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Finkelstein gewann bald die Überzeugung, daß die Nuß, die er sich zu knacken vorgenommen, denn doch allzu hart sei. Er verschaffte sich unschwer vom Polizeipräsidium die ganzen Akten über den Fall Geiger, studierte sie sorgfältig nach allen Richtungen durch, besuchte unter al!erlei Vorwänden mehrmals die Frau Dr. Schlüter — alles vergebens. Wohl hatte er nach und nach die eiserne Überzeugung gewonnen, daß Koloman Isbaregg und der hinkende Spanier, der unmittelbar nach dem Morde verschwunden war, ein und dieselbe Person seien, aber er konnte diese seine Überzeugung nicht mit Material belegen. Durch vorsichtiges Befragen der Frau Dr. Schlüter stellte der Reporter definitiv fest, daß während der ganzen acht Tage, die der angebliche Spanier in der Pension Metropolis gewohnt hatte, ihn die Pensionäre und sogar das Dienstpersonal nur ganz flüchtig zu Gesicht bekommen, da ja der mysteriöse Mann frühmorgens fortzugehen und erst spät abends heimzukehren pflegte. Aber wie beweisen, daß Isbaregg es war, der das raffinierte Doppelspiel getrieben hatte? Die frühere schlechte materielle Lage des Hauptmannes, die vagen Beschuldigungen der Frau Rosenzweig, die noch dazu nichts direkt mit der Geschichte zu tun haben wollte — das waren leise Verdachtsmomente, aber auch nicht mehr! Sie rechtfertigten keine Anzeige, geschweige denn eine Verhaftung.
Einen letzten, mehr spielerischen als ernsthaften Versuch machte Finkelstein, indem er sich eines Tages in die Höhle des Löwen begab, das heißt, Isbaregg aufsuchte.
Kolo hatte nach seiner Rückkehr aus Deutschland das Palais in der Prinz-Eugen-Straße verkauft und eine große Wohnung an der Löwelbastei, gegenüber dem Volksgarten, gemietet, die er mit unendlicher künstlerischer Sorgfalt einrichtete. Die Garage im Haus beherbergte seine Automobile, außer dem Chauffeur standen noch ein Hausdiener, sein Kammerdiener und ein Koch in seinen Diensten, und so lebte der Witwer das Leben eines vornehmen Herrn, der gewählte kleine Gesellschaften gab, die schönste Frau Wiens, die geschiedene Gattin eines Sängers, als seine Maitresse aushielt, ohne mit dem Herzen an dieser Liaison sonderlich beteiligt zu sein, und nebenbei — in aller Stille und mittelst der diskreten Vermittlung des Rechtsanwaltes Löwenwald — ehemaligen Kriegskameraden, denen es schlecht ging, beisprang und ihr Lebensschifflein irgendwie in das rechte Fahrwasser brachte.
Da hatte er eines Tages in zerrissener Offiziersuniform einen blassen, verstört aussehenden Zeitungskolporteur gefunden, in dem er einen Fliegeroffizier seines Truppenkörpers erkannte. Ohne selbst aufzutreten, befreite er durch Löwenwald den armen Teufel aus seiner Not und richtete ihm einen hübschen Buchladen ein. Ein andermal bekam er einen Bittbrief von seinem früheren Major, der mit Frau und drei Kindern im größten Elend lebte und nicht mehr ein und aus wußte. Da mußte ausgiebig geholfen werden. Kurz entschlossen, arrondierte Kolo seinen Besitz in Tirol durch Ankauf eines anstoßenden großen Gutes und setzte den Major als Verwalter ein, der auch die Errichtung einer großen Sägemühle in die Wege zu leiten hatte. Und so tat er noch manches Gute, nicht um den anderen Taten, die er begangen, ein moralisches Gegengewicht zu schaffen, sondern aus innerstem Bedürfnis heraus.
Als ihm nun eines Tages der Diener die schmierige Visitenkarte des Reporters James Finkelstein brachte, fühlte Kolo wohl, wie seine Pulse rascher flogen, aber ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, ließ er den Journalisten eintreten.
Finkelstein erinnerte, daß er seinerzeit in der Pension Metropolis schon die Ehre gehabt, brachte nachträglich noch sein inniges Mitgefühl anläßlich des Ablebens der Frau Gemahlin vor, zündete sich mit Behagen eine dargebotene Zigarre an, wobei er aber Kolo immer ins Gesicht sah, und erklärte dann den Grund seines Besuches. Es sei ihm gelungen, in der Mordaffäre Geiger eine neue, allerdings recht vage Spur zu finden und er hoffe, daß Herr lsbaregg ihm vielleicht doch irgend etwas von Belang mitteilen könne.
„Das wäre?“ meinte Isbaregg mit eisiger Ruhe.
„Nun, haben Sie denn eigentlich niemals diesen Spanier, der doch zweifellos der Mörder ist, zu Gesicht bekommen?“
Kolo überlegte kurz.
„Einmal, nach dem Souper, bin ich, als ich die Pension verließ, ihm wohl im Vorzimmer begegnet. Aber es war halbdunkel und ich habe nur die hinkende Gestalt gesehen, ohne ihr Beachtung zu schenken.“
„Nun, und ist Ihnen nicht die Idee gekommen, daß dieser Mann vielleicht verkleidet war oder sonst etwas mit ihm nicht in Ordnung gewesen ist?“
Isbaregg lachte auf: „Nein, Verehrtester! Wahrhaftig nicht! Erstens ist es nicht meine Gewohnheit, fremde Leute zu mustern, und dann interessierte mich dieser angebliche Spanier nicht im mindesten.“ Und voll Ironie fügte Kolo hinzu:
„Allerdings, wenn ich geahnt hätte, Ihnen, Herr Finkelstein, einmal damit dienlich sein zu können, so hätte ich mir den Mann ganz genau betrachtet.“
Verlegen und enttäuscht entfernte sich der Reporter, nachdem er noch eine Zigarre eingesteckt hatte. Und er war wieder irre geworden. Dieser Mann machte wahrhaftig nicht den Eindruck eines Verbrechers! Finkelstein war halb und halb entschlossen, sich die Sache aus dem Kopf zu schlagen. Es bedurfte erst einer Wutszene seitens der Frau Rosenzweig, um in ihm wieder den Verdacht festzuklemmen. Aber er sagte der aufgeregten Freundin doch auf den Kopf zu:
„Liebe Selma, das ist alles recht schön und gut, aber vom Verdacht allein kann ich nicht leben und ich hab‘ in der letzten Woche keine hundert Zeilen für die ‚Morgenpost‘ geschrieben. Wenn das so weitergeht, so schmeißt man mich noch hinaus und dann, ade Präsenzlisten mit Frau Selma Rosenzweig als Anwesende. Ich werde die Sache im Kopf behalten, aber zunächst muß ich ‘auch anderes arbeiten.“
Und dann pumpte er Frau Rosenzweig um einige hundert Kronen an, die sie nur sehr widerwillig und nicht ohne Bedingungen zu stellen, hergab.