Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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XI. Kapitel

Unter steigender Unruhe hatte Löwenwald die letzten Worte gesprochen. Die Schüsse, die man früher von ferne gehört, waren näher gekommen, wüste Schreie, grelle Pfiffe, Pferdegetrampel hörte man bis in den Saal herein und die Hungerrufe der Häftlinge waren einem heulenden Kreischen und Toben gewichen. Die Richter, die Geschwornen, das Publikum, sogar die Justizsoldaten waren so voll Unruhe, daß sie kaum noch hörten, was der Verteidiger sprach und einer sah den anderen an, als wollte er fragen: „Wann geht es los, wann werden wir uns hier verstecken müssen?“

Gerade wollte nun der Staatsanwalt mit einer hohnvollen Entgegnung beginnen, als die Tür aufflog und ein alter Gerichtsdiener mit allen Zeichen maßlosen Entsetzens rief: „Herr Präsident, sie stürmen das Landesgericht.“ Gleich darauf ertönten in unmittelbarer Nähe scharfe Schüsse, man hörte das Krachen zerschmetterter Tore und im Nu entstand das Chaos. Durch die Korridore wälzten sich die befreiten Häftlinge, herein stürmte der entfesselte Mob der Straße, wilde Schreie wurden laut, man sah Männer mit hochgeschwungenen Messern und Pistolen, der Präsident, die Beisitzenden, der Staatsanwalt, die Geschwornen, die vornehmen Herren und Damen — alles drängte schreiend zur Tür und Hilferufe verschlangen alles andere.

Plötzlich standen Kolo Isbaregg und Löwenwald allein im Saal einander gegenüber — nur eine Sekunde lang, dann drängten auch sie zur Tür und verschwanden im Chaos.

Bis in die sinkende Nacht dauerten die Straßenkämpfe und die Kämpfe um die Regierungspaläste und um die Macht. Dann trat wieder Ruhe ein, die alte Regierung machte einer neuen, radikaleren Platz und die Zeitungen berichteten in Extraausgaben von den furchtbaren Ereignissen, von den Toten und Verwundeten, die zu vielen Hunderten die Spitäler und Leichenhäuser füllten. Sie berichteten aber auch über die Befreiung der Sträflinge des Landesgerichtes und über die seltsame Beendigung, die die Verhandlung gegen den zweifachen Mörder Koloman Isbaregg gefunden hatte. Und wieder war es die „Wiener Morgenpost“, die allerlei interessante, sensationelle Einzelheiten aus der Feder ihres Reporters Finkelstein allein bringen konnte. Danach hatte die Befreiung der Sträflinge und die Erstürmung des Landesgerichtsgebäudes ein Weib inszeniert, das mit flammenden Worten die Menschenmassen vor dem Parlament haranguiert und aufgefordert hatte, das Landesgericht, dieses Sinnbild des kapitalistischen Unrechtes, zu erobern. Dieses Weib war dann an der Spitze von Tausenden gegen das Gerichtsgebäude gezogen und ihren anfeuernden, aufhetzenden Rufen war es zuzuschreiben, daß die Wache kurzerhand niedergemacht und das Gebäude gestürmt wurde. Dieses Weib sei aber niemand anderer als die dänische Schriftstellerin Helga Esbersen gewesen, die nach Wien zur Verhandlung geladen war. Und Finkelstein wollte genau beobachtet haben, wie sich die beiden, Kolo lsbaregg und Helga Esbersen, unter dem brennenden Hauptportal zwischen Toten und Verwundeten begegnet seien und Hand in Hand im Gewühl der Menschen verschwanden.

Von ihm und von ihr hatte man niemals wieder gehört.


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