sie bis zu der Dorfruine unterwegs gewesen. Nun stach die Sonne nicht mehr allzu sehr, – so gingen sie quer über die Heide. Zuweilen mußten sie einen Umweg um eine Grube machen, die ein aufschlagendes Geschoß in den Boden gewühlt hatte. An diesen Stellen trat die derbe, dunkle Erde unter der aufgerissenen, von Wurzeln durchzogenen Narbe zu Tage.
Vogt zerrieb einen Brocken davon zwischen den Fingern. Der Boden war nicht so schlecht, als man zuerst glaubte. Wenn auch nicht gerade Weizen darauf wachsen würde, Hafer gedieh ganz sicher. Und er stellte sich statt der unfruchtbaren Fläche mit dem halbverdorrten Heidekrautgestrüpp ein großes, wogendes Haferfeld vor.
War es nicht schade, daß diese Erde, zum Fruchttragen bestimmt, brach lag?
Mit einem Male fing Klitzing an: »Weißt du, Franz, am liebsten raufte ich mir einen Arm voll von dem Heidekraut aus und nähme ihn mit auf die Stube. Bloß daß ich immer den Geruch hätte!« 285
Vogt knurrte: »Du bist wohl nicht recht klug, Heinrich?«
»Wieso denn?«
»Na, solches Zeug, das zu nichts nutze ist!«
Vogt konnte den Schreiber schlechterdings nicht begreifen. Was konnte einer an dem dürren Kräuticht finden? Er schüttelte mißbilligend den Kopf und trat mit seinem breiten Stiefel eine Staude nieder, die, über und über mit roten Blüten bedeckt, ganz besonders frech sich ihm in den Weg drängte. –
Reichlich drei Wochen währte der Aufenthalt des Regiments auf dem Truppenübungsplatz, dann vollzog sich, abermals in drei Tagen, der Rückmarsch nach der Garnison.
Als die lange Reihe der Fahrzeuge durch das Lattentor das Lager verließ, dröhnten bereits vom Schießplatze die Schüsse der Truppenteile herüber, die am Abend vorher neu eingetroffen waren.
In der Garnison mußte die erste Zeit hauptsächlich auf die Wiederinstandsetzung der Bekleidung und Ausrüstung verwandt werden. Besonders aber tat den Pferden eine außergewöhnliche Pflege not. Von der runden Glätte, die die Gäule beim Ausmarsch zur Schau getragen hatten, war nicht mehr viel zu spüren, und selbst den Geheimmitteln des Hauptmanns Heuschkel war es nicht gelungen, die fortschreitende Magerkeit seiner Rappen aufzuhalten.
Da die Gespanne geschont werden sollten, fielen größere Exerzierübungen von selbst weg. Im ganzen war auch mit der Schießübung die Ausbildung der Mannschaften vollendet, es blieb nur übrig, das Gelernte tiefer einzuprägen und Kleinigkeiten hinzuzufügen.
»Herstellungsarbeiten am Geschütz« war der 286 Dienstzweig, der noch die meiste Zeit in Anspruch nahm. Vogt zeichnete sich dabei besonders aus. Selbst die Unteroffiziere waren nicht leicht so findig und gewandt wie er, wenn es galt, einen angenommenen Deichselbruch oder ein zerschossenes Rad wiederherzustellen. Darin zeigte sich ein Nutzen seiner Erziehung: der Vater hatte es stets möglichst vermieden, Handwerker im Hause zu haben, er war sich selbst Schmied, Schlosser, Zimmermann und Stellmacher gewesen, und der Sohn hatte ihm darin nachgeeifert. Das kam dem Burschen nun trefflich zustatten, und da er es sonst nirgends zu einem besonders hervorragenden Soldaten gebracht hatte, setzte er seinen Ehrgeiz darein, wenigstens in dieser Dienstgattung sich hervorzutun. Er wollte doch nicht gegen Klitzing, den besten Richtkanonier der Batterie, ganz zurückstehen!
Insgeheim lauerten die beiden Freunde aber hauptsächlich auf den Urlaub, der den Mannschaften für die Zeit nach den Schießübungen verheißen war.
Am ersten Sonnabend des Juli durften sie reisen, und acht Tage waren ihnen bewilligt worden.
So lange waren nur sehr wenige beurlaubt, und der Hauptmann versäumte auch nicht, Vogt und Klitzing in einer kleinen Ansprache auf diese Vergünstigung hinzuweisen, die sie sich nur durch ihre tadellose Führung während der Schießübungen verdient hätten.
Das war eines von den kleinen Mitteln Wegstettens, die guten Elemente unter den Mannschaften immer von neuem anzuspornen, daß er die kargen Belohnungen, die der Dienst erlaubte, ihnen in einem besonders glänzenden Lichte erscheinen ließ. Er scheute dabei nicht vor unschuldigen Übertreibungen zurück und sprach von diesen acht Tagen Urlaub als 287 von einer höchst seltenen Auszeichnung, die jahrelang nicht vorgekommen sei.
Im allgemeinen verfehlte er dabei seinen Zweck nicht. Vogt und Klitzing standen, vor Stolz errötend, vor ihrem Batteriechef und hatten das Gefühl, sich bedanken und versprechen zu müssen, weiterhin ihre Pflicht tun zu wollen. Sie wußten nur nicht wie. Schließlich ermannte sich Klitzing zu ein paar stockenden Worten.
Der Hauptmann hörte ihn freundlich an. Er hatte bald erkannt, daß er es hier mit zwei braven, ehrlichen Burschen zu tun hatte, und schmiedete sein Eisen, indem er sie leutselig nach ihrer Heimat fragte. Als es dabei herauskam, daß der eine den anderen zu sich eingeladen hatte, lobte er diese treue Kameradschaft. Aber vorsichtshalber fragte er Vogt, was denn sein Vater sei. Konnte das nicht am Ende auch so ein Umstürzler sein, dem dann gleich zwei auf einmal ins Netz liefen? Unwahrscheinlich war es ja, – so sah der Mann nicht aus – und die Antwort »Chausseegeldereinnehmer und Feldwebel außer Diensten« beruhigte ihn vollkommen.
Er sah sich Vogt plötzlich genauer an. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte der Kanonier das Zeug zu einem brauchbaren Unteroffizier. Er beschloß, ihn jedenfalls im Auge zu behalten. Den anderen, den Schreiber, konnte man beim besten Willen nicht brauchen. Der kam im Herbste ins Bureau. Das war aber auch alles, was man aus ihm machen konnte.
Übrigens, wenn man die beiden Kerls ansah, waren sie ein sehr ungleiches Paar. Komisch, dachte er, wie sich zuweilen so ganz verschiedene Elemente zusammenfanden, der derbe Bauer vom Lande und der kränkliche Schreiber mit der Stubenfarbe, 288 die auch die Sonne des Truppenübungsplatzes nicht ganz hatte wegbrennen können, ein richtiges kümmerliches Produkt der Großstadt.
Er nahm sich vor, gelegentlich dem Oberst von dieser Verbrüderung von Stadt und Land zu erzählen. Falkenhein liebte solche Beweise einer individuellen Beschäftigung mit dem einzelnen Soldaten.
* * *
Der erste Sonnabend des Juli war für den Chausseegeldereinnehmer a. D. Friedrich August Vogt ein Tag der Unruhe. Er brummte und schalt unzufrieden mit sich selbst, wie man so alle Gesetztheit verlieren konnte.
Warum? – Weil einem der Junge, allerdings der einzige, zum ersten Male wieder nach Hause kam.
Das war doch wahrhaftig kein Ereignis, das einen so außer Rand und Band bringen durfte!
Dabei war es gerade eine Zeit, in der die Arbeit nicht übermäßig drängte. Man konnte sich nicht einmal durch tüchtiges Zugreifen die Erwartung verkürzen. Die Heuernte war längst zu Ende, und der Roggen brauchte noch etwa vierzehn Tage oder drei Wochen, bis er schnittreif wurde. Außerdem hatte der Chausseegeldereinnehmer gewissermaßen vorgearbeitet, um nur ja für den Sohn rechte Muße zu haben. Nun lief er unruhig umher, sah bald einmal im Stall nach den drei Kühen, die glänzend geputzt und gestriegelt ihre Mittagsmahlzeit bedächtig wiederkäuten, bald schaute er unwillkürlich durch das Fenster nach der Straße aus, auf der der Junge mit seinem Kameraden kommen mußte, obwohl es noch Stunden währte, bis der Zug unten im Tal an der Haltestelle ankam. 289
Hinterdrein zankte er mit sich, daß er es für einen alten Soldaten unpassend und zu weichherzig gefunden hatte, den Sohn an der Station abzuholen. Dann hätte er jetzt, da er von der Höhe aus den Zug hatte einlaufen sehen, wenigstens gewußt, ob der Franz wirklich mitgekommen und richtig ausgestiegen war.
Es hielt ihn nicht mehr im Hause. Er ging auf der Landstraße bis zu einer Stelle vor, von der aus er den Weg fast bis zur Bahnlinie verfolgen konnte. Unten fuhr der Zug wieder an, man sah die weißen Rauchwolken der Lokomotive hinter dem Stationsgebäude emporsteigen und hörte den Pfiff, – aber von den beiden Urlaubern war noch nichts zu erblicken. Sollte der Franz gar sich erst zu einem Glase Bier hingesetzt haben?
Nein doch, jetzt sah man zwei Menschen aus der Dorfstraße auf die freie Chaussee heraustreten, die Helme und die Uniformknöpfe blitzten in der Sonne, – das mußten sie sein!
Der Chausseegeldereinnehmer zog sich etwas zurück, so daß er gegen Sicht gedeckt war. Was brauchte der Junge zu wissen, daß sich sein Vater nach ihm die Augen aus dem Kopfe schaute? Er wartete noch im Hinterhalt, bis er die Kugeln auf den Helmen der beiden Soldaten unterscheiden konnte, – dann war kein Zweifel mehr: es war der Junge und sein Freund. Artillerist war sonst kein Bursche in der Nachbarschaft.
Als Vogt und Klitzing vor dem Einnehmerhaus ankamen, blickte der Vater wie ganz zufällig aus dem Fenster.
»Na, da seid ihr ja!« sagte er und hieß alle beide mit einem derben Händeschütteln willkommen. 290
Ohne weiteres vermochten sich aber seine Augen nicht von dem Anblick des Sohnes loszureißen. Was war der Franz doch für ein stattlicher, kräftiger Mensch geworden! Und der alte, brave, ehrliche Bursche war er auch geblieben, das stand ihm im Gesicht geschrieben! Aber gleichwohl konnte er ihm nicht gut um den Hals fallen. Da würde der Junge schön geguckt haben! Das war er von seinem Vater nicht gewöhnt!
Der andere, Franzens Freund, flößte mit seinem freien, offenen Blick sofort Zutrauen ein. Sonst freilich sah er aus, als ob er sein Leben lang nicht satt zu essen bekommen hätte. Der mußte einmal gehörig herausgefüttert werden! Nun, während des Urlaubs sollte es ihm an nichts gebrechen.
Die beiden Kanoniere waren geschwind eingerichtet, und natürlich hatte es sich der Franz nicht nehmen lassen, gleich noch am ersten Abend, während der Vater die Kühe molk und fütterte, nach den Feldern zu sehen. Er hatte fast ein wenig gehofft, daß irgendwo etwas versäumt sein möchte, weil er ja nicht bei der Bestellung dabei gewesen war. Aber nein. Der Vater hatte es nirgends und an nichts fehlen lassen.
Trotzdem merkte man dem Chausseegeldereinnehmer die doppelte Arbeit des Winters nicht im geringsten an. Franz freute sich über das frische, liebe Gesicht und über die lebendigen, frohen Augen des Vaters. Und wie gerade und aufrecht sich der Sechzigjährige noch hielt! Und vor allem, wie munter und lebhaft er sich gab! So munter, wie der Sohn es noch nie an ihm bemerkt hatte! –
In der Tat war der Chausseegeldereinnehmer angesichts der beiden jungen Soldaten ein ganz anderer 291 geworden. Er spürte plötzlich, daß das ruhige, gleichmäßig fließende Bauernblut das alte, frische Soldtatenblut in ihm noch nicht ganz verdrängt hatte. Die Erzählungen der beiden Artilleristen über ihren Dienst fesselten ihn. Was war da nicht alles anders geworden seit seiner Dienstzeit! Er konnte nicht genug davon hören, und was er für unmöglich gehalten hatte, bewirkte der Anblick der Uniformen an seinem Tische: er ging aus sich heraus und erzählte von seinen Feldzugserlebnissen, zuerst zögernd, dann immer wärmer werdend und schließlich sich selbst an seinen Erinnerungen begeisternd.
Eines Abends, als der Vater geendet hatte, sagte Franz zu Vogt: »Vater, das ist ja richtig, daß man bei der Infanterie ganz anders ins Gefecht kommt als bei uns, aber ich bin doch froh, daß ich Artillerist bin.
»Warum?« fragte der Chausseegeldeinnehmer erstaunt.
Nun kam der junge Soldat auf seine Beobachtungen während der Schießübungen zu sprechen: wie er durch den Zaun das Infanteriebataillon stundenlang sich hatte plagen sehen, und wie doch nichts zustande gekommen war, wie der dürre Major vor Wut geschäumt hatte, und wie endlich jener arme Teufel mitten im Dienst körperlich und geistig zusammengebrochen war.
»Sag' mir bloß, Vater,« sprach er, »warum müssen die Griffe so ängstlich zusammen klappen? Was soll diese Gleichmäßigkeit in allen Kleinigkeiten für einen Zweck haben?«
Friedrich August Vogt hatte seinen Sohn ruhig ausreden lassen, obwohl ihm die Worte auf der Zunge brannten. Nun aber begann er: »Junge, sieh mal, das kannst du als einfacher Soldat nicht so ohne 292 weiteres verstehen. Aber du kannst mir glauben, dieser Drill, das ist das allerwichtigste, das, was jedem Soldaten zuerst beigebracht werden muß. Denn das allein gibt den militärischen Gehorsam, die soldatische Unterordnung, die Disziplin. Das gibt den Zusammenhalt, daß eine Kompagnie auch dann nicht auseinander läuft, wenn eins von euren neumodischen, gruseligen Schrapnells einschlägt. Ohne den Drill würden die Feiglinge ohne Federlesen Kehrt machen und ausreißen und schließlich die Mutigen mit fortreißen. Der Drill zwingt sie, zu bleiben und sich zusammenzuschließen.«
Und er erzählte von den Schlachten des großen Feldzugs: wie da die Schützenschwärme zuweilen auseinander gestoben wären, wie aber dann die geschlossenen Kompagniekolonnen durchgedrückt hätten, wie sich die Reihen immer wieder geschlossen hätten, wie einer in die Lücke des anderen getreten wäre, und wie sie nicht nachgegeben hätten, bis der Feind erreicht war und das Handgemenge begann.
»Das war dieser eiserne Drill!« schloß er. »Ohne den hätten wir einpacken können, mein Junge, und darum wollen wir ja nichts auf ihn kommen lassen.«
Dabei blieb er, selbst noch als ihm der Sohn erzählte, wie er bei dem Gefechtsexerzieren der Infanterie nirgends eine geschlossene Kolonne habe vorrücken sehen, wie vielmehr die Kompagnien allesamt zerstreut, mit gekrümmtem Rücken oder gar kriechend, gegen die angenommenen Ziele vorgegangen seien.
»Das wirst du dann nicht recht gesehen haben,« meinte der Vater.
Klitzing nahm an diesen Auseinandersetzungen nur wenig Anteil. Er war derselben Ansicht wie sein Kamerad, aber er wollte dem freundlichen, weißbärtigen 293 Mann, der ihn so gütig aufgenommen hatte, nicht widersprechen und führte nur im Scherze sich als Beispiel an, daß er bei der Parade so schlecht abgeschnitten und hernach doch auf dem Schießplatze einen Preis und ein ellenlanges Lob erhalten hätte.
Er fühlte sich unbeschreiblich glücklich im Vaterhause des Freundes.
»Du, Junge,« hatte der Chausseegeldereinnehmer gleich am ersten Abend des Urlaubs gesagt, »du siehst ja prachtvoll gesund aus, aber dein Freund, der arme Kerl, der soll sich nur recht gründlich bei uns ausruhen. Es tut ihm sehr not.«
So schlief Klitzing Tag für Tag bis tief in den Morgen hinein. Er schämte sich ein wenig, wenn er so spät erst zum Vorschein kam. Aber dieses ganz ungehinderte Sichgehenlassen war gar zu wundervoll, und außerdem redeten ihm die beiden Vogts so dringlich zu, ja nur die Ruhe der Urlaubswoche auszugenießen, daß er sich gar nicht erst Mühe gab, anders zu werden.
An den Nachmittagen ließ der alte Vogt nicht einmal seinen Sohn etwas angreifen.
Er schickte dann die Jungens fort. »Geht, Jungens!« sprach er, »macht, daß ihr fortkommt! Tut einen Gang, trinkt irgendwo ein Glas Bier, – was ihr wollt! Genießt eure paar Tage!«
Dann zogen sich die beiden Burschen an. Sie setzten sich zu einem Trunk ins Wirtshaus oder ließen sich im Freien die warme Sonne auf den Pelz brennen. Vogt hatte dem Freund seinen Lieblingsplatz gezeigt, die Stelle, von der aus man drüben über dem Fluß die Burg der Kreisstadt sah. Da legten sie sich ins Gras. Der Bauer mußte immer einmal aufstehen. Er hatte keine Ruhe: er mußte sich die umliegenden Felder besehen. Der Schreiber aber lag in dem kurzen Grase 294 und blinzelte unter den halbgeschlossenen Lidern hervor in den Sommerhimmel.
Eines Abends fragte ihn der Chausseegeldereinnehmer: »Nun, Klitzing, wie gefällt's Ihnen denn bei uns auf dem Dorfe?«
Da antwortete er: »Herr Vogt, wenn ich nur wüßte, wie ich Ihnen danken könnte! Am liebsten bliebe ich wahrhaftig ganz hier! Ich habe ja nie gewußt, daß ein Mensch jemals so glücklich sein könnte, wie ich jetzt.«