Hugo Bettauer
Hemmungslos
Hugo Bettauer

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V. Kapitel

So waren etwa acht Tage vergangen, die Pfingstwoche war gekommen und der Spanier sagte abends, als er nach Hause kam, der Frau Dr. Schlüter, er werde über die Feiertage nach dem Semmering fahren, und zwar schon morgen mit dem ersten Frühzug, eine Mitteilung, die weiter nicht aufregend war. Kolo Isbaregg blieb wie immer, wenn er keinen Bummel vorhatte, bis gegen Mitternacht im Salon, war scheinbar heiter und aufgeräumt wie gewöhnlich und zog sich dann, als alles schlafen ging, auf sein Zimmer zurück. Hier legte er sich auf den Diwan und dachte, indem er sich zu eiserner Ruhe zwang, logisch, klar und scharf über all das nach, was die nächsten Stunden bringen mußten.

Um zwei Uhr morgens — das ganze Haus lag im tiefsten Schlaf — zog er die Schuhe aus, steckte ein Universalwerkzeug aus Nickel in kleinem Format, das er noch aus Kanada her besaß, zu sich, zog den Krummhaken hervor, mit dem auch gute Schlösser leicht aufzusperren sind, wenn man, wie er, damit umgehen konnte, und öffnete seine schon am Tage vorher eingeölte Tür, die nach dem Korridor führte.

Totenstille, nichts regte sich, er konnte fast das Klopfen des eigenen Herzens hören. Ein paar Schritte nur und er stand vor der Tür des Herrn Geiger. Er preßte das Ohr an das Schlüsselloch und hörte das Schnarchen des alten Mannes. Nun vorsichtig, den Krummhaken angesetzt. Halt! Ein Widerstand! Verflucht! Der Schlüssel steckt ja von innen! Kolo verlor nur einen Augenblick die Fassung, dann zog er aus dem zusammengeklappten Werkzeug eine lange Nadel, wie man sie zum Bohren eines Loches in Lederzeug braucht, führte sie geräuschlos in das Schlüsselloch ein und stieß behutsam den Schlüssel hinaus, daß er drinnen im Zimmer auf die Erde fiel. Wohl war der Boden mit einem Teppich belegt, aber ein gewisses Geräusch, durch das Aufschlagen des Schlüssels bewirkt, hatte sich doch nicht vermeiden lassen. Mit angehaltenem Atem horchte Kolo. Der alte Mann hatte aufgehört zu schnarchen, warf sich unruhig von einer Seite auf die andere, dann trat wieder tiefe Stille ein. Eine volle Minute, die einer Ewigkeit glich, wartete Kolo Isbaregg noch, dann schob er den Krummhaken ein und mit leichter Mühe — er hatte den Versuch oft genug an dem eigenen Türschloß gemacht — drehte er die Zunge des Schlosses um. Fast ganz geräuschlos öffnete sich die Türe und der Eindringling stand nun tief gebückt in dem fremden Raum. Ein Druck auf die kleine elektrische Taschenlampe und er hatte volle Orientierung gewonnen. Im nächsten Augenblick mußte sich alles entscheiden. Würde Geiger erwachen oder auch nur Zeichen von Unruhe von sich geben, so müßte er sich mit einem Ruck über das Bett werfen und mit seinen behandschuhten Händen jeden Laut und jedes Leben ersticken. Auf allen Vieren kriechend, schlich sich Kolo dicht vorwärts, so daß zu seiner rechten Seite das große Doppelfenster, zu seiner linken das Bett lag. Geiger rührte sich nicht und gab nur die sägenden Laute des tief Schlafenden von sich. Also konnte die Arbeit der eigenen Hände wohl vermieden werden!

Beim Fenster richtete sich Kolo halb auf, um mit einem einzigen Schnitt der haarscharfen Messerklinge, die er nun aus dem Werkzeug zog, einen erheblichen Teil der Rouleauxschnur abzuschneiden. Rasch knüpfte er eine Schlinge, wie er es bei den Jagdausflügen in den kanadischen Wäldern gelernt hatte, und kroch wieder tief gebückt, die Schlinge in der linken Hand haltend, an das Bett heran.

Nun mußte es getan werden. Durch den Bruchteil einer Sekunde ließ er das Licht der Taschenlampe aufblinken, Hier saß der Kopf an dem dürren Hals des Greises. Jetzt keine Bedenken! Die Schlinge blitzschnell über den Kopf gezogen. Geiger wacht auf, hebt den Schädel schlaftrunken. Macht nichts — zu spät! Mit beiden Händen zieht Kolo bei voller, brutaler Kraftentwicklung an den Enden der Schnur — ein heiseres Gurgeln und kein Laut mehr! Fester und fester zieht er an, und das Dunkel der Nacht verbirgt ihm den grauenhaften Anblick, den der häßliche tote Greis bietet. Minutenlang verharrt er so, dann läßt er los, tastet nach der Bettdecke und zieht sie der Leiche über den Kopf. Richtet sich hoch auf, horcht wieder aufmerksam nach außen, tappt die Wand entlang, bis er den Anschalter gefunden hat, und nun steht er, von dem vollen Licht des elektrischen Kronleuchters umbrandet, da. Sieht

sich im Spiegel und fühlt ein leichtes Frösteln. Ein bleicher fremder Mann, den er nicht kennt, von dem er nichts weiß, scheint ihm entgegenzustarren. „Bin ich es, bist du es?“ Er faßt sich an die feuchte Stirne, krallt die Hand im Handschuh in die Herzgrube und schließt die Augen, bis das Blut wieder ruhiger durch die Adern fließt und sein Verstand Oberhand über das dunkle Gefühl gewinnt, das emportauchen wollte. Kolo hob den Schlüssel auf, versperrte die Türe hinter sich, drehte den Kronleuchter ab und die Lampe auf dem Nachtkästchen an und begann zu suchen. Im Kleiderkasten, im Schreibtisch, der nicht ihm gehörte, dürfte Geiger schwerlich die große Aktentasche verwahrt haben. Wohl aber hier in dem großen, schweren Lederkoffer, der in einer Fensternische stand. Wo waren aber die Schlüssel zu diesem Koffer? Sicher unter dem Kopfpolster Geigers. Kolo zögerte. Sollte er unter dieses Kissen, auf dem der Erwürgte lag, greifen? Er hatte im Felde Schrecklicheres gesehen und getan und doch — nein — es ließ sich ja vermeiden! Wieder zog Kolo Isbaregg das Nickelwerkzeug aus der Hosentasche, fixierte ein kleines Stemmeisen und schraubte, brach und hob die beiden Schlösser heraus. Nun war der Koffer offen — obenauf lag ein Anzug, dann kam der Pelz, den Geiger, um die Aufbewahrungsgebühr zu sparen, den Sommer über im Koffer hielt — und unter ihm — ja, da lag die schwarze Aktentasche. Ein Ruck und auch sie war offen und es quoll förmlich aus ihr hervor. Ein Banknotenpäckchen und noch eines und wieder eins und noch und noch. Zehn Pakete zu je hundert Tausendkronenscheinen, die Kolo in die Taschen und unter seine Weste schob.

Bevor er das Zimmer verließ, sah er sich sorgfältig um. Nein, es blieb keine Spur hinter ihm, er hatte nicht, wie es in den Detektivgeschichten vorkam, sein Werkzeug oder ein Taschentuch oder einen Manschettenknopf zurückgelassen, nichts als eine gewisse Unordnung, den erbrochenen Koffer, die auf den Teppich geworfene Aktenmappe und — die Leiche! Kolo drehte das Licht ab, horchte wieder angespannt nach außen, sperrte auf, verließ das Zimmer und verschwand lautlos hinter der eigenen Türe. Halb drei — genau eine halbe Stunde hatte alles gedauert.

Und nun wieder leise den Weg in das benachbarte Zimmer des Spaniers. Dort konnte er ausruhen, eine Stunde vor sich hinsinnen, dann die Verwandlung vornehmen. Rasch den schwarzen Knebelbart angepickt, der in dem Handkoffer

verwahrt lag, die Brillen vor die Augen, den Kalabreser auf den Kopf, den Radmantel umgeworfen, nachdem er noch die Stiefel, von denen der eine den Klumpfuß markierte, angezogen hatte. Den Stock mit dem Gummipfropfen in der einen Hand, den Handkoffer in der anderen, verließ nun Diego Alvarez, nachdem er unten den Portier geweckt und sich hatte aufsperren lassen, das Haus, und das milde Frühlicht eines jungen Junitages umfing ihn.


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