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»Die Kugeln sind alle von Eisen und Blei
Und manche Kugel geht manchem vorbei.«
(Altes Soldatenlied.)
Kläre Güntz nährte ihren Knaben.
Durch das dichte Laub des Birnbaums schien die Sonne auf die mütterliche Brust und auf das runde Gesicht des Kindes. Wenn die Strahlen die munteren Augen des Buben trafen, haschten zwei dicke Fäustchen nach den hellen Lichtern und gaben sich Mühe, sie wegzuschieben. Die zarten Fingerchen griffen in die leere Luft. Da hörte der Knabe zu trinken auf und schaute mit erstaunten Blicken nach dem unbegreiflichen Wunder. Gleich darauf aber drückte er wieder seine Nase in die weiche Brust und setzte sein Mahl fort.
Die Mutter neigte sich mit einem strahlenden Lächeln über ihr Kind und drückte es behutsam an sich.
Auf der einen Seite von einer hohen Mauer, auf der anderen von dichtem Gesträuch begrenzt, schien dieser Gartenplatz allen Berührungen und Geräuschen der Außenwelt als eine Stätte des Glücks und des Friedens entrückt zu sein. Ringsum herrschte jene Stille eines Sommermorgens, in der man Segen und Fruchtbarkeit von den Frühsonnenstrahlen auf Blatt, Blüte und Halm tropfen zu hören meint. 342
Das Kind trank noch ein paar leise Züge, dann sank das Köpfchen matt und satt auf das Kissen zurück. Kläre legte den kleinen Burschen in den Wagen. Er blinzelte noch ein paarmal mit dem Ausdruck höchster Zufriedenheit in den Tag hinein, dann bettete er sich behaglich auf die Seite und schlummerte ein.
Die junge Mutter stützte das Kinn auf den Korbrand des Wagens und ließ keinen Blick von ihrem Knaben. Tränen traten ihr in die Augen.
In der feierlichen Ruhe dieses Morgens, in der Abgeschiedenheit dieses Gartenflecks, angesichts ihres Kindes, das als ein Abbild der Gesundheit vor ihr schlief, von dessen kräftigem Saugen ihr noch hinterdrein die Brust ein wenig schmerzte, – in dieser Fülle des Glückes fühlte sie sich so von Dankbarkeit durchdrungen, daß sie weinen mußte, heilige Tränen der Freude über die Seligkeit zu leben.
Mit einem Male schrak sie empor.
Kläre Güntz hielt solche Augenblicke der Ergriffenheit zwar nicht gerade für unstatthaft, aber keinenfalls durfte man sich so weichen Regungen allzu lange hingeben. Das Bewußtsein eines so großen Glückes mußte erst recht in mutiges Handeln umgesetzt werden. Eines wie das andere bedeutete eine höchste Ausstrahlung des Lebens, jenes innere Überwältigtsein durch die Freude des Daseins, und ein stolzgehobenes Tätigsein in der Überzeugung vom Werte der Arbeit. Sie neigte dazu, der letzten Ansicht noch den Vorzug zu geben.
Deshalb richtete sie sich straff auf und nahm eifrig ihre Näharbeit zur Hand.
Aber diese Beschäftigung der Hände vollzog sich beinahe mechanisch. Kläre Güntz konnte, wie Cäsar, zweierlei auf einmal treiben: flicken, stopfen, nähen 343 oder was sonst in diesen Gattungsbegriff gehörte, und zugleich nachdenken.
Ihr Gatte machte ihr Sorge.
Gesundheitlich nicht. Denn er wurde von ihr mit aller hausfraulichen Sorgfalt und Liebe und nach allen Regeln der Hygiene gepflegt und gehegt. Aber er, der sonst so fest auf seinem Platze in der Welt gestanden hatte, litt an einer inneren Unsicherheit. Seine Stimmungen waren ungleich, und zuweilen bemächtigte sich des heiteren, zielbewußten Menschen eine unentschlossene Niedergeschlagenheit.
Diese Verstimmungen hatten im Dienst ihren Grund. Das hatte Kläre sofort herausbekommen. Die ewigen Zänkereien mit dem unangenehmen Chef, dem alten Saufaus Mohr, trugen die Schuld. Der Hauptmann nämlich, der in dem ihm beigeordneten ältesten Oberleutnant den Rivalen und Nachfolger witterte, stemmte sich mit Hand und Fuß gegen jede bessernde Maßregel, die Güntz in der Batterie einzuführen versuchte. Das gab dann Hin- und Widerreden, unangenehme Beschwerden und Rechtfertigungen und täglichen Verdruß.
Der Oberleutnant hielt es für unangemessen, diese dienstliche Angelegenheit bei den gemeinsamen Abendmahlzeiten vor dem Obersten zur Sprache zu bringen, und Falkenhein, der es eigentlich erwartet hatte, war hinterdrein der Meinung, daß Güntz den Kampf mit Mohr durchfechten wolle, so gut oder so schlecht es eben ging. Wessen Partei er als gewissenhafter Kommandeur nehmen mußte, stand ihm von vornherein fest.
Am Ende machte Frau Kläre den ewigen Verstimmungen ein Ende.
Güntz hatte ihr streng verboten, je sich in dienstliche Dinge zu mischen, aber sie redete sich vor sich 344 selbst heraus, daß sich dieses Verbot auf einen so außerordentlichen Fall nicht hätte beziehen können. Sie faßte daher den Entschluß, sich an den Oberst zu wenden. Dabei war sie ehrlich genug, ihren Selbstbetrug sich zu gestehen. Wann würde ihr ein Fall wohl nicht außerordentlich erscheinen, in dem es sich um ihren Gatten handelte?
Aber wenn sie sah, mit wie albernen und kleinlichen oder sogar ungehörigen Gesuchen zu Gunsten der Männer die anderen Regimentsdamen, mehr oder weniger taktvoll, an die Vorgesetzten herantraten, warum sollte sie die Gelegenheit, die gerade für sie infolge der Nachbarschaft so günstig lag, nicht einmal in einer wirklich ernsten Sache ausnutzen?
Der Oberst erfüllte auch in der Tat ihre Bitte um Güntz' Versetzung, und Kläre war nicht wenig stolz auf ihren Erfolg. Im Grunde durfte sie sich ihn indessen nur zum kleinsten Teile zuschreiben.
Allerdings hatte ihr Falkenhein aufmerksam zugehört, während er gewöhnlich die Damen nur aus Galanterie zu Ende reden ließ. Er schätzte eben die tüchtige, kluge Frau aufrichtig hoch. Aber er würde auch ihr Ersuchen ohne weiteres abgeschlagen haben, wenn ihm nicht selbst die Notwendigkeit der erbetenen Maßregel eingeleuchtet hätte. Die ohnehin gelockerte Disziplin der fünften Batterie litt unter den fortgesetzten Reibungen der beiden Offiziere immer mehr. Er hielt Mohr für ein dem königlichen Dienst geradezu schädliches Element. Unbegreiflicherweise war der Hauptmann bis jetzt durch irgendwelche fremdartige Einflüsse – man sprach von einem verwandten, sehr einflußreichen Ministerialdirektor des Kultusressorts – noch gehalten worden, aber er, der Regimentskommandeur, wollte in den Konduiten schon dafür sorgen, 345 daß der unbrauchbare Herr spätestens im Frühjahre den Abschied bekam. Bis dahin hieß es notgedrungen die Lotterwirtschaft noch mit ansehen. Aber Güntz mußte von der fünften Batterie weg. Es traf sich gut, daß Wegstetten zu den österreichischen Manövern abgeordnet wurde. So übernahm Güntz die Führung der sechsten Batterie, und die Angelegenheit erhielt damit sogar einen sehr natürlichen Anstrich, da dem ältesten Oberleutnant des Regiments dieses Kommando ohnehin zufallen mußte.
Güntz merkte von der kleinen Intrigue seiner Frau nicht das geringste. Er übernahm sein neues Amt mit frischem Mut, und die neuartige Stellung schien ihm zu behagen. Trotzdem fand er sein früheres, fröhliches Gleichgewicht nicht ganz wieder. Über irgend etwas war er nicht mit sich im Reinen, irgend etwas quälte ihn auch jetzt noch.
Kläre, durch ihren letzten Scheinerfolg ein wenig eitel geworden, hätte gar zu gern auch diese letzte Wolke vom Himmel verscheucht. Sie hatte Gefallen an der Rolle der »Fee« gefunden, – aber beim besten Willen bekam sie nicht heraus, was den Gatten niederdrückte. Wenn man ihn fragte, antwortete er ausweichend: »Ich weiß nicht, was du willst. Man hat doch auch mal ernstere Anwandlungen.«
Die »ernsten Anwandlungen« kamen leider nur ein wenig oft.
Nun sann die junge Frau immer wieder nach. Sie prüfte alle Möglichkeiten, – aber nirgends fand sie etwas Stichhaltiges. –
In Wahrheit fühlte sich Güntz mit jedem Tage weniger von der Offizierslaufbahn befriedigt. Beinahe glaubte er, seinen Beruf verfehlt zu haben. Es war nur sehr hart, das erst zu erkennen, nachdem man 346 die zwölf frischesten Jahre des Lebens daran gegeben hatte. Immerhin hielt er die Zeit für eine einschneidende Änderung noch nicht für zu spät, und er ging sehr ernstlich mit dem Plane um, den Abschied einzureichen, um sich einer ingenieurtechnischen Tätigkeit, seiner alten Neigung, ganz zu widmen.
Die Lust dazu war ihm schon während des Kommandos zur Artillerie-Prüfungs-Kommission gekommen, und er hatte die Rückkehr in den Frontdienst gewissermaßen als eine Probe auf das Exempel angesehen, ob er sich von neuem in den Trott des Alltags hineinfinden könnte. Am Ende bestimmte er sich selbst eine Frist, nach der er sich endgültig entscheiden wollte: ein Jahr wollte er Batteriechef sein, dann sollte es heißen entweder – oder.
Während der Mißhelligkeiten mit Hauptmann Mohr war er oft versucht, sogleich ein Ende zu machen. Aber nach diesen besonders ungünstigen Verhältnissen durfte sich sein Schicksal doch nicht entscheiden. Brav und gewissenhaft kämpfte er seinen Unmut stets wieder nieder.
Am fünfzehnten August übernahm er die Führung der 6. Batterie. Er atmete in dem neuen Tätigkeitsbereiche erleichtert auf, aber seltsamerweise kehrte ihm auch jetzt die volle Lust am Soldatenhandwerk nicht zurück.
Dabei war die Batterie Wegstetten, soweit ein Offizier überhaupt einen Einblick in den Zustand einer Truppe gewinnen konnte, in einer tadellosen Verfassung.
Der einzige, der nicht in die schöne Ordnung hineinzupassen schien, war Leutnant Landsberg. Der junge Mann war in eine wahre Freudenraserei verfallen, als Wegstettens Abkommandierung bekannt 347 gegeben wurde. Die Hand des Chefs hatte schwer auf ihm gelastet; Wegstetten hatte sich zugeschworen, den Leutnant zu einem tüchtigen Offizier zu erziehen, und da kein Mittel bei dem interesselosen Herrn verfing, wollte er ihm wenigstens das Vergnügen gründlich versalzen, die Vorzüge der Offiziersstellung zu genießen, ohne dafür auch nur den bescheidensten dienstlichen Ansprüchen zu genügen.
In Wegstettens Abwesenheit glaubte Landsberg viel eher nach seinem Gefallen leben zu können. Oberleutnant Güntz, der die Batterie führen sollte, war doch eben halb und halb ein Kamerad, der ganz unmöglich ebenso schroff den Dienst handhaben konnte, wie ein regulärer Hauptmann und Batteriechef.
Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nahm er sich daher gleich von Anfang an Eigenmächtigkeiten heraus, die ihm unter Wegstettens Regiment als ungeheuerliche Majestätsverbrechen erschienen wären. Er erschien zu dem wenigen angesetzten Dienst nicht allzu pünktlich und blieb zuweilen sogar ganz fern, selbst wenn die Reihe des Wochendienstes an ihm war.
Güntz versuchte zuerst durch Reimers freundschaftlich auf Landsberg einzuwirken, aber der junge Herr faßte das als eine höchst private, sehr überflüssige Streberei von Seiten des Kameraden auf. Als ihm Reimers schließlich erklärte, er handle im Auftrage des Batterieführers, wehrte er lachend ab: »Nee, lieber Reimers, das machen Sie mir nicht weis, da kenne ich den gemütlichen, dicken Güntz besser als Sie, sein Freund!«
Dabei blieb er. Er nahm das gütliche Zureden des Kameraden einfach nicht ernst. Reimers wußte nicht, ob er ihn mehr für dumm oder für frech halten sollte. Es war eine Mischung von beidem. 348 Güntz aber fuchtelte mit seinem Reitstock grimmig in der Luft herum und sagte zu dem Freund: »Ei sieh! So steht das Ding? Nun, dieses Bürschchen kriege ich klein!«
Dann lud er sich wenigstens einen Teil der Gedanken, die ihn gerade in diesen Tagen mit schweren Zweifeln bedrückten, von der Seele und fuhr fort: »Siehst du, mein Junge, dieser Landsberg soll mir in kurzem de- und wehmütig zu Kreuze kriechen. Es sind ja Mittel dazu da, mehr wie genug. Aber das Schlimme ist, daß der Mensch nicht eine Ausnahmeerscheinung ist, sondern der Vertreter einer Gattung. Allerdings ein ganz besonders übles Exemplar, die Krone dieser Gattung. Aber sie laufen zahlreich genug herum, diese dekorativen Offiziere! Diese Kerls, denen das, was den Offiziersberuf eigentlich ausmacht – aufrichtige Hingabe an den Dienst auch im Geringsten, Nebensächlichsten und immer im Ausblick auf die Verwendung im Ernstfall –, eine fürchterlich gleichgültige Beigabe ist, die Uniform aber und die Ehren und Vorteile, die sie gewährt, die große Hauptsache! Wenn das so weiter geht in dem äußerlichen, hohlen Geiste, wie er jetzt Mode ist, wird schließlich einmal die Mehrzahl zu ihnen gehören. Und deshalb nützt es am Ende nicht gar zu viel, wenn man wenigstens mal einen auf eine Zeitlang zur Raison bringt. Sobald er einen etwas milderen Chef erwischt, reißt die Schlamperei sofort wieder ein. Und überleg' dir die Perspektive, mein guter Junge! Wenn diese schlappe, interesselose Bande avanziert, was wird dann? Nur teilweise werden diese nichtsnutzigen Leutnants vernünftig, wenn sie zum Hauptmann aufrücken. Bei der großen Mehrzahl ist die Lotterei, die Oberflächlichkeit in den langen zehn oder mehr Jahren sozusagen 349 zur Lebensauffassung geworden, die sie trotz aller Verantwortlichkeit nicht los werden und aus der heraus sie dann handeln. Dann, wenn sie auf einmal nichts taugen, werden sie entweder abgewimmelt und essen als Pensionäre ein unverdientes Gnadenbrot – natürlich nur in diesem Falle unverdient –, oder aber, wenn sie eine Cousine oder einen Großonkel irgendwo sitzen haben, die ein gewichtiges gutes Wort einlegen, oder wenn sie aus guter oder gar bester Familie oder recht gottesfürchtig sind, dann hat der liebe Gott ein Einsehen und läßt den Schaden dadurch noch größer werden, daß die untauglichen Hauptleute sogar Stabsoffiziere werden.«
Reimers wollte erwidern, aber Güntz wehrte seinen Einwand mit einer entschiedenen Geste ab und fuhr fort: »Für den heutigen jungen Offizier ist die Unlust zu dem, was seinen Beruf ureigentlich ausmacht, tatsächlich und leider geradezu typisch. Jawohl, Unlust ist das, oder Nichtachtung, oder wie du es sonst nennen willst. Der junge Mann steht auf einem höchst verantwortungsvollen Posten, und man erweist ihm Ehren, wie sie nur einem ganz und gar fertigen Menschen gebühren, trotz seiner Jugend! Und wie peinlich hält er darauf, daß es keiner daran fehlen läßt! Aber er? Ich sage dir, diese ganze Leutnantszeit, wie sie von den meisten Kameraden betrachtet und ausgenutzt wird, kommt mir vor wie ein richtiges Studentenleben. Man bummelt, tut gerade den Dienst, den man tun muß, lacht sich eins, wenn man angepfiffen wird, dann amüsiert man sich dafür desto mehr und flucht immer mehr über jedes Stündchen Dienst, das dazwischen kommt. Nichts als eine fortgesetzte Bummelei! Denn Hauptmann wird ja am Ende jeder, der nicht gerade wegen Dummheit arretiert werden 350 muß, – sobald er nicht Wechsel fälscht oder irgend was anderes pecciert, natürlich.«
Reimers wandte ein: »Na, weißt du, so furchtbar einfach ist die Sache denn doch nicht!«
Aber Güntz erwiderte: »Doch, und immer doch! Die einfachen Formeln, nach denen sich unser Dienst vollzieht, so aufzunehmen, daß sie für die Besichtigungen ausreichen, das ist kinderleicht. Und darauf ist der Vorgesetzte für sein Urteil angewiesen! Aber sie so geistig zu verarbeiten, daß man sie zu jeder Zeit und unter jeden Verhältnissen zur Hand hat, – denn ausprobiert sind sie auf ihre Güte hin –, das ist allerdings schwer und erfordert eine lange, gründliche Arbeit. Wer hat aber dazu Lust und Laune? Auf die Besichtigungen hin wird allein gearbeitet. Wenn man nur da gut abgeschnitten hat, dann ist man fein raus! Im übrigen mag der liebe Gott sorgen! Man hat so einen Kerl wie Landsberg in der Batterie, man soll ihn erziehen, – sehr schön! Aber wie wird's gemacht? Da werden wahre Listen ersonnen, um den Mister Landsberg durchzuschleppen. Von allen Seiten wird er geleitet und gepäppelt. »Hierhin!« »Dorthin!« »Mehr links!« – alles wird dem Herrn zugeflüstert, damit nur ja alles schön klappt. Daß der besichtigende Vorgesetzte dadurch ein falsches Bild erhält, das ist gleichgiltig. Es hat alles schön zusammengestimmt, basta! Ein Lehrer darf in seiner Klasse gute und schlechte Schüler haben, – aber wehe dem Batteriechef, der sich durch einen schlechten Offizier blamiert! Er hat ihn nicht erziehen können! Und anstatt, daß ein unfähiger Mensch hinausgetan wird, wenn er's verdient, wird noch ein gut Teil Mühe und Arbeit an ihn verschwendet, vollkommen für die Katz! Fauler Zauber! Anstatt daß man den jungen Leuten 351 tausenderlei von den Verpflichtungen vorschwatzt, die Ehre des Standes nach außen zu vertreten, sollte man ihnen lieber beibringen, wie sie sie innerlich hochzuhalten haben, – durch ehrliche und gewissenhafte Hingabe an ihre Pflicht!«
»Du übertreibst!« murmelte Reimers.
»Ich wollte selbst, ich tät's!« antwortete Güntz. »Aber geh mal hin zu jedem einzelnen von den Kameraden, frag' sie: Macht es Ihnen Freude, Rekruten auszubilden? Stehen Sie früh mit dem frischen Entschlusse auf: heute will ich mal tüchtig dazu helfen, dem König gute Soldaten zu erziehen? Oder brummen Sie beim Erwachen: der Teufel hole das dreckige Rekrutenpack? – Und mit eben dem löblichen Gedanken stehen sie dann dabei!«
»Warum fragst du aber nicht lieber, mit was für Gedanken man in den Schießübungen und im Manöver aufwacht?«
»Mein Junge, weil das eine aus dem andern hervorgeht. Ohne Rekrutenausbildung keine Schießübung und kein Manöver. Es ist doch nicht anders, als daß wir bei den Mannschaften die Stelle eines militärischen Lehrers einnehmen. Nun, die Schießübungen sind gewissermaßen das Examen für die Leute, das Manöver, das weißt du ja auch, lehrt die Mannschaften gar nichts Neues, es ist mehr eine Prüfung für die höheren Offiziere. Der Lehrer aber, der nur im Examen prunken will, der nicht um des Unterrichtens selbst willen alle Lust und Begeisterung auf seinen Beruf verwendet, – der kann mir gestohlen bleiben!«
»Und doch hast du unrecht!« beharrte Reimers.
»Ja, das wohl –«
»Siehst du, da sagst du es selbst!«
»Aber anders, als du denkst. Ich meine nämlich, 352 die jungen Offiziere tragen nur zum Teil die Schuld an ihrem Fehler, den anderen Teil trägt das ganze System.«
»Welches System?«
»Nun, das System unseres ganzen Heeresdienstes, unserer militärischen Erziehung.«
»Hat es sich nicht in drei Feldzügen bewährt?«
Güntz schwieg eine Weile, dann antwortete er ablenkend: »Ja gewiß. Aber das ist dir doch nicht fremd, daß sich ein System stets genau so lange bewährt, bis es zusammenkracht?«
»Übrigens,« fuhr er fort, »das gehört zu meinen Privatgedanken, die ich dir einstweilen noch verheimlichen muß. Ich bin eben dabei, die letzte Probe zu machen. Dann werde ich mich entschließen müssen.«
»Wozu?«
»Ob ich Offizier bleibe oder nicht.«
Das traf Reimers wie ein Schlag. »Güntz, du bist toll!« rief er.
Der Freund schüttelte ernst den Kopf und sagte: »Wir werden ja sehen.«
Dann warf er mit einem energischen Ruck die vorzeitigen Sorgen hinter sich, sein Gesicht heiterte sich auf und nahm einen fröhlichen, kampfesfreudigen Ausdruck an, und er sprach: »Vorderhand wollen wir aber mal den Mister Landsberg unter die Kandare nehmen. So lange ich die Offiziersepauletten trage, so lange werfe ich auch nicht die Flinte ins Korn.«
Reimers drang in ihn, ihm endlich seine Befürchtungen anzuvertrauen, aber Güntz wich aus.
»Ich weiß,« wehrte er ab, »das ist eine Frage, die gerade dir gewissermaßen ans Leben geht. Da wäre es das himmelschreiendste Unrecht, dich schon jetzt mit Dingen zu beunruhigen, die mir selbst noch 353 schwankend und nicht genügend erwiesen erscheinen. Wart's darum ab, lieber Junge!«
Und Reimers gab sich zufrieden mit diesem Bescheid, schwere Sorge im Herzen, denn er kannte Güntz als einen überaus gewissenhaften und bedachtsamen Menschen und doch fast siegesgewiß. Eine solche Flut von verteidigenden, für ihn ganz unwiderlegbaren Beweisen und Entgegnungen brannte ihm auf der Seele. – –
Einstweilen nahm Güntz frisch den Handschuh auf, den ihm der Übermut Landsbergs hingeworfen hatte. Er hatte sich vorgenommen, die Keckheit des jungen Herrn, wenn irgend möglich nur mit denjenigen Mitteln zu zähmen, die ihm als Batterieführer zu Gebote standen. Trotz seiner ehrlichen Wut über den laffigen, uniformierten Müßiggänger sträubte sich das ihm eigene große Maß von Gutmütigkeit und Kameradschaftlichkeit dagegen, dem Leutnant ernsthafte Ungelegenheiten zu bereiten. Theoretisch war er felsenfest von der Schädlichkeit des Typus Landsberg überzeugt, aber in der Praxis griff er im höchsten Grade ungern zu scharfen Mitteln. Wie die meisten von jenen hellblonden Menschen, die zur Korpulenz neigen, brachte er die Willenskraft, die ihm aus den hellen Augen strahlte, am liebsten nur gegen sich selbst zur Geltung. Gegen sich übte er jede Strenge, und für seine Angelegenheiten zog er allenthalben auch die äußersten Konsequenzen, – anderen gegenüber blieb er möglichst lange liebenswürdig und versöhnlich.
Aber der Indolenz Landsbergs war mit so harmlosen Maßregeln nicht beizukommen.
Güntz beauftragte ihn, die vom Regiment angeordnete Revision der Kammern zu überwachen – und fand ihn in tiefem Schlafe auf einem sorgfältig 354 aus Decken hergerichteten Lager. Das war eine grobe Pflichtverletzung, denn dem Befehle zufolge sollte sich der revidierende Offizier die Bestände vom Kammersergeanten vorzählen lassen. Und nicht genug damit: Landsberg hatte auch noch Kanoniere als Schnurrposten ausgestellt, um nicht vom Batterieführer überrascht zu werden, – Mißbrauch der Dienstgewalt also.
Zur Rede gestellt, entschuldigte er sich: »Ich bitte gehorsamst um Verzeihung, aber ich meinte wirklich, es käme auf ein paar Dutzend Hufnägel, die eventuell fehlen, nicht an.«
Güntz verspürte nicht die geringste Lust, dem Leutnant einen leicht möglichen Fall vorzuhalten, in dem das Fehlen von »ein paar Dutzend Hufnägeln« tatsächlich eine Batterie hätte teilweise zur Unbeweglichkeit verurteilen können; er erteilte ihm kurz und scharf einen Verweis.
In streng vorschriftsmäßiger Haltung nahm Landsberg die Strafe entgegen. Aber eine ganz unverhältnismäßige Wut glimmte in seinen Blicken empor. So wenig war dem jungen Mann die dienstliche Unterordnung in Fleisch und Blut übergegangen, daß er den Verweis, den er von Wegstetten ohne weiteres hingenommen haben würde, beinahe für eine Beleidigung hielt, weil er ihm von einem nur zeitweiligen Vorgesetzten erteilt worden war, den zufällig noch ein paar Wochen vom Hauptmannsrang trennten. Er nahm sich allen Ernstes vor, über Güntz Beschwerde zu führen, und ersuchte zuvörderst den Batteriekameraden Reimers um die vorgeschriebene Vermittlung, die einer Beschwerde stets vorangehen muß. Reimers indessen wies ihn höflich und bestimmt ab und tat noch ein übriges, indem er ihm zum so und sovielten Male gütlich zuredete, durch einen regeren 355 Diensteifer allen weiteren Mißhelligkeiten von vornherein vorzubeugen.
Scheinbar war Landsberg überzeugt, und sein Verhalten gab eine Zeitlang nur selten Anlaß zu Tadel. Aber im Kreise der jüngeren Herren ließ er dunkle Andeutungen fallen, daß er für die ihm widerfahrene »Beleidigung« an dem ekelhaften Streber und Gesinnungsprotz Güntz schon einmal gehörige Revanche nehmen würde. Er lebte sich allmählich in einen wahren Haß gegen Güntz hinein, und durch diesen Haß bekam sein vorher leeres Leben einen bestimmenden Inhalt. Er schwor es sich zu: Güntz mußte ihm vor die Pistole, und wenn es ihm sein Portepee kosten sollte.
Im Grunde beruhte diese jähe Wut auf der gewaltigen Enttäuschung, die ihm der Offiziersberuf bereitet hatte.
Zum Teufel auch! Er verfügte über einen stattlichen Zuschuß und hatte als Leutnant sein junges Leben, gehoben durch den glänzenden Rahmen der Uniform, zu genießen gedacht. Nun stellte sich plötzlich der anscheinend so einfache Plan als eine höchst zweischneidige Geschichte heraus. Als man die ekelhafte Plackerei als Fähnrich und auf Kriegsschule glücklich hinter sich hatte, war ja immer noch Dienst zu tun! Das war schon unter Wegstetten im höchsten Grade unbequem gewesen, aber so peinlich und so beständig war ihm selbst dieser nicht im Nacken gesessen wie jetzt Güntz. Wenn er sich nur bei den Besichtigungen zusammengenommen hatte, waren ihm von Wegstetten die Zügel doch ein wenig locker gelassen worden, aber wie es Güntz trieb, das war nichts anderes als persönliche Chicane. Und als Schlimmstes kam noch hinzu, daß man ewig diese 356 boshaften Quengeleien als dienstliche Anordnungen stumm hinunterschlucken mußte. Man hielt den Mund, legte die Hand an die Mütze und quittierte noch für die gnädige Strafe mit einer dankenden Verbeugung.
Durch jeden Tadel wurde Landsbergs Grimm neu angefacht. Am Ende war er entschlossen, einen Streit mit Güntz vom Zaune zu brechen und ihn dabei irgendwie tätlich zu beleidigen. Dann war ein Duell unvermeidlich.
Natürlich mußte der Zwist einen möglichst privaten Charakter tragen. Landsberg sann über Mittel und Wege nach, wie sich das Renkontre herbeiführen ließe, aber alle Gründe und Gelegenheiten dünkten ihn albern und an den Haaren herbeigezogen.
Schließlich führte ein Zufall die Entscheidung herbei.
Die Offiziere der zweiten Abteilung des Regiments pflegten ein paarmal in den Sommermonaten auf dem »Auer«, einem einsamen Waldwirtshaus, zu kegeln. Der »Auer« war etwa eine Stunde Wegs von der Garnison entfernt und lag bereits inmitten des meilenweiten Kiefernforstes, der sich über das Gebirge bis zur Grenze hinzog. Die jüngeren Herren legten den Weg zu Rad zurück, die älteren zu Pferd oder auch im Krümper.
Major Schrader hatte diese Ausflüge eingerichtet und trug die Kosten dafür. Sie sollten gewissermaßen die Gelegenheit zu persönlichem Verkehr zwischen ihm und seinen Offizieren abgeben. Andere Vorgesetzte veranstalteten Gesellschaften oder gar Bälle, – er, als Junggeselle, lud seine Herren auf den »Auer« ein.
Er behauptete, ein Freund des Landlebens zu sein, und in der Tat ging es ländlich bescheiden bei diesen Partieen her. Pilsener Bier, daneben höchstens ein 357 Korn- oder Wachholderschnaps, bildete das Getränk, und beim Essen spielten frische Eier und frische Butter, schwarzes Landbrot und kräftiger Schinken die Hauptrolle. Der Klatsch freilich wollte wissen, die Auerwirtin sei eine ehemalige Geliebte des Majors. Schrader wehrte sich lachend gegen diesen Verdacht, obwohl er sich der stattlichen, drallen und peinlich sauberen Frau nicht hätte zu schämen brauchen. Tatsache war jedenfalls, daß noch niemand einen Auerwirt zu sehen bekommen hatte und daß die beiden halbwüchsigen derben Knaben der Wirtin, die beim Kegelaufsetzen munter halfen, eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Major aufwiesen.
Im Hofe des Auerwirtshauses, als man beim Aufbruch von einer solchen Schraderschen Kegelei die Räder aus dem Schuppen fuhr, kam Landsbergs Groll zum Ausbruch.
Gerade in diesem Augenblick dachte er nicht im entferntesten an seine Rache. Er hatte, dem leichten Biere schwerere Getränke vorziehend, fast allein eine halbe Flasche Wachholder bis auf den Grund geleert und war eher schläfrig gestimmt, so daß er nicht sogleich sein Zweirad herausfand. Güntz sagte ihm darüber eine harmlose Neckerei, und davon ausgehend, entbrannte ein heftiger Zank.
Schließlich wandte sich Güntz achselzuckend ab. Er hielt Landsberg für betrunken. Da eilte ihm der Leutnant plötzlich nach und führte einen Schlag nach ihm. Die niederfallende Hand streifte Güntz nur am Arm. Sogleich warfen sich auch die anderen Herren dazwischen und hielten Landsberg fest. Der junge Mensch war in eine Art Raserei verfallen, stieß mit den Füßen um sich und hatte Wutschaum vor dem Munde.
Schrader ließ ihn von seinem Adjutanten und 358 Hauptmann Madelung im Wagen nach Hause führen. Dann wandte er sich an Reimers: »Nicht wahr, lieber Reimers, Sie sorgen dafür, daß Ihr Freund Güntz ruhig nach Hause kommt?«
Reimers verbeugte sich und antwortete sein: »Zu Befehl, Herr Major.« – –
Güntz winkte dem Freunde zurückzubleiben. Von der dunklen Kegelbahn aus sahen sie zu, wie die Kameraden nach der Stadt sich aufmachten, alle durch den Zwischenfall bedrückt, statt der vorhergegangenen Lustigkeit eine tiefe Verstimmung auf den Gesichtern, halblaut sich unterhaltend und die leisen Worte mit vorsichtigen Gesten begleitend.
Und der Hof des Auerwirtshauses selbst schien sich verändert zu haben. Vorher war es der schlichte, freundliche Hof eines wohlhabenden, ländlichen Gasthauses gewesen, und die flackernden Lichter der Laternen, die der Hausknecht in beiden Händen hochhielt, hatten im Verein mit dem hellen Mondlicht den Platz beschienen, die hellen Kalkwände der Gebäude und Schuppen, die Ackergerätschaften und Leiterwagen in den Winkeln, die fröhlichen Gesichter der aufbrechenden Gäste und die weiße Schürze der rundlichen Wirtin. Nun hatte ein kalter Luftzug aus dem nächtlichen finstern Forst die ganze Heiterkeit und Fröhlichkeit des Bildes verwischt, der Hof war leer, die Wirtin in das Haus zurückgetreten, und das Mondlicht flimmerte blaß und bleich über Wände, Pflüge und Fahrzeuge und vermochte nicht die grämlichen Schatten aus den Ecken zu verscheuchen.
Ein paar Minuten lang ging Güntz schweigend in der kiesbestreuten Kegelbahn auf und ab. Reimers setzte sich in die kleine Bohnenlaube, wo noch das leere Fäßchen auf seinem Eisbett lag. Wenn Güntz draußen 359 auf dem Kegelbrett stehen blieb, hörte man die Tropfen des schmelzenden Eises in das irdene Becken fallen. Sonst war es ganz still, – bis wieder die Schritte auf dem knirschenden Kies sich näherten.
»Ich denke, nun können wir uns aufmachen,« sprach Güntz mit seiner ruhigen Stimme, die nur etwas spröde klang.
Reimers antwortete: »Gern – wie du willst.«
»Denn man zu!«
Auf dem Hofe blieb der Oberleutnant plötzlich stehen. Er räusperte sich und sagte: »Teufel auch! Ich habe einen unerträglichen Durst.«
Reimers bot sich an: »Ich hole dir ein Glas Bier aus der Schänkstube.«
»Nein, laß nur! Wasser wird mir besser tun,« versetzte Güntz.
Damit kehrte er in die Laube zurück, holte ein Glas und ging zum Brunnen. Der Schwengel schrie mißtönend in die Stille der Nacht hinein.
Reimers sah im Mondenlicht, wie der Freund das klare Wasser mit gierigen Zügen trank, noch einmal das Gefäß füllte und noch einmal leer trank.
Dann schritten sie nach dem Schuppen, in dem die Fahrräder untergebracht waren.
»Das herrlichste Wasser, das ich je getrunken habe!« sagte Güntz mit einem Seufzer der Befriedigung. »Kraft vom Wald und von der Erde!«
Der Schuppen war von einer trübseligen Öllampe spärlich erleuchtet. Die beiden Räder lehnten an der Wand. Außen war noch ein drittes zurückgeblieben, das Landsbergs. Güntz schob es in den bedeckten Raum zurück.
»Schade drum!« meinte er. »Der Nachttau verdirbt die Vernickelung.« 360
Der Hausknecht ließ sich nicht blicken, trotzdem er sein Trinkgeld noch zu erhalten hatte, – so schoben sie die Räder langsam zum Tore hinaus.
Vor dem Aufsitzen sprach Güntz: »Ich bitte dich, Junge, geh' morgen zeitig zu Landsberg und überbring' ihm die Pistolenforderung. Die Meldung an den Ehrenrat besorg' ich schon allein.«
Reimers antwortete ein einfaches »Ja«. Dann fragte er noch: »Und was für Bedingungen?«
Der Oberleutnant überlegte einen Augenblick.
»Mein Gott,« erwiderte er schließlich, »das setzt doch das Ehrengericht fest. Sag' also einstweilen fünfzehn Schritt, dreimaliger Kugelwechsel.«
»Schön.«
»Dann los! Aber vorsichtig! Es ist scheußlich dunkel.«
Langsam fuhren die Freunde die abfallende Straße hinab. Solange der Weg durch den Wald führte, hüllte der Schatten der Bäume die Fahrbahn in eine undurchdringliche Finsternis. Erst auf der freien, mondbeschienenen Chaussee ließ sich die Schnelligkeit der Fahrräder ausnützen.
Die Straßen der Stadt lagen menschenleer im Halbdunkel, trotzdem eben erst Mitternacht von den Uhren geschlagen hatte.
Wortlos fuhren die beiden Offiziere bis vor das Gartentor der Güntzschen Wohnung. Der Oberleutnant wollte sich kurz verabschieden, da hielt ihn Reimers fest.
»Du, Güntz,« sagte er stockend, »ich muß immer daran denken, daß eine Herausforderung aus dienstlichen Gründen unstatthaft ist. Und – ich glaube, der Fall liegt hier vor.« 361
»Natürlich,« erwiderte Güntz, »der innere Grund ist zweifellos dienstlich. Landsberg will sich revanchieren, weil ich ihn scharf herangenommen habe. Aber der äußere ist eben ganz anders geartet. Außerdem muß ich ihn doch fordern, lieber Junge.«
»Du hast recht,« gab Reimers zu.
Er stand noch eine Weile nachsinnend auf das Rad gelehnt, da drückte ihm Güntz die Hand und sprach: »Gute Nacht, lieber Kerl!«
Und Reimers antwortete: »Gute Nacht, mein guter Güntz!«
Er blickte dem Freunde nach, der mit festen Schritten den dunklen Laubengang des Gartens betrat. Noch eine Weile blieb er nachdenklich vor dem Gartentor stehen; darauf radelte er langsam nach seiner Wohnung. –
Güntz hing im Treppenflur vorsichtig sein Zweirad auf die Halter und stieg behutsam die Treppe zu den Schlafräumen, die im einzigen Stockwerk der kleinen Villa lagen, hinauf.
Er hatte für die Sommermonate, in denen der Dienst unter Umständen schon um fünf Uhr oder noch früher begann, sein Lager in einem Stübchen neben dem Schlafzimmer der Frau und des Kindes aufgeschlagen. Aber die Verbindungstür wurde stets offen gehalten.
Mit wenigen Griffen hatte er den Säbel abgelegt und sich der gespornten Stiefel entledigt. Nun trat er auf die Schwelle des Schlafzimmers und horchte in den dunklen Raum hinein. Vom Garten her hob ein leises Lüftchen die herabgelassene Fenstergardine mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf – und ließ sie wieder fallen. Irgendwo draußen im Grase saß ein Heimchen und zirpte, und durch das feine 362 Geräusch hindurch hörte er die tiefen, friedlichen Atemzüge der beiden Schläfer, die langsamen, lauten der Frau und die leisen, schnelleren des Kindes.
Güntz lehnte am Türpfosten und horchte immer wieder auf das zarte, gleichmäßige Geräusch. Eine Welt von Glück schloß dieses Zimmer für ihn ein, und der Atem der schlummernden Geliebten dünkte ihn die köstlichste Musik.
Mit einem Male überlief ihn in der warmen Augustnacht ein Frost. Eine bleierne Müdigkeit lähmte fast seine Glieder, und ein einziger gräßlicher Gedanke füllte sein Denken aus.
Mühevoll streifte er seine Kleider ab, und ein schwerer Schlaf nahm ihn in seine Arme. – –
Das Ehrengericht genehmigte die Forderung, aber es milderte die Bedingungen des Zweikampfs und setzte an die Stelle des dreimaligen Kugelwechsels einen zweimaligen bei fünfzehn Schritten Distanz. Am nächsten Morgen früh einhalb sechs Uhr sollte das Duell auf dem Revolverschießstand des Regiments stattfinden.
Reimers stellte sich, nachdem er am Morgen die Forderung an Landsberg ausgerichtet hatte, dem Freunde auch als Sekundant zur Verfügung. Er flüsterte Güntz Ort und Zeit zu, während dieser im Dienstzimmer am Tische Unterschriften erledigte.
Der Oberleutnant nickte kurz und antwortete: »Gut, ich spreche nachher noch mit dir.«
Reimers verließ darauf das Bureau wieder, und Güntz blieb allein am Pult zurück.
Alle Meldungen waren schon unterschrieben, nur die letzte lag noch vor ihm.
Immer und immer wieder las er sie durch, vom ersten bis zum letzten Worte: 363
»Die sechste Batterie meldet gehorsamst, daß bei dem Weidenlassen der Pferde auf den fiskalischen Wiesen südlich der Kaserne im Laufe des Sommers kein Fall von Kolik oder sonstigen Darm- bezw. Magenkrankheiten vorgekommen ist.«
Aber so oft er auch die Zeilen durchstudierte, – er fand keinen Sinn heraus.
Er dachte nicht einmal an den Zweikampf. Der Kopf war ihm taub und leer, und er las immer von neuem die Meldung über das Weidenlassen der Pferde.
Wachtmeister Heppner trat an ihn heran und fragte: »Wann befehlen Herr Oberleutnant, daß morgen die Batterie zur taktischen Übung bereit steht?«
Mit einem Male war Güntz wieder bei der Sache. Er unterschrieb die Meldung und lehnte sich zurück.
»Morgen? Hm!« murmelte er.
Einhalb sechs Uhr fand das Duell statt. Er überlegte: in einer Viertelstunde konnte man bequem den kurzen Weg vom Schießstand zur Kaserne zurücklegen.
»Punkt sechs,« antwortete er dann bestimmt.
Heppner erwiderte: »Zu Befehl, sechs Uhr,« und schrieb die Zahl in das Befehlsbuch.
»Jawohl, sechs Uhr,« wiederholte Güntz.
Wenn es ihm nicht mehr möglich war, führte eben Reimers die Batterie.
Es war Mittwoch, der Tag, an dem Reimers bei den Güntz' zu essen pflegte. Er wollte sich entschuldigen, damit der Freund sich ungestörter der Frau und dem Kinde widmen könnte, aber Güntz wehrte ab: »Keine Spur, mein Junge! Soll etwa die Kläre den Braten riechen? Nein, nein! Du kommst mit. 364 Zieh' du nur möglichst ein anderes Gesicht! Das ist die Hauptsache.«
Und er war den ganzen Rest des Tages von einer schönen, harmlosen Heiterkeit, kaum daß zuweilen in seiner Stimme ein innigerer Ton mitschwang.
Dagegen fragte Frau Kläre: »Aber was haben Sie nur heute, Herr Leutnant Reimers, sind Sie nicht wohl?«
Und Reimers versetzte: »Leider ja, gnädige Frau, die Hitze hat mich wohl ein wenig angegriffen.«
Kläre erwiderte: »Aber das tut mir wirklich leid.«
»Na,« fuhr sie munterer fort, »es geht in einem hin. Heute scheint überhaupt ein Pechtag zu sein. Der Oberst kann auch nicht abends noch herüberkommen, er ist nach Kühren zu seinem Vetter gefahren.« –
Reimers verabschiedete sich ungewöhnlich früh. In der Wohnung übergab ihm Gähler einen Brief Falkenheins.
Der Oberst schrieb:
Mein lieber Reimers, ich komme gegen 11 Uhr von Kühren zurück und bitte Sie, mich jedenfalls am Abend noch einmal aufzusuchen.
Ihr v. F.
Das war ein Hoffnungsschimmer! Vielleicht konnte dieses unselige Duell doch noch verhütet werden! Der Regimentskommandeur hatte ja in gewissen Fällen die Befugnis, das ehrengerichtliche Urteil zu suspendieren und bei Majestät einen Immediatbescheid zu erwirken.
Reimers konnte sich freilich nicht recht denken, worauf dieses Einschreiten gegründet sein sollte. Gerade der Fall Güntz-Landsberg lag so klar und eindeutig wie irgend möglich: ein Wortstreit, daraus hervorgehend die tätliche Beleidigung, wenn auch nicht 365 eben schwerer Art, die sich durch keine Revokation aus der Welt schaffen ließ, – eigentlich war der Zweikampf unvermeidlich.
Falkenhein wartete bereits. Der gesetzte, klare Mann war in einer fast fieberhaften Erregung. Ruhelos schritt er im Zimmer auf und ab, beständig einen Knopf des Überrocks auf- und zuknöpfend.
»Ich danke Ihnen, lieber Reimers,« sagte er mit halblauter, gepreßter Stimme und in stoßweisen Absätzen redend, »daß Sie gekommen sind. Sagen Sie, Sie sind morgen sein Sekundant?«
»Zu Befehl, Herr Oberst,« antwortete Reimers.
Falkenhein fuhr fort zu sprechen, immer einzelne Sätze vor sich hinflüsternd, wie in einem Selbstgespräch.
»Das ist gut, daß Sie dabei sein werden. Ja, das ist gut. – Ich – mußte Sie aber noch einmal sprechen vorher. Es ist wahr, ein Kommandeur soll seine Entschlüsse allein fassen, das hab' ich auch getan, – aber nun muß ich auch noch mit jemand reden können. Ich – bin nicht in Kühren gewesen, ich habe den Wagen weggeschickt und bin durch den Wald gelaufen. Lange, – allein. Dieses Duell nämlich – ist ein Unfug, ein abscheulicher Unfug. Jawohl! Aber die Hände sind mir gebunden. Ich kann nichts dagegen tun. Und wenn es schlimm abgeht, trage ich doch einen Teil der Verantwortung. Mein bester Offizier, der beste, vortrefflichste Mensch, gegen einen albernen Tunichtgut! Weiß Gott, zuweilen gebieten die Gesetze den baren Unsinn, und manche Begriffe sind ebenso gräulich unsinnig. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie ich den Schaden heilen könnte. Es ist unmöglich. Ich weiß, daß der eigentliche Grund bei Landsberg dienstlicher Verdruß ist, trotzdem – ich durfte nicht einschreiten.« 366
Der Oberst blieb dicht vor dem Leutnant stehen und fragte, ihm scharf in die Augen blickend: »Halten Sie nun wirklich Güntz in seiner Ehre gekränkt?«
Reimers schwieg. Ein »ja« erschien ihm ganz und gar unsinnig, und doch konnte er nicht »nein« sagen.
Falkenhein hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen, ohne eine Antwort abzuwarten. Eine Zeitlang blieben die beiden Männer stumm. Der Oberst war an die düster brennende Lampe herangetreten und schraubte den Docht bedächtig in die Höhe. Der junge Offizier stand noch immer auf dem Platz an der Tür, wo er seine erste Verbeugung gemacht hatte. Im helleren Schein der Lampenglocke sah er den Abglanz der heftigen inneren Bewegung im Antlitz des Obersts.
Endlich trat Falkenhein wieder an ihn heran.
»Nun, die Sache muß ihren Lauf nehmen,« sagte er in einem etwas freierem Tone. »Um eins wollt' ich Sie nur noch bitten: bringen Sie mir morgen, sobald alles vorüber ist, Nachricht, ganz persönlich, die offizielle erstattet mir ja Kauerhof, – der Unparteiischer ist, nicht wahr? Beeilen Sie sich aber! Ja? Und gar, wenn alles glücklich abgegangen ist! Reiten Sie dann ruhig drei Kreuze!«Die Schnelligkeit, mit der militärische Meldungen befördert werden sollen, wird durch Kreuze ausgedrückt. Ein Kreuz bedeutet, daß abwechselnd Schritt und Trab geritten werden soll, zwei Kreuze – starken Trab, drei Kreuze endlich – so schnell als möglich, was die Kräfte des Pferdes hergeben.
Er hielt die Hand des Leutnants in der seinen und drückte sie fest und herzlich. Ein Teil des guten Muts schien ihm zurückgekehrt zu sein. Er schloß, ganz leise lächelnd: »Nur dürfen Sie mir nicht dabei 367 den Hals brechen! Und nun, auf ein glückliches Wiedersehen!« –
Im Vorübergehen schaute Reimers nach der Güntz'schen Villa hinüber. Alles war dunkel, nur im Erdgeschoß, in dem Arbeitszimmer des Freundes, glänzte ein ruhig brennendes Licht. Nach oben warf es einen stark gedämpften Schein. Reimers kannte diesen Schimmer. Er ging von der Arbeitslampe des Freundes aus, die, mit einem dunkelgrünen Schirm überdeckt, die Schreibtischplatte hell beleuchtete, das übrige Zimmer aber in einem milden Dunkel ließ.
Güntz saß an seinem Schreibtisch und hatte mehrere Blätter Schreibpapier vor sich liegen. Länger als eine Stunde starrte er schon auf die weißen Bogen und überlegte.
Kurz nach zehn hatte Kläre den Knaben noch einmal genährt, dann war sie, das schläfrige Kind zärtlich im Arme wiegend, die Treppe hinaufgestiegen. Der Gatte hatte ihr durch eine Spalte der Tür nachgeschaut, und das Eiapopeia, mit dem sie den Knaben in Schlaf summte, klang ihm lange im Ohr.
Nun saß er und wußte nicht, ob er die klugen, treuen Augen seines Weibes und die drolligen, immer erstaunten seines Kindes je wieder zu sich aufgeschlagen sehen würde.
Ein schwerer Kampf spielte sich in ihm ab, und ein paarmal hob er die Hand empor, wie um eine drückende Last von der Stirn wegzuschieben.
Der Kuckuck rief von der Ofenecke her zwölfmal, dann klang von draußen der schwere, schöne und volle Ton der Stadtkirchenglocken, und eine geraume Zeit hinterdrein, ein ewiger Nachzügler, der schrille Schlag der Waisenhauskapelle.
Der neue Tag war angebrochen. 368
Da richtete sich Güntz kräftig in die Höhe, neigte sich über die weißen Blätter und füllte mit fliegender Feder Bogen um Bogen.
Er hatte sich entschlossen, den Abschied zu erbitten.
Vor dem Duell noch sollte das Gesuch an das Regiment abgehen, gleichviel welche Deutung diesem Schritte beigemessen wurde. Nun zeichnete er für Reimers die Gründe auf, die ihn zu dem plötzlichen Entschluß bewogen hatten. Nur für Reimers. Wenn der dann wollte, mochte er die Niederschrift dem Oberst zeigen. Das Urteil aller anderen war gleichgiltig.
Er bat den Freund im Anfang, zu glauben, daß er dem Zweikampf sich nicht aus Feigheit entziehe. Dafür konnte er allerdings nur sein bisheriges Leben als Beweis anführen, – das Leben eines ruhigen, entschlossenen Mannes, der stets mit ganzer Person für seine Anschauungen eingetreten war.
Nun, Reimers mußte ihn ja doch kennen.
Aber dann: dieses Duell war unsinnig, aus einer lächerlichen, äußeren Veranlassung hervorgegangen und ungerecht in höchstem Grade, trotzdem beide Duellanten mit gleichen Waffen, unter gleichen Bedingungen, mit gleichem Wind und gleicher Sonne sich gegenübertreten würden. Ungerecht, weil der Einsatz von grundverschiedenem Werte war. Ein reifer Mann, der in seinem Berufe Tüchtiges geleistet hatte und noch zu leisten versprach, maß sich mit einem jungen, haltlosen Menschen, der bisher allenthalben versagt hatte. Dazu verstärkten die Pflichten, die Güntz als Gatte und Vater auf sich genommen hatte, die Unebenbürtigkeit des Gegners. Eine absolute Null stand einem Einser gegenüber, einem Zähler in doppelter Beziehung.
Güntz erklärte rund heraus, daß er sein Leben für 369 zu wertvoll halte, um es in die Wagschale dieses Streites zu werfen.
Dann ging er des näheren auf die Zweifel ein, die ihn bereits seit Wochen verfolgt und ihm nahegelegt hatten, das Ehrenkleid des Offiziers abzulegen, – die starken Zweifel, ob nicht der deutsche Offizier unter den bestehenden Verhältnissen einer ganz und gar aussichtslosen Arbeit sich unterziehe.
Für einen schlechterdings unproduktiven Beruf mochte er den Offiziersberuf nicht erklären. Die alljährliche Hervorbringung einer kolossalen Menge Soldaten, die das Ansehen des Reiches stützte und ihm dadurch den Frieden sicherte, war zweifellos ein positiver Faktor im politischen und damit zugleich im wirtschaftlichen Leben.
Aber war diese Schutzwehr, die sich Jahr für Jahr aufs neue ergänzte und verstärkte, wirklich ein so sicheres Bollwerk, daß es auch Stürmen standhalten konnte?
Gerade daran zweifelte er.
Die Organisation des deutschen Heeres beruhte auf Grundsätzen, die fast auf ein Jahrhundert der Geltung zurückblicken konnten. In preußischen Institutionen siegreich bewährt, waren sie auf das neue Reich übertragen worden und bestanden noch, seit dem großen Kriege keiner ernstlichen Prüfung wieder unterworfen und in diesen drei Jahrzehnten nur in Nebensächlichkeiten abgeändert. In drei langen Jahrzehnten eines ungeheuren Fortschritts! Eines Fortschritts, dessen Geschwindigkeit in einem Jahrzehnt die Welt ebenso weit voranbrachte, wie ehedem ein Jahrhundert!
Die Art der militärischen Erziehung der Mannschaften war, aus einer patriarchalischen, bureaukratischen Zeit stammend, dieselbe bevormundende, 370 pedantische geblieben, immer noch mit der Voraussetzung eines vorhandenen Patriotismus rechnend. Dabei war an die Stelle der früheren Einfalt der ländlichen Rekruten ein grundverschiedenes Element getreten: die stark sozialdemokratisch beeinflußte Gesinnung der industriellen Arbeiter, die zwar nicht die Mehrzahl der Kontingente stellten, aber stets vermöge ihrer entwickelteren Intelligenz einen beherrschenden Einfluß ausübten.
Anstatt daß nun diese entwickeltere Intelligenz nutzbringend verwertet wurde, spannte man nach wie vor alles in den polnischen Bock eines Drills, der mechanischer auch nicht zur Zeit Friedrichs des Großen eingebläut worden war. Nur die Stockprügel waren weggefallen. Und über diesem schrecklichen Drill ging, vor allem bei der Infanterie, eine unwiederbringliche kostbare Zeit für die kriegsmäßige Ausbildung der Soldaten verloren. Die ganze Erziehung der Mannschaften war in weit höherem Maße durch Besichtigungs- und Paradezwecke geleitet als durch Rücksichten auf eine Verwendung im Kriegsfall, – die einzige vernünftige Grundlage der ganzen Einrichtung.
Güntz führte die Klage eines Freundes an, eines Hauptmanns in einem der bevorzugtesten Infanterieregimenter, der alljährlich über den Vorbereitungen zu den militärischen Theatervorstellungen vor auswärtigen fürstlichen Besuchen, über Spalierbilden und anderen unnützen Veranstaltungen, so viele Tage für die gefechtsmäßige Schulung seiner Kompagnie verloren hatte, daß er, als ernster, pflichttreuer Offizier, selbst seine Versetzung in ein Linienregiment beantragt hatte, wo es wenigstens mit einem geringeren, anscheinend unerläßlichen Maße an Besichtigungsdrill getan war.
Und dieses rein mechanische Band des Drills sollte 371 Leute zusammenhalten, denen durch den hölzernen, steifen Dienstbetrieb alle Freudigkeit genommen wurde und die zum nicht geringsten Teile das Gegenteil von Patriotismus in der Brust trugen! Der Drill sollte ihre Disziplin erhalten! – Er hielt sie zusammen wie ein eiserner Reifen ein Faß, dessen trockene Dauben beim ersten Anstoß nach innen zusammenfallen!
O ja, es waren zuletzt Versuche mit fortgeschrittenerem Sinne unternommen worden, aber mit Widerstreben und in der Überzeugung des Mißlingens. Daher sie denn auch niemals günstig ausfallen konnten.
Den Mannschaften gegenüber stand ein Offizierskorps, das, großenteils vom ehrlichsten Willen beseelt, doch eine Erziehung der Rekruten zu einem überzeugten und bewußten Gehorsam, zu einem freiwilligen Patriotismus, in die Wege zu leiten nicht imstande war. Durch eine einseitige Erziehung und ein ausgeprägtes, stark exklusives Standesbewußtsein auf einen engen Kreis der Erkenntnis und Erfahrung beschränkt, stand es den Veränderungen der neuen, schnellebigen Zeit, die auch im Heerwesen sich bemerkbar machten, fremd gegenüber. Der Offizier war infolge Herkunft und Erziehung durch einen wahren Abgrund von dem Empfinden und Denken des gemeinen Soldaten getrennt, und umgekehrt begriff der Soldat den Geist nicht, aus dem heraus er vom Offizier behandelt wurde. So kam es, daß der Offizier zumeist von den Mannschaften eine ziemlich niedrige Meinung hegte, während der Soldat auch nicht verfehlte, sich seine Ansicht zu bilden. Ein paar Offiziere haßte er oder verlachte er, die meisten waren ihm gleichgiltig, und nur gegen ganz wenige fühlte er wirklichen Respekt, aufrichtige Anhänglichkeit und Ergebenheit. 372
Die Ausdauer, mit der das deutsche Offizierskorps den alten Grundsätzen der Heeresorganisation getreu blieb, war einer besseren Sache wert. Auf seine ruhmvollen Traditionen pochend, wies es alle Tadel als übelwollende Nörgelei zurück, selbst wenn sie aus der eigenen Mitte kamen. Es erinnerte in dieser Beziehung an die Militärs des zweiten französischen Kaiserreichs, die im Vertrauen auf eine in mehreren Feldzügen glänzend bewährte Routine mit selbstverbundenen Augen dem Zusammenbruch von Sedan entgegengegangen waren, und nicht weniger an die Erben der friedericianischen Traditionen, die selbstzufrieden aus dem Lorbeer des großen Königs sich eine Schlafstätte ihrer Eitelkeit und Überhebung gerichtet hatten und darum bei Jena des Erbes verlustig gingen, das sie nicht zu erwerben verstanden hatten.
So war es ein Ideal von bestreitbarem Werte, dem das deutsche Offizierskorps seinen Fleiß und seine Kräfte widmete. Und geradezu seltsam berührte es, wie wenig die Parallele mit dem unheilvollen Jahre 1806 trotz der in die Augen springenden Vergleichspunkte die Selbstsicherheit der Militärs berührte. Hier wie dort die Klage über eine einseitige, rückständige Bildung des Offiziers, die ihn dem fortschreitenden Fühlen des Volkes entfremden mußte, hier wie dort eine kastenartige Abgeschlossenheit, zum Teil in eine Selbstüberhebung ausartend, die ihn dem Bürger lächerlich machen mußte, und endlich hier wie dort der steife, hölzerne Dienst, der mechanische Drill, der vor dem überzeugten, begeisterungsgetragenen Ansturm der Revolutionsheere trotz aller persönlichen Tapferkeit gründlich versagte. Schlimmer noch als die Niederlagen in den Feldschlachten muteten aber die feigen Festungskapitulationen an, die jenen folgten. Nun, 373 diese Kommandanten verstanden es gewiß, Bataillonsevolutionen zu kommandieren, Richtungen nachzusehen und die Zöpfe auf die reglementarische Länge zu prüfen, auch die Gewehrgriffe und der Parademarsch hatten wohl geklappt, aber über all dem Drill und all der Pedanterie war ihnen das neue, ausschlaggebende Moment einer neuen Zeit des Heeresdienstes, der neue Patriotismus, die Liebe zum Lande fremd geblieben. Sie hatten in einem streng persönlichen Dienstverhältnis zu ihrem Könige gestanden, aber das reichte nicht mehr aus, ihnen Halt zu geben. Sie hatten tausendmal »Es lebe der König« gerufen, und sie verrieten den König, als sie ihn verloren wähnten, – weil sie es nicht anders wußten.
Und sie hatten zu lange Soldaten gespielt, als daß sie noch hätten Soldaten sein können.
Darnach wiesen die Scharnhorst, Boyen, Gneisenau den Heeresdienst in die neuen Bahnen der Zugehörigkeit zum Volkstum. Ihr Werk wurde durch die beispiellosen Siege der Jahre 1870/71 gekrönt. Seitdem hatte sich die Grundlage des Systems, das Volk, in jeder Beziehung verändert, in jedem neuen Jahrgange in noch vermehrtem Maße, – das System selbst war unverändert geblieben, und der deutsche Offizier widmete sich ihm, in der weitaus überwiegenden Mehrzahl, mit dem alten Mute, mit der alten Pflichttreue.
Aber auch der Schatz von ausgezeichneten Eigenschaften, der dem deutschen Offizierkorps eigen war und der es zu seiner stolzen Höhe geführt hatte, blieb nicht unangetastet.
Es war nur menschlich natürlich, daß der Untergebene, bei der Art der Beurteilung und der daraus hervorgehenden Beförderung, dem Vorgesetzten 374 gegenüber höchst persönlich zugeschnittene Rücksichten im Dienstbetrieb seines Bereiches walten ließ, ein Verhalten, das zuweilen in unkameradschaftliche, widerwärtige und den Interessen des Heeres direkt schädliche Kriecherei ausartete, während andererseits in der nach unten nicht eingeengten Machtbefugnis des Übergeordneten und Beurteilenden persönliche Laune und Neigung trotz allen Widerstrebens zu der objektiven Abwägung hinzutreten mußten. Es mußte ferner bange Sorge erregen, daß sich Avancements nicht allein auf militärische Erfolge, sondern auch auf Siege gründeten, die auf dem Parkett der Fürstenhöfe erfochten waren. Zu diesem Umstand, der für eine ernstliche Probe der Befähigung wenig angenehme Aussichten eröffnete, trat noch ein anderer, der gleichfalls die Tüchtigkeit des Heeres herabzusetzen geeignet war: der in der Armee immer mehr einreißende Luxus. Notgedrungen und zum Heile des Heeres mußte sich das beste Material des Offizierskorps, die Angehörigen des alten adeligen und nichtadeligen »Armeeadels«, davon fern halten. Diese Offiziere, die oft schon in der vierten oder fünften Generation dem Könige als Soldaten dienten, hielten fest an der spartanischen Einfachheit der Lebensführung und an der altpreußischen Bedürfnislosigkeit, mit ihnen alle diejenigen, die ihren Beruf tiefer als etwa einen Sport erfaßt hatten. Sonst machte sich ungehindert ein unsoldatischer Luxus breit, der besonders die jungen Subalternoffiziere ihre Pflichten vernachlässigen ließ und sie teilweise absolut untüchtig zu ernsthaften Strapazen machte, trotz zahlreicher Verordnungen üppig weiter wuchernd, weil es an einem führenden Beispiel gebrach. Dazu entbehrte dieser Luxus durchaus jedes graziösen Moments, das den Aufwand etwa Ludwigs des Vierzehnten verschönt hatte, er ging plump und 375 täppisch auf protzige Massenentfaltung hinaus und betätigte sich auf den ungeeignetsten Gebieten. Die alte, einfache Uniform, in der die Armee ihre großen Siege erfochten hatte, genügte schon längst nicht mehr. Immer neue Verzierungen, Medaillen, Bändchen und Schleifchen erfand man. Als ob je Äußerlichkeiten wie ein neuer Knopf der mangelnden Lust zum Heeresdienst ernstlich hätten aufhelfen können!
Das Kelchglas mit abgebrochenem Fuß, aus dem König Wilhelm den Ruhm der Sieger von St. Privat in einem abscheulichen Krätzer trank, stand in einem bemerkenswerten Gegensatze zu dem Porzellan und zu den Ziergläsern, in denen die deutschen Offiziere des ostasiatischen Expeditionskorps Champagner und ausgesuchte Delikatessen den französischen Kameraden darboten. Wenn ein notwendiger, eiliger Rückzug den Chinesen einige Gepäckstücke der deutschen Bagage in die Hände gespielt haben würde, hätten sich die Söhne des himmlischen Reichs ähnlich vergnügen können wie die hessischen Husaren, die nach Wörth das Gepäck Mac Mahons erbeuteten. Nur die Kostüme der Halbweltdamen hätten etwa gefehlt, und für Schnurrbartbinden hätten die braven Mongolen keine Verwendung gehabt. – – –
Beim Schreiben war es Güntz leicht und frei geworden. Er war einer Last ledig, die ihn zentnerschwer bedrückt hatte.
Am Schluß seiner Ausführungen faßte er noch einmal seine Ansicht kurz zusammen: die Mehrzahl der Mannschaften zum Heeresdienst unwillig und jedes Patriotismus' bar, dazu noch in verknöcherten Grundsätzen mit Hintansetzung des Kriegsgemäßen erzogen, das Offizierkorps in Vorurteilen und veralteten Anschauungen befangen, in Überschätzung des 376 herrschenden Systems jegliche Reform von vornherein als unnütz verurteilend, ohne Fühlung mit den Mannschaften, im ganzen Heere ein Hinneigen zu äußerem Schein und eine beginnende Abnahme des beruflichen Ernstes, und unter den bestehenden Verhältnissen nirgends ein Ausblick nach einer heilsamen Änderung.
Er schloß: »Ich kann die Arbeit, die ich als Offizier leiste, nicht mehr für nutzbringend halten und bin daher entschlossen, meinen Beruf aufzugeben. Ein kleines Rädchen in einer gewaltigen, komplizierten Maschine, wahre ich mir gleichwohl das Recht, meine geringe Leistung einzustellen, und mache von diesem Rechte Gebrauch, nachdem ich erkannt habe, daß die Triebkraft, die diese Maschine treibt, zu erlahmen droht und nach meinem Ermessen erlahmen muß, sofern nicht der Bau des ganzen Werkes einer durchgreifenden Änderung unterzogen wird. Daran aber ist in absehbarer Zeit nicht zu denken.« – –
Er legte die Feder aus der Hand und blickte nachdenklich auf die Bogen, die dicht beschrieben vor ihm lagen.
Es war alles wohl überlegt und oft durchdacht, was er da aufgezeichnet hatte, – aber war es recht, in diesem Augenblick die Nutzanwendung daraus zu ziehen? War es recht, daß er das Versprechen brach, das er sich selbst gegeben hatte: sich abermals sorgsam zu prüfen, ein Jahr noch als Hauptmann und Batteriechef auszuharren, ehe er den einschneidenden Entschluß faßte? Er glaubte ehrlich, es sich nicht als Feigheit auslegen zu müssen, daß er das Spiel des Duells, bei dem die Einsätze so ungleich waren, nicht mitspielte. War es aber recht, daß er darum sein Wort brach? Mußte er nicht an dem Beruf, dem er einst sein Leben gewidmet hatte, festhalten, bis er sich 377 ganz freiwillig, ganz überzeugt, ohne jeden Hintergedanken, von ihm lossagte? Selbst auf die Gefahr hin, sein Leben durch die – berechtigte oder nicht berechtigte, – jedenfalls aber vorhandene und ihm bekannte Eigenart dieses Berufs einzubüßen? –
Die Lampe begann unter dem grünen Schirme trüber zu brennen und flackerte mit einem hastigen Zischen. Die Kuckucksuhr zeigte einhalb fünf Uhr.
Güntz stand auf und reckte sich. Mit festen Schritten trat er zum Fenster. Er schob die Gardinen weit zurück und öffnete beide Flügel.
Draußen wich die warme Sommernacht der Morgendämmerung. Vogelstimmen begrüßten den nahenden Tag, und der Garten strömte nach einer erquickenden Ruhe den Duft der Erde aus. Ein kühler Frühwind wehte in das Zimmer, blähte die Vorhänge und löschte die schwächliche Flamme der Lampe aus. Er kühlte dem Manne die Augen und füllte seine Lungen mit frischem Odem.
Da richtete sich Güntz hoch auf.
Er ging zum Schreibtisch zurück, schichtete die losen Blätter sorgfältig übereinander und verschloß sie im Schubfach.
Recht oder unrecht – er wollte sein Versprechen halten.
Er warf ein paar Worte auf einen Zettel: »Meine Kläre, ich habe dich unendlich lieb. Dich und den Buben. Sei tapfer!«
Er sah sich um, wohin er das Papier legen könnte. Am Ende faltete er es und beschwerte es mit einem Feuerstein, der wie ein Pilz geformt war. Auf der Hochzeitsreise hatte er ihn am Strande der Helgoländer Düne aufgelesen. 378
So war es am besten. Er wußte, daß die Papiere auf seinem Schreibtisch unangetastet blieben. Wenn es sein konnte, nahm er den Zettel selbst wieder weg, wenn nicht, fand ihn Kläre noch früh genug.
Der Bursche klopfte und brachte den Kaffee. Er hatte das Bett seines Oberleutnants unberührt gefunden und zog ein erstauntes Gesicht.
Der Kaffee war zu heiß, aber das Wasser in der Karaffe war wundervoll kalt. Güntz feuchtete das Taschentuch an und wischte sich die Übernächtigkeit von der Stirn und aus den Augen.
Und wieder trat er zum Fenster in die schöne Morgenluft. Er war guten Muts. Es war ihm, als ob ihm heute nichts Böses geschehen könnte.
Draußen klapperten Hufe auf der Straße. Der Pferdepfleger brachte die Braune. Vor dem Gartentor hielt er und zupfte dem Tier sorgsam eine Strohfaser aus der Mähne.
Güntz ließ ihn den Gaul ruhig auf und ab führen. Er wartete auf Reimers, der auch sogleich da sein mußte.
Bald klang in den gemächlichen Schritt des geführten Pferdes ein lebhafter Trab. Güntz kannte das unruhige Zappeln. Die »Dohle«, die Reimers ritt, trabte so. Er verließ das Haus und schritt durch das Gittertor auf die Straße.
»'Morgen, Junge!« sagte er, und reichte dem Freunde die Hand in den Sattel.
Reimers antwortete halblaut: »Morgen, Güntz!«
Dann saß der Oberleutnant auf, und die beiden trabten schweigend die Straße entlang.
Außerhalb der Stadt ließ Güntz seine Stute in Schritt fallen. »Wir haben noch Zeit,« meinte er. 379
Mit einem Male aber parierte er und lauschte. Man hörte von der Stadt her trabende Pferde und das Rollen eines Wagens.
»Die andern,« sagte der Oberleutnant, »denn man voran!«
Der Revolverschießstand lag in halber Höhe des Abhangs auf einer terrassenförmigen Abflachung des Höhenzuges, ein glatter Rasenplan, der auf beiden Seiten von hohem Gesträuch eingefaßt war. Am unteren Ende war ein Schuppen aus starken Bohlen errichtet, in dem das Handwerksgerät und die Scheiben untergebracht waren. Auch eine Tragbahre befand sich darin, um für den Fall eines versehentlichen Unglücks beim Scharfschießen als Transportmittel zu dienen. In die Wände waren starke Ringe eingefügt, an die die Pferde der aufsichtführenden Offiziere gekettet werden konnten.
Güntz und Reimers saßen an dem Schuppen ab und banden ihre Gäule mit den Trensenzügeln fest. Noch einmal drückte Reimers dem Freunde die Hand, indem er ihm mit Augen voll ehrlicher Sorge ins Gesicht schaute. Sprechen konnte er nicht.
Nebeneinander traten sie an den Rand der Terrasse. Man konnte von hier aus auf die Landstraße im Tale hinabsehen. Ein Wagen rollte darauf heran, drei Reiter ritten hinter ihm her; Landsberg, der kleine Dr. von Fröben, sein Sekundant, und Gretzschel, der hauptsächlich auf die Pferde acht geben sollte.
Am Fuße der Höhe hielt der Wagen. Kauerhof stieg aus, den Pistolenkasten in der Hand, und nach ihm der Oberstabsarzt und der Assistenzarzt, zu zweit den Verbandkasten schleppend. Die drei anderen Herren ritten langsam hinter ihnen her den steilen Weg hinauf. 380
Vor dem Schuppen fand eine kurze, höfliche Begrüßung statt; dann blieb Gretzschel bei den Pferden zurück. Die Tiere schnaubten in die Morgenluft hinein und schüttelten sich unter den Sätteln, so daß die Bügel aneinander klangen. Die Offiziere begaben sich in drei Gruppen nach dem Schießstand. Kauerhof hatte sich den beiden Ärzten angeschlossen, – er hatte immer ein wenig Angst, daß eine Formalität außer acht gelassen würde, – die Gegner gingen mit ihren Sekundanten.
Der dicke Assistenzarzt pustete noch von der Anstrengung des Bergsteigens und machte sich mit Andreae daran, den Inhalt des Verbandkastens bereit zu legen. Zuletzt warf der Oberstabsarzt ein weißes Tuch über die blanken Bestecke.
Auf allen Gesichtern lag eine seltsam gedrückte Scheu. Fast hatte es den Anschein, als wären diese Männer zu einem Unrecht versammelt. Nur Güntz blickte klar und frei vor sich hin.
Die vorgeschriebenen Versöhnungsversuche verliefen erfolglos. Güntz schüttelte ablehnend den Kopf.
So machte sich Kauerhof daran, die Distanz abzumessen. Er hatte lange Beine und maß die fünfzehn Sprungschritte so weit als möglich.
In diesem Augenblick ging über den jenseits des Tales aufsteigenden Bergen die Sonne auf. Sie beschaute sich verwundert die frühe Veranstaltung und zeichnete groteske Schatten von dem springenden Unparteiischen. Dann traf sie die blanken Läufe der Pistolen und spiegelte sich darin.
Kauerhof lud, und die Sekundanten trugen den beiden Gegnern die Waffen zu. Die Hähne waren noch nicht gespannt. Güntz nickte Reimers unmerklich zu, als er den Kolben in die Hand nahm. 381
Der Unparteiische stellte sich darauf an seinen Platz und überzeugte sich mit einem Blick, daß alles bereit war. Die Duellanten standen an den Barrierenstrichen, die Sekundanten seitwärts von ihnen. Er zog seine Uhr heraus und sprach, auf das Zifferblatt blickend: »Ich werde zählen: Fertig eins, – drei Sekunden –– zwei – wieder drei Sekunden – halt! Zwischen eins und halt dürfen die Herren schießen.«
Noch einmal sah er sich um. Die vier Offiziere standen unbeweglich im hellen Licht der Sonne, Landsberg die schmale Seite bietend, Güntz mit seiner breiten Brust dem Gegner zugewendet, der Assistenzarzt wischte sich den Schweiß von der Stirn, Andreae kraute sich nervös das Haar.
Der Unparteiische zählte.
Sofort auf eins hob Landsberg die Pistole und schoß. Güntz hörte die Kugel zu seiner Linken vorbeipfeifen. Er hatte den Lauf ein wenig seitwärts von der Schulter seines Gegenübers gerichtet und drückte auf den Abzug. Der Schuß versagte. Er hatte unterlassen, den Hahn zu spannen.
Bei Landsbergs Schuß waren zwei Stare aus dem Gebüsch aufgeflattert und vom Schuppen her hörte man Gretzschel beruhigend den Pferden zusprechen.
Sonst lag die Welt in der herrlichen Ruhe des frühesten Morgens. Die Sonne stieg langsam am Himmel empor.
Auch der zweite Versöhnungsversuch mißlang.
Zum zweiten Male kommandierte Kauerhof.
Güntz sah beim Zielen die Pistole des anderen gerade auf seine Brust angeschlagen. Da schaute Landsberg auf, und ein Hundertstel einer Sekunde trafen sich die Blicke der Gegner. 382
Landsberg hatte seinen Mann eben noch so sicher gefaßt gehabt, – da begann plötzlich seine Hand zu schwanken, und er feuerte blindlings ab, gerade als er die Kugel Güntz' an sich vorbeisausen hörte.
Güntz stand unverletzt, ein glückliches Lächeln auf seinem gutmütigen, offenen Gesicht.
Reimers eilte zu ihm und griff nach seiner Hand. Am liebsten wäre er dem Guten um den Hals gefallen.
Nun kam die Aussöhnung zustande, und als sich die Gegner die Hände gaben, senkte Landsberg den Blick vor den ehrlichen Augen des Oberleutnants.
Mit einem Male war der scheue Ausdruck von allen Gesichtern verschwunden. Es gab ein Aufatmen und Glückwünschen, die beiden Ärzte packten ihre gruslichen Bestecke wieder ein, und jeder drängte zum Fortkommen, um den glücklichen Ausgang des Zweikampfes den Kameraden mitzuteilen.
Güntz schalt auf Reimers, der den steilen Weg hinunter Trab ritt. »Junge, willst du denn den Hals brechen?« zankte er. »Wohin hast du's nur so eilig.«
Reimers wandte sich froh lachend im Sattel zurück: »Der Oberst wartet. Die Meldung hat drei Kreuze!«
Und er schlug auf der Chaussee einen flotten Galopp an.
Der Oberleutnant ließ ihn reiten. Er für seine Person konnte sich Zeit nehmen. Es war zehn Minuten nach einhalb sechs Uhr, und erst sechs Uhr sollte die Batterie zur taktischen Übung abrücken.
Der Wagen und die drei Reiter überholten ihn. Dr. von Fröben und Gretzschel grüßten mit einer offenen Freude im Gesicht, Landsberg ein wenig steif. Aus dem Wagen warf ihm der Oberstabsarzt 383 eine Kußhand zu. Güntz dankte und ritt sein gemächliches Tempo weiter.
Als er an dem präsentierenden Posten vorbei durch das Kasernentor ritt, verschwand gerade die Staubwolke, in die Reimers gehüllt war, am Ende der Chaussee zwischen den ersten Häusern der Stadt.
Der Oberst schaute von der erhöhten Laube des Gartens aus die Straße entlang. Reimers erkannte ihn von weitem, und da ihm nichts besseres einfiel, nahm er die Mütze vom Kopf und schwenkte sie ein paar Mal hin und her. Zwei Einjährige, die ihm in diesem Augenblick ihre Ehrenerweisung machten, schauten sich verblüfft an. Als der Offizier vorüber war, brachen sie in ein Gelächter aus.
Falkenhein winkte energisch ab, als Reimers sich anschickte, abzusitzen. »Bleiben Sie! Bleiben Sie!« rief er. »Also alles glücklich verlaufen?«
»Zu Befehl, Herr Oberst,« antwortete Reimers, noch außer Atem durch den schnellen Ritt.
Der Oberst atmete auf.
»Das macht mich froh, – sehr, sehr froh!« sagte er. »Kommen Sie näher, mein lieber Reimers! Ich muß Ihnen die Hand drücken. Vor Freude!«
Der junge Offizier trieb seine Stute dicht an die Gartenmauer heran und reichte Falkenhein seine Hand hin!
»Nicht wahr,« fuhr der Oberst fort, »da ist Ihnen auch ein riesiger Stein vom Herzen herunter? Wirklich, das ist schön, das ist gut, das macht mich glücklich. Und Ihnen, lieber Reimers, danke ich für die schnelle gute Botschaft. Wenn ich Orden zu verleihen hätte, wären Sie jetzt Ritter. Aber nun warten Sie wenigstens etwas! Der Bursche mag Ihr Pferd führen, Sie müssen ein bißchen bei mir frühstücken! 384
Nämlich – damit ich's nur gestehe –, vorhin hab' ich den Thee nicht hinuntergebracht.«
Reimers entschuldigte sich: »Herr Oberst sind sehr gütig, aber Herr Oberst verzeihen, – der Dienst gestattet nicht, der liebenswürdigen Einladung zu folgen.«
»Der Dienst?« erwiderte Falkenhein. »Was für Dienst? Über diesen aufregenden Geschichten hab' ich den Beschäftigungsplan rein vergessen.«
»Sechs Uhr Übung im Gelände, Herr Oberst.«
Der Kommandeur lächelte.
»Sechs Uhr?« meinte er. »Das sieht Güntz ähnlich. Ich glaube fast, er hat sich einen Merkzettel gemacht. fünf Uhr dreißig Duell, sechs Uhr taktische Übung und höchstens ein »eventuell« in Klammern dazugesetzt. Aber es ist ganz recht so. Dann reiten Sie nur zu und grüßen Sie mir Güntz.«
»Zu Befehl, Herr Oberst.« –
Am Kasernenhof wartete Gähler auf seinen Leutnant. Er reichte ihm den Helm und das Bandelier zu und nahm die Mütze in Empfang.
Die Batterie war zum Abrücken bereit. Reimers trieb sein Pferd zu einem kurzen Galopp an und sprengte auf Güntz zu.
»Melde mich gehorsamst zur Stelle,« meldete er.
Güntz nickte ihm lächelnd zu und kommandierte mit seiner hellen, klingenden Stimme: »An die Pferde! – Batterie – aufgesessen!« und »Batterie zu einem rechts brecht ab – marsch!«
Er ließ die sechs Geschütze an sich vorüberrollen, dann galoppierte er auf der linken Seite nach vorn und ließ rühren.
Reimers befand sich auf seinem Platze als Zugführer, da ritt Güntz an ihn heran. 385
»Komm, Junge,« sagte er. Und die beiden Offiziere setzten sich in einem schlanken Trabe an die Spitze. Die Batterie folgte in einem gehörigen Abstande.
Reimers sah dem Freund mit freudestrahlenden Augen ins Gesicht. »Alter, lieber, guter Güntz, ich freue mich!« sagte er.
Der Oberleutnant murmelte nur: »Ja, ja, lieber Junge.«
Mit einem Male zuckte eine Schelmerei in seinem Blick auf, und er begann in einem höchst ernsthaften Tone: »Übrigens, Junge, wenn du königliche Dienstpferde derartig abrackerst wie eben jetzt deine Braune, werde ich dich nächstens mal einsperren.«
Reimers lachte und strich seiner unruhig zappelnden Stute über die Mähne: »Ach geh, Alter! Außerdem – die »Dohle« ist zäh. Sieh' nur, sie hat kein nasses Haar.«
Güntz nickte und versetzte: »Na, dann will ich dir den Unfug noch einmal durchgehen lassen.«
Damit trabte er an. Gleichzeitig beschrieb er mit der Hand einen Kreis in der Luft, das Zeichen für die Batterie, die nächsthöhere Gangart einzuschlagen.
Der Marsch ging talaufwärts. Zur Linken lag am Abhang der Schießstand, mit seinem dichten Strauchwerk ein anmutiges Bild abgebend.
Der Oberleutnant blickte hinauf und sprach halb für sich: »Na, hoffentlich sind die Stare wieder zur Ruhe gekommen, die wir mit unserem Schießen so erschreckt haben.«
Eine kurze Strecke dahinter breitete sich zu beiden Seiten der Chaussee die große Roggenstoppel aus, deren Besitzer das Betreten und Befahren seines 386 Grundstücks Güntz erlaubt hatte, und die Übung nahm ihren Anfang.
Mitten im Exerzieren näherten sich plötzlich von der Stadt her zwei Reiter. In dem dichten Staub konnte man nicht sogleich unterscheiden, wer es sein mochte. Wachtmeister Heppner erkannte zuerst den großen Schweißfuchs des Obersts. In der Tat war es der Kommandeur und sein Adjutant.
Güntz galoppierte ihnen entgegen und erstattete seine Meldung.
Falkenhein dankte.
»Ich wollte ihnen nur ein wenig zusehen,« sagte er einfach. Dabei strahlte ihm die helle Freude aus den Augen, daß er den ihm liebgewordenen Offizier heil wiedersah.
Er näherte sich der Batterie und begrüßte sie mit seiner mächtigen Stimme: »Guten Morgen, sechste Batterie!«
Vielstimmig schallte es zurück: »'Morgen, Herr Oberst!«
Falkenhein ritt langsam durch die Reihe der Lafetten und Protzen, mit seinem scharfen Blick alles musternd, dann sprach er: »Ich bitte, Herr Oberleutnant Güntz, fahren Sie fort!«
Es war ein Glückstag. Alles ging wie am Schnürchen, kein Fehler, ja, nicht das geringste Versehen lief unter.
Am Schluß der Übung befahl der Oberst die Offiziere und die zugführenden Unteroffiziere der Batterie zu sich. Seine Kritik enthielt nur Anerkennungen, und er krönte sein Lob, indem er sagte: »Ich freue mich, daß die sechste Batterie wiederum, auch unter einer anderen Führung als der gewohnten, sich so ausgezeichnet bewährt hat, und ich bin stolz 387 darauf, ein Regiment zu kommandieren, dem so vortreffliche Offiziere und Unteroffiziere und eine so tadellos ausgebildete Batterie angehören.«
Er reichte Güntz die Hand und flüsterte ihm halblaut zu: »Doppelt freue ich mich, dreifach, – hundertfach, mein lieber Güntz.«
Und Kauerhof, der es sich als Adjutant angewöhnt hatte, stets die Gefühle seines Chefs zu teilen, möglichst noch in höherem Grade, zeigte eine entzückte, beseligte Miene.
Darauf wandte Falkenhein mit einem freundlichen Gruß seinen Fuchs und trabte, gefolgt von seinem Adjutanten, der Kaserne zu.
Güntz ließ einrücken.
Nachdenklich ritt er neben Reimers an der Spitze der Batterie. Das uneingeschränkte Lob des Obersts machte ihm große Freude, aber bereits vorher hatte er einen noch höheren Lohn gefunden: er war seit langem zum ersten Male wieder mit ganz überzeugtem Herzen bei seinem Berufe als Offizier gewesen. Wie mit verjüngten, von jedem Zweifel freien Kräften hatte er an diesem Morgen seinen Dienst getan, ohne daß der kleinste schale oder bittere Rest zurückgeblieben war.
Er dachte an den Stoß beschriebener Blätter, den er in der Nacht in seinen Schreibtisch geschlossen hatte. Wann war er auf dem Holzwege gewesen? Da am Schreibtische oder jetzt auf der Roggenstoppel, in die die Geleise der Geschützräder sich tief eingegraben hatten? –
Nun, in jedem Falle hatte er Recht gehabt, die selbst auferlegte Probezeit nicht plötzlich abzubrechen, denn es war doch seltsam, wie ein ruhiger, sicherer Mensch, für den er sich halten zu dürfen glaubte, 388 zwischen so entfernten Gegensätzen in so kurzer Frist so hin und her schwanken konnte. In der Nacht war er fest entschlossen gewesen, den Abschied zu nehmen, – wenige Stunden später dünkte ihn dieser Schritt fast eine Unmöglichkeit.
So wenig hatte es also mit seiner vermeintlichen Ruhe und Bestimmtheit auf sich? –
Aber er gelobte sich, die Probezeit, die er nicht verkürzt hatte, andererseits auch nicht zu verlängern. Ein Jahr Batteriechef, – dann mußte es entschieden sein.
Für diesen Tag vermochte er seiner Freude und seiner guten Laune keine Zügel mehr anzulegen.
Frau Kläre schalt auf den Gatten, der ihr mit seinen Neckereien und Torheiten keinen Augenblick Ruhe ließ und sogar den Buben aus dem besten Schlafe weckte.
Und Güntz stand glückstrahlend bei Mutter und Kind, lachte aus Herzensgrund über das Jammergeheul seines zürnenden Knaben und brannte sich seine Zigarre mit einem Fidibus an, den er bis auf den letzten Papierrest verkohlen ließ.
Er hatte ihn aus dem Abschiedszettel unter dem pilzartigen Briefbeschwerer aus Feuerstein gefaltet. 389