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Einige Tage später rief Dr. Bergmann, der Chef des lokalen Teiles der „Morgenpost“, Finkelstein zu sich und zeigte ihm eine Ankündigung im Amtsblatt:
„Finkelstein, das ist etwas für Sie, da schaut vielleicht ein interessanter Artikel heraus.“
Finkelstein las: Dorotheum, morgen Nachmittag, vier Uhr, bahn- und postamtliche Versteigerung von Kollis und Gepäckstücken, die unbestellbar geblieben sind und deren Eigentümer nicht ermittelt werden konnten.
Schlecht gelaunt und wenig interessiert begab er sich des anderen Tages eine Stunde vor dem Beginn der Auktion nach dem großen städtischen Versatz- und Versteigerungsamt und erklärte dem Oberinspektor den Zweck seines Besuches. Der Beamte führte ihn bereitwillig in dem großen Saal umher, in dem Berge von Taschen, Koffern, Kartons, Rucksäcken und anderen Gepäck- und Poststücken lagen.
„Man sollte es nicht für möglich halten, wie leichtsinnig die Menschen sind und sich nicht einmal die Mühe nehmen, ihren oft recht wertvollen Sachen ein wenig nachzuforschen. Da hier, in dieser Krokodilledertasche ist ein ganzes silbernes Eßbesteck, das vor Jahren aus Lemberg nach Wien geschickt wurde. Wir haben für jedes Stück eine Art Protokoll, dem die Postbegleitscheine oder was sonst mitlief, beigefügt sind. In diesem Karton befinden sich wertvolIe Reiherfedern, da, in diesem Rohrplattenkoffer eine ganze Kinderausstattung. Schauen wir einmal in dem Protokoll nach. Aha, von Wien nach Temesvar am 2. Februar 1917 aufgegeben. Absender Frau Marie Hummel, Adressat Frau Julia Etvös. Also wahrscheinlich eine Mutter, die ihrer Tochter für das Neugeborene die Wäsche schickt. Das Kolli muß bei den damaligen Wirren monatelang umhergelegen sein, bis es im August desselben Jahres mit dem Vermerk Adressatin verzogen, unbekannt wohin‘ wieder, in Wien eintraf. Und weiter: ‚Absenderin unauffindbar, ohne Hinterlassung einer Adresse abgereist.‘ Und dann ist das Kolli Jahr um Jahr in einem Speicher des Hauptpostgebäudes liegen geblieben, bis es jetzt versteigert werden wird.“
Finkelstein bemerkte tiefsinnig: „Und wer weiß, welche Tragödien sich in den beiden Familien abgespielt haben!“
So wühlten sie noch eine ganze Weile in den Stücken herum; Finkelstein machte sich allerlei Notizen, bis ihm die Sache langweilig wurde und er schon gehen wollte. Gerade aber hatte der Inspektor noch eine ziemlich große braune Handtasche aus Lederimitatjon ergriffen und geöffnet.
„Kuriose Dinge, die da in der Tasche sind,“ meinte er lachend und schwenkte einen falschen schwarzen Bart dem Journalisten entgegen. Nun das gab ja vielleicht noch einen heiteren Einschlag für den Artikel und der Reporter sah auch den anderen Inhalt an. Ein schwarzer Schlapphut, ein dunkelgrauer Radmantel, ein schwarzer, seltsamer Gummipfropfen, eine dunkle Brille kamen ihm entgegen und zu unterst lag ein Paar Stiefel, das zwar bestaubt, aber ersichtlich nur wenige Male getragen war. Der Beamte steckte je eine Hand in einen Schuh und klatschte mit den Sohlen gegeneinander. „Oho, was ist denn das?“ rief er. „Der Mann, den der Koffer nie erreicht hat, war ein Krüppel. Der eine Schuh ist orthopädisch und für einen Hinkenden gemacht.“
Finkelstein sah und hörte einen Augenblick nichts, alles drehte sich um ihn und es war ihm, als wenn von weither eine Stimme immer wieder brüllen würde: Brille, Bart, Kalabreser, der Hinkende! Schließlich faßte er sich und griff nach dem Akt, der an den Henkel der Tasche gebunden war. Aber der Beamte unterbrach ihn:
„Da ist ja noch etwas drin! Aha, ein kleines, aber sehr schön gearbeitetes Taschenwerkzeug aus Nickel! Famoses Stück, möchte ich mir am liebsten selbst behalten.“
Der Reporter fieberte vor Ungeduld. „Lieber Herr Inspektor, die Tasche interessiert mich besonders, sagen Sie mir, woher sie kommt und wohin sie bestimmt war?“
Der Beamte löste den Akt und las der Reihe nach vor. „Da ist der Postbegleitschein! Aufgegeben in Wien auf dem Postamt Südbahnhof am 1. Juni 1919 nach Graz hauptpostlagernd. Absender Johann Merker, Wien, I., Annagasse 4. Von Graz im Jahre 1920 als nicht abgeholt nach Wien zurück, und jetzt der Postzettel: ‚Johann Merker, Wien, I., Annagasse 4, unbekannt.‘ Notiz des Postboten: ‚Mann dieses Namens hat nie in dem Hause gewohnt, auch in der Nachbarschaft unbekannt.‘ Hier ein weiterer Zettel: ‚Johann Merker durch polizeiliches Meldeamt nicht zu eruieren.‘“
Finkelstejn zitterte. Am 1. Juni, also am Tage nach der Ermordung des alten Geiger, war diese Tasche aufgegeben worden! Und der Spanier war ein Mann mit schwarzem Bart, dunkler Brille, Radmantel, Kalabreserhut gewesen und hatte gehinkt! Finkelstein mußte sich gewaltsam zurückhalten, um nicht aufzubrüllen und umherzutanzen.
„Herr Oberinspektor,“ keuchte er, „Sie können mir und meinem Blatte einen Gefallen erweisen, der Ihnen unsere ewige Dankbarkeit sichern wird. Ich habe ein besonderes Interesse an dieser Tasche, ich muß sie in meinen Besitz bekommen, unbedingt und sofort! Helfen Sie mir dazu.“
Verwundert, unschlüssig, aber doch auch geschmeichelt, überlegte der Versteigerungsbeamte.
„Na,“ meinte er schließlich, „die Sache wird sich ja machen lassen, wenn es auch unkorrekt ist. Aber um Ihnen gefällig zu sein...“
„Nun, nun, wie läßt es sich machen?“
„Ja, also das einfachste wäre, Sie würden warten, bis das Objekt zum Ausruf kommt und dann mitsteigern und es erwerben. Das kann aber stundenlang dauern und dann kann man nie wissen, wie hoch die Schieber, die bei einer solchen Auktion wie die Kletten zusammenhalten, den Plunder hinauftreiben werden. Also, ich sage Ihnen etwas. Der Ausrufspreis ist mit hundertfünfzig Kronen festgesetzt, geben Sie halt zweihundert und ich werde das so in die Bücher eintragen, als wenn es eben mit zweihundert erstanden worden wäre. Nur dürfen Sie mich nicht verraten.“
Finkelstein hatte zufälligerweise die Zweihundert bei sich und so zog er denn mit der Handtasche ab und lief, auf der Straße angelangt, wie, ein Rasender in vollem Galopp, bis er in der Engelgasse in seinem möblierten Zimmer allein war.