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Aus der großen Stadt, aus dem gespenstischen Gefängnis sind wir hinausgewandert. Lange mußten wir gehen, bis wir die letzten schmutzigen Anhängsel dieser Stadt hinter uns gebracht hatten. Das war eine Fahrt mit gutem Wind bei Nacht und Lichterglanz.
Wer um diese Stunden durch die gewundenen Adern einer solchen vielhunderttausendköpfigen Menschensiedlung von dannen zieht, der wirft zum erstenmal einen Blick in den unruhvollen Blutkreislauf des steinernen Organismus. Nie, bei meiner Seligkeit, habe ich gewußt, daß so viele Dinge geschehen zu nachtschlafender Zeit, daß abseits so viel Leben sich regt, und daß eine Unzahl von Funktionen nötig ist, um die steinerne Hölle in Betrieb zu halten.
Da glühen die weißen und roten, die gelben und grünen Lichter auf den Bahnanlagen; Züge fahren aus und ein, darunter sind auch lange Schlangen von D-Zügen, die mit stolzem Donnern in die Ferne streben. Signale gehen auf und nieder, Weichenlichter drehen sich, es ist wahrhaftig ein prächtiges Feuerwerk. Da schwelen auch Pechfackeln und Asphaltöfen glühen. Straßenbahnschienen werden geschweißt. Seht nur die schwitzenden Männer an, die nackt in der roten Glut stehen. Unterirdisch und oberirdisch wird gehämmert und genietet; Kolonnen von Menschen sind mit allen Muskeln beschäftigt. Sie schaufeln auch Erde aus, reißen und sprengen den Asphalt oder hocken hoch oben auf den Leitungsmasten und spannen blitzende Kupferdrähte.
Hurrle stiefelt an meiner Seite mit Mut und Gottvertrauen.
»Du,« sage ich, »wie ist es möglich, daß man so lange gelebt hat und nie wußte, daß die Nacht so maßlos lebendig ist.«
»Da könnte ich dir, mein lieber Anfänger, von ganz andern 14 Dingen berichten. Nämlich von Walfischen bei Vollmond, von Heuschreckenvölkerwanderungen im abnehmenden Viertel. Oder von der Lasterhaftigkeit, die sich in der Nacht auf allen Planeten breitmacht. Ich habe schon Dinge erlebt auf dieser Welt, davon träumst du in deinen glücklichsten Träumen nicht.«
Einmal kommen wir an einem großen Haus vorüber. Es braust und rauscht, es tobt und brandet und hämmert in diesem Haus. Durch ein Fenster schaue ich hinein! Aha! Eine Druckerei. Die Rotationspressen drehen sich; die Morgenausgabe wird in Tausenden von Exemplaren ausgespien. Es riecht nach Schmieröl und Druckerschwärze. Tobend bewegt ist dieser Mechanismus. In einer zugigen Einfahrt stehen Dutzende von Frauen und Männern. Die Träger. Sie warten auf die neuen Wahrheiten.
Der Leib der Presse wälzt sich in den heißen Lagern.
»Hurrle, das alles ist wie eine Röntgenaufnahme.«
»Das ist noch gar nichts. Wenn du Lust hast, will ich dir von New York erzählen oder von Schanghai; dort geht es erst toll zu in den Nächten. Oder wünschst du ein Stimmungsbild aus einem nächtlichen Schlachthaus in Chicago?«
Endlich lassen wir die letzten schwarzen Häuser hinter uns. Wir kommen ins Freie. Da sind schlafende Wiesen und leise singende Getreidefelder. Wir ziehen immer weiter; keine Müdigkeit fühlen wir, nein, eine Lust ist es, zu wandern. Kaum zu glauben, zum erstenmal sehe ich wieder einen weiten Sternenhimmel über mir. Wirklich, es gibt noch einen nächtlichen Himmel mit diesen ungezählten goldenen Funken.
»Hurrle, sag, sind das wirklich alles richtige Sterne da oben? Und ist das hier ein Haferfeld oder Weizenfeld?«
»Ein Kornfeld, Knabe Stephan. Du kennst nicht einmal die Getreidearten. Schande über dich. Du verwechselst die Gelbrübe mit dem Selleriekopf. Warum? Weil du nie hinausgerochen hast ins bunte Leben. Ich aber bin nicht zum ersten Male auf der Walze. Alle Länder der Welt habe ich durchtippelt.«
Er redet weiter und trägt recht dick auf, tut wie der König aller 15 wandernden Galgenvögel und weiß von grausigen Abenteuern zu berichten. Ich habe ihn im Verdacht, daß er manchmal aufschneidet und seine Erlebnisse aufbläst wie die Gummijahrmarktsteufel. Ich glaube, es will schon bald Tag werden. Im Osten ist ein grauer Schimmer. Weiß Gott, ich werde nun doch ein wenig müde, aber ich habe nicht den Mut, es auszusprechen; denn ich will wacker sein im Marschieren und abgestumpft wie ein alter Tippler.
Seht nur hin, jetzt schlüpft die Straße in einen Wald hinein. Wie einen Tunnel sehe ich den schwarzen Eingang. Hurrle ist ganz schweigsam geworden und läßt ein wenig den Kopf hängen. Am Ende ist auch er müde und will es nicht sagen. Der Wald nimmt uns auf und er wird immer stiller und tiefer, dieser schlafsüchtige Wald mit den Buchen und Tannen.
Wir gehen von der Straße ab zwischen den Stämmen hindurch und finden einen geschützten Platz, wo das lange, dünne Waldgras wächst. Dort wickeln wir uns in die Pferdedecken und legen uns auf den Rücken. Eine tiefe Ruhe ist um uns, und mir ist mit einemmal, ich müßte die Melodie der Erde klingen hören. Was ich aber höre, ist Hurrles schläfrig meditierende Stimme.
»Da liegen wir und haben Frieden. Komödianten oder Vagabunden; sag, wo ist da der Unterschied? Mit der Lupe nicht herauszufinden. Der Teufel soll mich holen, wenn ich jemals wieder vor die Rampe und vor die Hunde gehe. Laß mich mal gähnen.«
Er gähnt wirklich und wälzt sich auf die andere Seite. Und noch einmal, zwischen Schlafsucht und Gähnkrampf, muckt der Komödiant in ihm auf.
»Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt geworden, laß dir's gesagt sein. Alle widrigen Winde der Welt sind mir um die Hakennase geweht. Ich kann dir mit einem kapriziösen Schicksal aufwarten, mein Getreuer. Sieh mal, ich könnte mich jetzt vor dich hinstellen – –«
»Du sollst schlafen, Hurrle.«
»Halt's Maul – –, vor dich hinstellen, sage ich, und dir den Kesselflicker aus der Widerspenstigen Zähmung als extravagantes Kunstwerk hier bieten – –«
16 »Um Gottes willen!«
»Ich tue es nicht, oder ich will das Bauchdonnern kriegen. Aber sag' doch, Mensch, gestehe es doch: ist es nicht eine herrliche Rolle? Wie gerne habe ich diesen verluderten Saufbold gespielt, dieses gefüllte Faß, diesen randalierenden Weinschlauch, diesen – –«
»Schlafen, Hurrle, schlafen.«
»Schon recht! Die Pest übers ganze Theater! Ich liege hier und habe einen leeren Magen und mir fehlt der Nikotingeschmack im Hals. Das erste, was morgen her muß, ist eine Pfeife, ein richtiger Gurkenwärmer, und wenn ich ihn stehlen muß. Störe mich nicht mehr, ich will schlafen.«
Er rollt sich zusammen wie ein Igel und brummt in sich hinein. Ich liege auf dem Rücken und sehe zwischen den belaubten Ästen in den Himmel hinauf, an dem die vielen wandernden Augen der Welt schon langsam verblassen. Und die Stimme Hurrle's will nicht verstummen.
»Tausende habe ich begeistert; Tausende haben gelacht über meine Torheiten. Meine große Begabung hat günstig auf ihre Verdauung gewirkt. Was war ich denn; was bin ich denn? Ach, Bruder an meiner Seite, ein großer Mime geht in die Wälder; ein Menschendarsteller, ein Charakterkomiker von Format meidet das Bett und pennt zwischen Buchenbäumen. Oh, über uns Narren!«
Sein Denken zerbröckelt, seine Logik züngelt in die Baumäste. Der Schlaf besiegt ihn. Der Schlaf ist ein Riese. Da liegt der große Mime und schnarcht. Es ist ein tiefes, sattes Schnarchen und klingt kurz und rechthaberisch wie ein Hobel, der über sprödes Holz fährt. Ist es nicht zum Lachen: hier liegt in einer alten, gestohlenen Pferdedecke ein Charakterkomiker und sägt sein Winterholz. Ich beuge mich nahe zu ihm; der Mund steht ein wenig offen, das Pumpwerk der Lunge arbeitet mit Macht. Das Gesicht ist wirklich nicht geistreich.
Altes Roß, denke ich. Altes Roß!
Ich liege in der Wäldernacht und stelle fest, daß ich zufrieden bin. Ich bin frei von Wünschen in diesem Augenblick. Glaubt mir, 17 ich suche nach einem Wunsch und kann keinen finden. Ich will einschlafen. Erde rieche ich und Laub und Farnkraut. Und schmecke bittere Baumrinde.
Keinen Wunsch, meine Freunde. Auf dieser großen Erde keinen Wunsch.
Da habe ich ein großartiges Erlebnis.
Ich liege mit geschlossenen Augen und höre auf das feine Sausen, das zwischen den Stämmen hindurchzieht; deutlich fühle ich, wie ich hinüberschlafen will in die unerforschte Welt, da spüre ich halb benommen, daß etwas Fremdartiges an meiner Seite ist, daß sich etwas nähert mit vorsichtigem Tasten. Ich habe nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. Nun kommt deutlich ein heißer Atem in mein Gesicht; es bläst mich an und hat tierische Witterung. Mein Herz klopft hörbar in der Brust, aber ich bin wehrlos und halb gelähmt. Etwas Kaltes berührt mich mit ungeheurer Vorsicht, und dann fühle ich ganz deutlich, wie eine warme, weiche Zunge mein Gesicht beleckt.
Vielleicht, daß es Bären gibt in diesen Wäldern, wer will es wissen. In diesem Fall muß man ruhig liegenbleiben und sich tot stellen; denn der Bär greift etwas leblos Daliegendes nicht an, das hat mir einmal der Wärter in einer Menagerie gesagt.
Hurrle schnarcht wie ein Vollgatter, ich werde keine Hilfe an ihm haben. Es gelingt mir jetzt, langsam den Kopf zu wenden und die Augen plienend zu öffnen. Im gleichen Augenblick höre ich leises, klagendes Winseln.
Das ist kein Bär, denke ich; denn Bären winseln nicht so; Bären können weinen wie kleine Kinder, aber sie winseln nicht.
Nein, es ist ein Hund. Ich erkenne ihn, wie er schattenhaft vor mir steht. Da richte ich mich auf.
Der Hund wird freudig bewegt; er wedelt mit dem kurzen Stummelschwanz und freut sich nach Hundeart. Es ist ein drahthaariger Jagdhund, mager und verkommen. Nun ich über sein Fell streiche, fühle ich die Rippen und die eingefallenen Flanken.
Welch ein Zusammentreffen in der Wäldernacht. Tiere begegnen 18 sich; auch ich bin nichts als eine streifende Kreatur, von Hunger und Weh geplagt und ewig auf der Suche. Der Hund duckt sich an meiner Seite nieder und legt den Kopf auf meinen Schoß. Alles ist schwarz und schattengespenstisch, nur seine Augen werfen einen milden Glanz aus. Die Wunder der Welt wollen aus diesen Hundeaugen treten.
Schau mich an, sage ich leise und wühle die Hände in sein struppiges Fell, schau mich an, ich bin dein Bruder. Wir alle, die wir umherstreifen, suchend ein unbekanntes Ziel, wir alle, die wir dem großen Rätsel gegenüberstehen, sind Brüder. Alle fahrenden, streifenden, wandernden Kreaturen sind Brüder. Komm und lege dich an meine Seite. Ich weiß nicht, wer du bist und woher du kommst, du Bruder Fremdling, du Ausgeburt der dunklen Wälder.
Der Hund liegt still, und nun senkt er die Lider über den Glanz seiner Augenschächte. Einmal hebt er den Kopf und windet in die aufdämmernde Nacht.
Es ist nichts, Freund! sage ich. An meiner Seite liegt noch ein Kumpan. Ein altes Roß. Ein Weltenbummler. Ein Charakterkomiker. Er hat vielen Menschen das Zwerchfell erschüttert; er hat fremdes Wesen gespielt, fremde Bosheit und Verschlagenheit. Hundert Menschen hat er dargestellt; oder waren es tausend. Er war der Narr der Massen. Ein Rampenschwein. Dort liegt er, sein Mund steht offen, und er schnarcht in die sausende Sommernacht. Laß ihn schlafen.
Der Hund wird immer unruhiger; ein warnender Laut, ein vergrabener Hundelaut kommt aus seiner Kehle. Von mir ist alle Schlafsucht gewichen. Ich bin wach; man soll sie nicht verschlafen, diese beweglichen, klingenden Nächte. In den Nächten leben wir unser zweites Leben; wahrhaftig, es gibt Nächte, die man nicht verschlafen soll. Leise erhebe ich mich, um den träumenden Narren nicht aufzuwecken. Der Hund und ich, wir wandern zwischen den Stämmen dahin. Das Grau des Morgens flutet milchig in den Wald. Die Sterne sind versunken; es raucht in Strauch und 19 Buschwerk; der Odem des Tages kommt auf; schon höre ich den Ruf der Vögel.
Der Hund geht an meiner Seite, aufmerksam lauschend und mit unablässig beschäftigter Nase. Nun bleibt er stehen, starr und steif; der Schwanzstummel steht nach oben. Oh, wie wach sind seine Sinne.
Nach einer Weile kommt es die Landstraße daher. Ein Wagen fahrender Leute, ein Zigeunerwagen vielleicht oder ein Schirmflickerwagen. Das Gefährt bewegt sich schleierhaft im Grau des Morgens, von einem dürren Gaul mühsam gezogen. Der Hund steht nahe bei mir und gibt keinen Laut; mit scharfen Augen voll ungeheurer Spannung verfolgt er das Gefährt, das wie auf einem müden Filmband vorüberzieht.
Wir zwei aber sind verborgene Zuschauer, dem Wald und den Farnkräutern verbunden. Die Hand habe ich auf den Kopf des Tieres gelegt, und so stehen wir und schauen dem wandernden Wagen nach, bis er zwischen den Stämmen verschwindet.
Ich sehe mich selbst und den Hund in fremder Szene stehend. Weitab bin ich von dem, was gewesen ist. Auf der andern Seite des Lebens stehe ich. Unsichtbarer Odem hat mich verwandelt. Ich bin ein Verzauberter. Ich knie nieder und schlinge beide Arme um das Tier. Und fühle das fremde, unruhige Hundeherz schlagen.
Dann gehen wir zurück und legen uns beim Kameraden Hurrle nieder. Seite an Seite, eine wunderliche Dreieinigkeit, schlafen wir in den aufbrechenden Tag hinein. 20