Roland Betsch
Die Verzauberten
Roland Betsch

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Schon wieder eine verdächtige Erscheinung

Ganz früh am Morgen wache ich auf und richte mich erstaunt im Bett hoch. Der Tag ist noch grau und das Rotschwänzchen ruft. Lohengrin liegt vor meinem Eisenbett und äugt mich an. Während ich mich ankleide, schaue ich mich noch einmal genau in der Kammer um. So ist es also wahr und ich habe nicht geträumt. Kommode, Waschgestell, Kleiderhaken. Kaiser Wilhelm in glänzendem Öldruck.

Schritte trampeln über den Hof; ich höre Blechgeschirre klappern. Hähne krähen. Wo bin ich nur? Wie komme ich hierher?

Bettina, denke ich; Fräulein Bettina von Bernau. Ach, wieviel blühendes Geheimnis ist um mich, der ich Fabian Flox heiße und ein Elementenfärber bin. Ich war einmal ein anderer, aber das ist lange her, das liegt jenseits aller Grenzen.

Ich höre jetzt ein Grammophon spielen; es muß ein uraltes, schreckliches Instrument sein, weil es krächzt wie eine Kavalkade von Saatkrähen.

Was vernehme ich denn? Welche zerschundene Platte ist aufgelegt? La Paloma, die weiße Taube.

Ich gehe ans Fenster und werde weich gestimmt, nun das Lied so schön und so schauerlich verhunzt in den Morgen klingt.

Ich gehe dem heiseren Gesang nach und komme durch eine offene Tür in den Kuhstall.

Da steht das Schauerinstrument in einer verspinnwebten Fensternische und zerkratzt den frischen Morgen.

Auf einem Schemel, vor einer sauberen und anständigen, schwarzweiß gefleckten Kuh – auf einem Schemel und vor sich hinpfeifend – auf einem Schemel hockt Kollege Hurrle.

Meinetwegen, denke ich; meinetwegen! Ich bin nicht im mindesten überrascht. Ich wundere mich nicht, wenn unser 115 Theaterdirektor mit den Ritterstiefeln vor der andern Kuh hockt und ebenfalls melkt.

Hurrle sieht mich nicht; eine Weile stehe ich da und schaue ihm andächtig ehrfurchtsvoll zu. Vielleicht ist es falsch, ihn jetzt zu stören. Man muß es gesehen haben, wie er mit beiden Händen am Kuheuter herumfuhrwerkt und wie die weißen Strahlen in den Eimer zischen.

»Seit wann kannst du denn Kühe melken?« frage ich Hurrle. Da schnellt er herum und starrt mich an.

»Du wirst nicht verlangen, daß ich Ochsen melke. Wie, bitte?«

Jetzt erst packt ihn das große Staunen. Er stellt das schreckliche Katzeninstrument ab, kommt auf mich zu und breitet die Arme.

»Bist du's, Kollege, oder ist es der Geist Hamlets, meines seligen Vaters?«

»Ich bin's. Nimm mich hin!«

Er ist freudig gerührt, umarmt mich und riecht nach Kuhmist.

»Wo kommst du denn her?«

»Ich habe mich hier anheuern lassen.«

»Anheuern lassen? Wer hat dich denn angeheuert?«

»Fräulein Bettina.«

»Oh, du romantischer Narr! Wo ist denn Lohengrin?«

»Oben in meiner Kammer.«

»Kammer?! Hast du denn schon eine Kammer?«

»Eine prächtige und herrliche Kammer; ein Zimmer, ist man versucht zu sagen. Der Kaiser Wilhelm hängt überm Bett; ich habe ihn immer gern gemocht, den alten Kaiser. Auch besitze ich einen Wandspiegel; einen Zauberspiegel; wenn man hineinschaut, sieht man aus, als hätten einen die Bienen gestochen.«

»Du kannst das Übertreiben nicht lassen.«

»Ich habe viel erlebt seit jener Nacht in der Weißen Lilie. Und du bist also in die Landwirtschaft gegangen?«

»In der Tat, ja. Ich will hier ein wenig umorganisieren; es scheint mir manches veraltet. Mit dem Baron habe ich bereits verhandelt. Du siehst hier schon den ersten Erfolg.«

116 »Wo?«

»Hier! Siehst du nicht das Grammophon?«

»Doch. Gut, daß du es abgestellt hast.«

»Kurz gesagt: ich melke mit Musik. Verstehst du?«

»Nicht ganz.«

»Ich melke mit Musik. Es ist dir vielleicht nicht bekannt, daß ich jahrelang in Südamerika auf einer sogenannten Hazienda war. Wir hatten dort einige hunderttausend Stück Rindvieh im Freien 'rumlaufen.«

»Einige Hunderttausend?«

»Wenn du erlaubst, ja. Diese Tiere wurden mit Armeemärschen gemolken. Man hat statistisch festgestellt, daß die Kuh musikalisch ist und sich mit Klavier oder sonstiger Musikbegleitung leichter und ausgiebiger melken läßt.«

»Aha! Und da willst du hier – –«

»Das gleiche tun. Ich habe das dem Baron sofort vorgeschlagen, und da er durchaus ein Mann der Tat ist, hat er sich einverstanden erklärt. Ich mache zurzeit die ersten Versuche.«

»Und damit du selbst auch freudiger an der Kuhstrippe ziehst, hast du dir La Paloma auf die Walze gelegt.«

»Mein Lieblingslied. Wir haben's vorm Mast gesungen.«

»Mußt du dabei nicht an Xaver Schluckebier denken?«

»Er konnte es trefflich blasen, der Fürst aller Nachttöpfe.«

»Und die Porzellanbrigitte? Hast du sie vergessen?«

»Bewahre. Ich habe sogar nachts einmal von ihr geträumt. Und als ich wach wurde, grinste der Vollmond durchs offene Fenster. Ich schaute hinaus und sah drüben im Herrenhaus Licht brennen. Fräulein Bettina stand am Fenster und schaute in die Nacht, als wollte sie alle Sterne einfangen.«

»Fräulein Bettina, sagst du?«

»Keine andere.«

»Es gibt dunkle Zusammenhänge, Hurrle. Fäden spinnen sich zwischen Gutshaus und Porzellanwagen. Oh, glaube mir, ich bin einer verteufelten Sache auf der Spur.«

117 Ich will ihm noch nähere Andeutungen machen, muß es aber unterlassen, denn es kommt jetzt ein Herr im Jagdanzug in den Stall. Ein kräftig gebauter Mann ist das, mit breiten Schultern und einem energischen Kopf. Das Gesicht ist glatt rasiert.

Baron Alexander von Bernau, wie mir Hurrle rasch zuflüstert.

»Bist du der Neue?« fragt er mich und lacht vergnügt. Er hat ein kräftiges und volles Gebiß.

»Ja,« sage ich und trete vor, »wenn es erlaubt ist, Herr Baron.«

»Schnickschnack, Baron! Siehst ganz passabel aus. Meine Tochter hat mir schon von dir erzählt.«

»O bitte, Herr Baron, o bitte!«

Ich werde recht verlegen, weil er von Fräulein Bettina spricht und daß sie von mir erzählt haben soll.

»Na ja, das ist ein Teufelsluder; sorgt dafür, daß die Arbeitslosigkeit vermindert wird; ho ho hei ha ha! Wie heißt du denn eigentlich?«

Ich komme ein wenig in Bedrängnis, weil Hurrle mit einem fetten Grinsen im Gesicht neben mir steht. Ich sehe ihm an, daß er etwas sagen will.

»Fabian Flox!« beeile ich mich leise hervorzuwürgen.

»Wie, was?« platzt Hurrle los und kommt noch näher. Ich werfe ihm einen furchtbaren Blick zu; einen vernichtenden Blick, könnte man getrost sagen.

»So so, Fabian Flox. Nicht übel, gar nicht übel. Bissel zimperlich, was, wie, häh? Keine Bange, mein Lieber. Hast du einen Beruf?«

Mir wird warm, man darf es glauben, daß mir warm wird. In Kuhställen ist es nun ja meistens warm, das wird mir jeder bestätigen, der in seinem Leben einmal in einem Kuhstall war.

Hurrle steht lauernd da und hat einen abgefeimten Gaunerzug im Gesicht.

»Ob du einen Beruf hast, meine ich!«

118 »E – Elemen – – Bierbrauer, Herr Baron, wenn es erlaubt ist.«

Der Baron lacht hinaus und schüttelt sich wie ein Pferd vor unbändiger Freude.

»Bierbrauer? Ho ho hei ha ha! Großartig! Famos, sage ich dir. Famos! Ich will dir was sagen: ich war bei den gelben Dragonern, da habe ich einen Burschen gehabt, der war auch Bierbrauer. Famos! Von ihm habe ich das ganze alkoholische Handwerk gelernt. Jawohl. Ich braue dir Hell und Dunkel, daß du nur so staunst.«

Ich staune wirklich; man wird es mir nicht verargen, wenn ich staune. »So so,« sage ich und habe das Gefühl, als ob ich einen Pfahl im Kreuz hätte.

»Da wollen wir uns aber mal heute oder morgen eingehend über die Bierbrauerei unterhalten. Verstanden?«

»Jawohl, Herr Baron.«

»Ich habe besonderes Interesse für diese Hopfen- und Malzkunst.«

Ich wische mir etwas Schweiß von der Stirne.

»Du kannst mir sicher da manchen Wink geben, wie?«

»Was in meinen Kräften steht, jawohl, Herr Baron.«

»Ich wette, Ihr habt da besondere Kniffe? Hab' ich recht oder nicht? Na, rede nur! Willst sie nicht verraten, hä? Habt Ihr Kniffe oder habt Ihr keine?«

»Doch, Herr Baron, natürlich!«

Hurrle steht mir nicht bei, nein, er läßt mich furchtbar an der Angel zappeln. Er ist ein wenig abseits getreten und schaut verschlagen aus den Augenwinkeln.

Der Baron, in angeregter Laune, ein derbes und kräftiges Bündel Heiterkeit, lacht breit hinaus und stampft mit den Stiefeln.

»Kostbar! Wird mir da ein Bierbrauer ins Haus geweht. Soll ich dir eine Enthüllung machen: ich bin gar nicht abgeneigt, mir mal selbst eine kleine Privatbrauerei einzurichten. Liebhaberei, 119 verstehst du. Da hast du am Ende Aussichten, Braumeister zu werden. Ho ho hei ha ha! Wie der Kerl schwitzt!«

»Es ist warm hier, Herr Baron; die Kuh – – meistens ist es bei Kühen warm.«

»Stimmt, bei Kühen ist es warm. Bei Ochsen auch, jawohl, hab' ich recht, Hurrle, oder nicht?«

»Kann nicht anders sein in einem musikalischen Stall,« sagt Hurrle und kommt näher.

Oh, der Narr! Da steht er und macht sein Begräbnisgesicht. Man sollte ihn ohrfeigen, so steht er da.

Auf jeden Fall bin ich froh, daß wir vom Bierthema vorläufig abgekommen sind.

Der Baron, das muß man sagen, ist ein prächtiger Mensch. Man muß ihn nur mal genau anschauen, wie er da im Stall steht und die Beine spreizt; und den Kopf ein wenig nach hinten gebogen hat, als wollte er fortwährend einem unangenehmen Geruch ausweichen. Und wenn er lacht, kriegt er Falten in die Nase. Er kommt übrigens noch auf das Grammophon zu sprechen und interessiert sich für den musikalischen Erfolg.

»Man sollte es,« meint Hurrle, »getrost mal mit einer Carusoplatte versuchen; ich bin kaufmännisch und viehtechnisch überzeugt, daß sie sich rasch amortisieren würde.«

»Solange du keine Symphoniekonzerte verlangst,« poltert der Baron los, »ist mir's recht.«

»Ich denke da beispielsweise, sagen wir mal, weil es mir gerade einfällt, an die berühmte Tenorarie aus einer Oper namens Bohème: Wie eiskalt ist dies Händchen. Wobei man ohne Übertreibung diese Arie als von einer Kuh gesungen sich denken kann, deren warmes Euter von den winterlich kalten Händen einer Stallmagd gemolken wird.«

»Er ist und bleibt ein Bajazzo,« sagt der Baron zu mir, »ich hab's ihm schon einmal gesagt, er hätte Komödiant werden sollen.«

»Nach dem Komödianten stand schon immer mein Sinn.« 120 Hurrle schneidet eine greuliche Fratze. »Man kann alt werden in einem solchen Beruf, weil man so sorgenfrei lebt.«

Der Baron, der mir immer bekannter und vertrauter wird, je länger ich ihn anschaue, nimmt den grünen Hut vom Kopf und kratzt sich in den Haaren.

»Nicht mal das Schlechteste, wenn man einen Schuß Komödiantenblut in sich hat. Als Lausbub wollte ich immer unter die Fahrenden. Schaubudenbesitzer und Schreckenskammer. Und Gewichte stemmen und Ringkämpfe. Ja, ja, da hab' ich was geleistet, das steckt mir heute noch in den Knochen.«

Was macht er denn? Seht nur hin, was der Herr Baron macht!

In einer Ecke steht eine alte, verstaubte Flasche. Er nimmt die Flasche, stellt sie auf den Stallboden und greift nach zwei Hühnereiern, die in einem Bastkorb liegen. Mit einem Bein balanciert er sich auf die Flasche hinauf, spreizt das andere wie eine Prima Ballerina und vollführt mit den beiden Eiern dazu ein artiges Jongleurkunststück.

Hurrle weiß nichts Eiligeres zu tun, als das Grammophon in Betrieb zu setzen, und so genießen wir hier eine lustige und obendrein noch musikalisch untermalte Stallszene, der auch sämtliche Kühe erstaunt glotzend folgen.

So einer ist der Baron. So und nicht anders. Er lacht noch einmal und verläßt dann den Stall. Bis in alle Ewigkeit werde ich sein Lachen hören. Ho ho hei ha ha! so lacht er.

Hurrle kommt auf mich zugeschlichen. »Mein Herr, apropos und nebenbei: wie ist Ihr Name, bitte?«

»Fabian Flox, Elementenfärber! Wer zweifelt, kann meine Fleppe sehen.«

Ich ziehe die falschen Papiere hervor und halte sie ihm unter die Nase.

Er schaut zuerst die Papiere, dann schaut er mich an.

»Wie heißt du? Fabian Flox?!«

»Nicht anders. Willst du alter Komödiant – –« 121

»– – psstt! Nichts von Komödianten!!«

»– – mir etwa beweisen, daß ich anders heiße?«

Er schaut wieder in die Papiere, betrachtet die Stempel und kratzt am Bild herum.

»Bist du verrückt?«

Er lacht hinaus, daß die Kühe erschrecken und gibt mir die Fleppe zurück.

»Hast du denn am Ende nichts zu essen gehabt? Ist dir der Hunger in die Gehirnwindungen gestiegen?«

Ich lasse nicht nach und steure harten Kurs.

»Nichts von alledem. Ich habe mir die ganze Zeit eingebildet, ich sei ein anderer. Stimmt nicht. Wir sind verzaubert, du weißt es am Ende noch nicht.«

»Was sind wir?«

»Verzaubert. Ich bin ein anderer, als ich meinte. Ein Mann mit Namen Kilian Baudendistel, ein Bauchredner und Hexenschußmagnet hat mir die Augen geöffnet. Er ist schuld an meiner Wiedergeburt.«

»Du mußt in eine Anstalt.«

»He he he! Weißt du am Ende, wer du bist? Bitte, wie heißt du?«

»Hugo Hurrle, du Narr!«

»Das bildest du dir nur ein. Ich will dich zu Kilian Baudendistel führen, damit er dir sagt, wer du bist.«

Da steht jetzt das alte Roß und starrt mich an; da steht er, das Rampenschwein, der Mann mit allen Winden, da steht er, riecht nach Kuhmist und hat zum erstenmal die Sprache verloren. Außerdem hat er, wie ich sehe, einen neuen Arbeitsanzug an, dünne Hosen und Jacke aus einem grünlichen Stoff.

»Wo hast du den Anzug her?« frage ich und zupfe am Stoff.

»Auf der Kammer gefaßt. Du wirst dir im Ernst nicht einbilden, daß du mit deiner elenden Wolke hier Dienst tun kannst.«

»Hast du ihn gekauft?«

»Gefaßt, sage ich dir. Man muß ihn langsam abverdienen. 122 Er ist aus Schilfleinen, du darfst ihn dir genau befühlen. Der Herr Baron hat ihn bereits für mich abgeschrieben.«

»Abgeschrieben?!«

»Jawohl, das Konto ist ausgeglichen. Ein kleiner Vertrag ist effektuiert.«

»Was ist er?«

»Effektuiert.«

»Ach so.«

»Von wegen der musikalischen Melkmethode.«

»Richtig, richtig.«

»Eine kleine Gage für meine Kuhidee.«

»Ich hätte auch gerne einen solchen Anzug. Vielleicht habe ich bald eine Roßidee.«

»Du wirst nachher zum Verwalter gehen, dich ordentlich melden und einteilen lassen. Dann kannst du auch einen solchen Anzug fassen.«

Er ist wirklich großartig, der Anzug; hat vier Taschen in der Joppe, und jede Tasche läßt sich mit einem braunen Horn- oder Geweihknopf zuknöpfen.

»Und wenn dich jemand fragt, wer ich bin, dann sagst du Hugo Hurrle, Landwirt. Den Komödianten nimmst du nicht zwischen die Zähne. Und beim Verwalter nennst du deinen rechten Namen und machst keine Eselssprünge.«

»Fabian Flox.«

»Noch ein Wort, und ich hau' dir einen Kuhschwanz um die Ohren.«

»Verzaubert sind wir, Hurrle, und wissen es nicht. Alles ringsum ist Zauber.«

»Du selbst bist der faulste Zauber.«

»Pass' mal auf! Bitte, bequeme dich, hier einen Augenblick an den alten Tisch zu kommen.«

»Was willst du denn?«

Ich will mich jetzt auch einmal aufblasen und den Geschwollenen spielen. Jawohl, es scheint mir jetzt die rechte Zeit, die Kreide 123 aus der Tasche zu ziehen. Da halte ich sie in der Hand und tue, als ob sie ein Wunderding wäre.

»Pass' mal auf, ob nicht alles Zauber ist auf der Welt! Genau mußt du aufpassen. Peng! Was habe ich gemacht?«

»Einen Kreidepunkt hast du auf den Tisch gemacht.«

»Stimmt, ein Kreidepünktchen. Nun nimm bitte die Kreide selbst in die Hand.«

Er tut es. Ich führe die flache Hand unter den Tisch und haue mit der andern Hand, die zur Faust geballt ist, gewaltig auf das Kreidepünktchen, daß die Melkeimer klappern.

»Bitte!« sage ich, ziehe die flache Hand unterm Tisch hervor und zeige ihm, daß das Kreidepünktchen jetzt auf dem Handteller ist. Er staunt und grient.

»Hokuspokus!«

»Du sagst Hokuspokus, ich sage Zauber.«

Hurrle, der Charakterkomiker, grübelt über das Hexenstück nach; ich sehe ihm an, wie er darauf brennt, es zu erfahren. Es wurmt ihn ordentlich, daß er hier einer Sache gegenübersteht, deren er nicht Herr ist.

»Ich könnte,« meint er, um wieder Oberwasser zu kriegen, »von einem Trick berichten, den mir ein indischer Fakir – –«

»Bleibe mir jetzt mit deinem Fakir vom Leib!«

»Was für ein Unterschied, wenn ich bitten darf – –«

»Unterschied? Gerade der Unterschied ist die Zauberei. Du hast, was du unter vier Augen nicht leugnen wirst, früher nach Schminke gerochen und jetzt, nimm mir's nicht übel, riechst du nach Düngemitteln. Da hast du den Unterschied!«

Er wendet sich ab und marschiert auf die Kühe los.

»Ich bin zum Melken da und nicht zum Faulenzen. Mach', daß du aus dem Stall kommst.«

Er setzt sich auf den Melksessel und zieht an der Kuhstrippe. Weiße Fontänen sprühen.

In diesem Augenblick höre ich hinter mir ein Geräusch. Ich wende mich um und glaube, einen Schatten verschwinden zu 124 sehen. Ein Besen fällt um und dann höre ich eilige Schritte über den Hof gehen.

»Hugo, es war jemand da. Ein Mensch war im Stall und hat uns belauscht.«

Ich schaue durch die schmutzigen Stallfenster hinaus und sehe einen Menschen in Stiefelhosen, Gamaschen und Lederjacke an der Tür des Gutsgebäudes stehen. Der Mensch hat eine Lederkappe und trägt ein amerikanisches Bärtchen.

»Hugo, dort steht ein Mann mit einem ausländischen Bärtchen und mit einer braunen Lederjacke.«

»Was weiter! Das ist der Chauffeur vom Herrn Baron.«

»Der Mann kommt mir verdächtig vor. Warum hat er uns denn belauscht?«

Hurrle kommt wieder herbei, stellt sich vor mich hin und sagt: »Du, mach's noch einmal!«

»Was denn, Hugo?«

»Sag' nicht immer Hugo! Die Sache mit dem Kreidepünktchen.«

»Drückt es dir auf den Magen?«

»Nein, nein, aber ich glaube, ich weiß, wie du es machst.«

»So? Pass' also auf!«

Ich nehme wieder die Kreide und mache ein Pünktchen auf den Tisch.

»Haalt!« ruft er, »jetzt zeige mal deine flache Hand!«

Ich zeige ihm die Hand. Er schaut unter den Tisch; ja, er untersucht alles ganz genau.

»Her mit der Kreide!«

Ich gebe ihm die Kreide und will gerade mit der Faust auf den Tisch hauen, da sehe ich doch am Stallfenster von draußen her einen Kopf erscheinen. Kein Zweifel, es schaut jemand zu uns herein; ein Mensch läuft herum, der uns heimlich beobachtet.

»Hugo, der verdächtige Mensch ist wieder da.«

»Wo denn?«

»Dort am Fenster war er. Jetzt ist er fort!«

125 Wir schauen beide durchs Fenster. Der Chauffeur schlendert über den Hof, recht gleichgültig und so. als ob nichts in der Welt ihn interessieren könnte.

Dann verschwindet er im Haus.

»Der Mann gefällt mir nicht.«

Ich denke darüber nach; etwas fällt mir auf, ich weiß nur nicht, was. Vielleicht ist es der Gang, dieser etwas zottelnde, schlendernde Gang.

Ich schicke mich an, den Kuhstall zu verlassen. Hurrle kommt mir noch einmal nachgelaufen.

»Wenn du mir sagst, wie man die Geschichte mit dem Kreidepünktchen – – wenn du mir's sagst, dann will ich zwei, nein drei fabelhafte Fakirtricks dagegen eintauschen. Du machst kein schlechtes Geschäft.«

»Hugo, ich darf es dir nicht sagen. Sieh mal, ich habe es dem Mann, der mir's verriet, fest in die Hand versprochen. Stillschweigen habe ich gelobt!«

»Dann geh zum Henker!«

»Nein, zum Gutsverwalter.«

Das tue ich auch. Wer aber war der Mann mit der Lederjoppe? 126

 


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