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Wer vor zwanzig Jahren das Gymnasium zu Dingsda besuchte, kannte unbedingt jenen baumlangen Primaner, welcher den der nordischen Geschichte entlehnten Spitznamen »Harald der Lange« führte. Ueber sechs Fuß lang, überragte unser Harald nicht allein seine sämtlichen Lehrer, sondern auch alle Bewohner von Dingsda: es war »der größte Mann« der Stadt – freilich nur an Körpermaß, nicht an Kenntnissen und geistiger Bedeutung. Im Gegenteil, da haperte es etwas im Griechischen, in der Mathematik und im deutschen Aufsatz, aber Harald kam doch mit und hatte bei seinem Fleiße auch Aussicht, durchs Abitur zu gelangen. Selbstverständlich liefen auf Kosten des langen Primaners allerlei Witze und Spötteleien unter seinen Mitschülern um: man erzählte sich, wenn Harald der Lange nasse Füße bekomme, so kriege er erst nach acht Tagen den Schnupfen – so lange Zeit brauche die Erkältung, um von dem Piedestal bis in die Nase zu steigen; man raunte sich zu, daß Harald der Lange sich ein Gittergeländer unter den Armen her rund um den Oberkörper machen lassen wolle, weil er entdeckt habe, daß er jedesmal einen Schwindel in seinem erhabenen Haupte verspüre, sobald er sich auf die Stiefelspitzen sehe; man teilte sich mit, daß Harald der Lange, als er neulich bei Regenwetter durch die Petersiliengasse gegangen sei, oben aus der Dachrinne eines einstöckigen Hauses getrunken habe; man wollte wissen, daß der Fürst von Springbock-Hohenlaufen, welcher in der Nähe von Dingsda ein herrliches Schloß bewohnte, Harald dem Langen eine Bibliothekarstelle angeboten habe, weil der Lange bequem bis in die höchsten Bücherbretter langen könne, alle Leitern überflüssig mache und dadurch dem Haushalt des Fürsten jährlich eine nicht unbedeutende Summe erspare. Selbstverständlich kamen diese und andre Witzchen dem langen Primaner zu Ohren, er war indes so gescheit, sich nicht darüber zu grämen, vielmehr darob zu lächeln oder zu lachen, je nachdem die Geschichte mehr oder minder gut erfunden war.
Denn »erfunden« waren diese Geschichten – bis endlich Harald der Lange wirklich eine erleben sollte, eine, die an komischer Kraft und Wirkung alle noch so gut erfundenen übertraf. Ich will sie im folgenden erzählen.
Durch den Tod seiner bisherigen Kostwirtin war Harald der Lange gezwungen, sich in Dingsda eine neue Bude zu suchen. An einem schulfreien Nachmittag ging er mit einem Freunde »auf den Ritt«, wie er das nannte – »auf den Löwenritt von Freiligrath«, wie einer seiner Freunde verbesserte, weil in dem Gedichte »was von einer Giraffe vorkäme« (Anspielung auf die Körperlänge Haralds). Die zu vermietenden Zimmer waren in Dingsda ebensogut wie in der deutschen Reichshauptstadt durch an die Fenster gestellte Täfelchen mit der Aufschrift: »Zimmer zu vermieten« kenntlich gemacht; Harald brauchte also nicht lange seine Aeuglein »rund um gehn« zu lassen, wie's in dem Volksliede heißt. Aber die erste Bude, welche man besichtigte, war so niedrig, daß Harald der Lange sein erhabenes Haupt an die Decke stieß, zumal diese noch den antiken Stil vorstehender Trägerbalken zeigte; in einer andern Bude, welche man in einem andern Hause in Augenschein nahm, sah man zufällig auf dem Tische Tassen so klein wie Vogelnäpfchen stehen, was dem langleibigen Primaner nicht unbegründete Besorgnisse bezüglich der zukünftigen Verpflegung einflößte; in einer dritten Bude war das Bett so schmal und kurz, daß es für Harald den Langen unbedingt ein Prokrustesbett geworden wäre, falls er sich hineingezwängt hätte. Die vierte Bude endlich war überraschend hoch und geräumig, dazu aufs gefälligste ausgestattet – aber sie zeigte kein Bett, wo doch Harald der Lange, sich seinen Finanzen anpassend, nur eine einzige Bude mit Bett haben wollte. Deshalb sagte er zu seiner Führerin, der dicken, freundlichen Witwe Potthof: »Das Zimmer, Frau Potthof, könnte mir schon gefallen – man hat auch eine ganz famose Aussicht hier aus dem zweiten Stock über den Hausgarten hin – aber ich sehe kein Bett.«
Ueberlegen lächelnd trippelte die korpulente Witwe Potthof nach einem langen, schmalen Schranke hin, welcher an einer der Wände stand. Harald der Lange hatte diesen Schrank – seiner eleganten Erscheinung wegen – für einen Schreibsekretär angesehen, oder mindestens für einen Kleiderschrank neuester Mode. Um so größer war daher sein Erstaunen, als die Witwe, auf einen Messingknopf des vermeintlichen Schrankes drückend, in weniger als drei Sekunden ein ganzes Bett aus dem Möbel hervorzauberte. Dies vollzog sich folgendermaßen: Auf den Druck des Knopfes senkte sich die vermeintliche Türfüllung in der Weise einer Zugbrücke, das Viertel eines Kreises beschreibend, aus dem umhüllenden Kasten auf die Erde hinab; während dieser Bewegung wurden am oberen Ende der vermeintlichen Türfüllung von selbst zwei bewegliche Beinchen sichtbar, die, sobald sie den Viertelkreis durch die Luft beschrieben und den Fußboden des Zimmers erreicht hatten, sofort festen Fuß faßten und sich als zwei Beine des Bettgestelles präsentierten; weiterer Beine bedurfte das Bettgestell nicht, denn das Kopfende ruhte, anderthalb Fuß vom Boden entfernt, in dem unteren Teile des »Schrankes« selbst. Die vermeintliche Türfüllung entpuppte sich als ein Bett, dessen Matratze und Kopfkissen mit kleinen blanken Messingnägeln auf ihrer bretternen Unterlage befestigt waren; Bettuch und Steppdecke (eine schöne grünseidene!) lagen lose obenauf und konnten schnell zurechtgerückt werden.
Nachdem sich Frau Potthof einen Augenblick an der Ueberraschung der beiden Herren Primaner geweidet hatte, drückte sie auf einen zweiten Knopf, worauf im Hui das ganze Bett, am Fußende sich aufrichtend, am Kopfende in starken Scharnieren fest bleibend, einen Viertelkreis rückwärts beschrieb und in dem »Schrank« verschwand. Der ganze Apparat läßt sich überhaupt nicht besser – so erklärte Harald der Lange seinen Mitschülern später – als unter dem Bilde einer Zugbrücke begreifen: aus einer torähnlichen Einfassung senkt sich das Brückenbrett nieder – und hebt sich wieder, während dort, wo die Scharniere oder Angeln sind, alles in scheinbarer Ruhe bleibt.
»Das ist ja ein ganz famoses Möbel!« rief Harald der Lange begeistert aus.
»Patentbett!« sagte die Wirtin mit ungeheuer überlegener Miene. »Ich habe den kostspieligen Einkauf nicht gescheut,« fügte sie nach einer Pause hinzu, »um meinem Mieter mehr Raum auf diesem Zimmer zu schaffen und dem Zimmer selbst ein eleganteres Aussehen zu geben. Jedermann wird das Patentbett für einen Schreibsekretär im Reineclaudenstil, ach! ich meine im Reglementsstil, nein, im Renaissancestil ansehen. – Sie müssen entschuldigen, mir fehlen einige Zähne und da kann ich die fremden Wörter nicht immer so glatt aussprechen!«
»Ja, der Schrank sieht ganz wie ein Sekretär im Rokokostil aus,« erwiderte Harald der Lange gutmütig, ohne zu bedenken, daß er Frau Potthof jetzt erst recht bezüglich des Fremdwortes in Verwirrung brachte. Die Sache hatte allerdings für Harald den Langen das Gute, daß ihm Frau Potthof, für den Augenblick alles Selbstvertrauens beraubt, auf seine Frage nach dem monatlichen Miets- beziehungsweise Pensionspreis eine etwas geringere Summe nannte, als sie unter andern Bedingungen getan haben würde. Harald der Lange schlug zu – und die Sache war abgemacht.
Gleich am Abend zog der neue Mieter ein. Selbstverständlich benutzten Haralds Freunde die Gelegenheit, aus dem Umzug einen kleinen Ulk zu machen: Pipin der Kleine trug feierlich die Lampe die Straße hinauf; der fromme Aeneas (Pius Aeneas) nahm die dicksten Lexika unter beide Arme, so daß letztere die Form von Topfhenkeln erhielten; Naso hing über jeden seiner Arme ein paar langschlotternde Kleidungsstücke und stülpte über sein eigenes Filzhütchen zwei Strohhüte und einen Filzhut des Freundes, so daß sein Haupt nunmehr vier Etagen zeigte; Ajax hing an seinen Arm einen großen braunen Marktkorb mit Schulbüchern, den er häufig von rechts nach links, von links nach rechts wechselte, »weil nämlich die Weisheit des Griechischen so schwer sei«; Walter von der Vogelweide drapierte seine Kehrseite mit zwei Ueberziehern, die er malerisch wie einen spanischen Mantel zu tragen sich bestrebte, und Harald der Lange selber trug mit beiden Händen einen Kasten mit Schmetterlingen so würdevoll und feierlich, als wäre ihm die Bundeslade anvertraut. So setzte sich der Zug, zum Gänsemarsch geordnet, in Bewegung. In der Kleinstadt Dingsda durfte man schon so etwas wagen, zumal da die Mitglieder des Zuges sich höchst ernst, gelassen und schweigend verhielten. Um so mehr aber kicherten und lachten die ehrsamen Bürger und Bürgerinnen, denen man begegnete.
Witwe Potthof hatte die innere, etwas düstere Treppe des Hauses mit drei Talgkerzen, welche sie in den Hals von drei leeren Bierflaschen gesteckt hatte, illuminiert, eine grüne Kuppellampe brannte in dem oberen Zimmer selbst. So ging der Umzug und Einzug ohne Unfall von statten. Bald war alles aufs beste auf der neuen Bude geordnet. Die Bude selbst fand man famos, kolossal gemütlich u. s. w., und als nun gar Harald der Lange den Mechanismus des Patentbettes spielen ließ, da erklärte man den Freund für den Glücklichsten aller »brotessenden Menschen« (wie Vater Homeros sagt).
Harald der Lange gewöhnte sich schnell an seine Bude, sie gefiel ihm kolossal, zumal der Tisch sich um zwölf Uhr mittags in ein vorzügliches »Tischleindeckdich!« verwandelte – mit andern Worten: Frau Potthofs Kochkunst ließ nichts zu wünschen übrig, alles gut und – reichlich, wie's ein so langleibiger Harald haben mußte. Aber unter Rosen lauerte der Dorn, unter Blumen lag versteckt die Natter, am heitern Himmel dräute eine Gewitterwolke – und Dorn, Natter, Gewitterwolke, alles in einem, war das unglückselige Patentbett. Ja, das unglückselige!
In einer schwülen Julinacht, als Harald der Lange das Fenster seiner Bude ein wenig offen gelassen hatte, um der frischen Luft Einlaß zu gewähren – lag doch die Bude im zweiten Stock und nach dem Garten hinaus, was Sicherheit vor Spitzbuben zu bieten schien, fuhr der Schläfer plötzlich aus süßem Traume (er hatte in demselben glücklich das Abiturientenexamen bestanden) empor: er meinte ein Geräusch gehört zu haben, wie wenn eine Leiter von draußen an die Fensterbank gelehnt würde. Indem seine Augen das Fenster suchten, sah er im Dämmerlicht der Mondsichel zu seinem Schrecken, daß wirklich die beiden oberen Pfosten einer Leiter zu den unteren Scheiben hereinguckten.
Harald der Lange hatte kürzlich eine Geschichte gelesen, worin ein im Waldmoose ruhender Wanderer sich dadurch vor dem Angriff eines brummigen Bären rettete, daß er sich ganz still verhielt – daß er sich tot stellte; diese Geschichte schoß unserm Langen in diesem kritischen Augenblick durch den Kopf – sehr zur Unzeit, meinen wir, denn ein Spitzbube und Einbrecher ist kein Bär; ein Stillesein und Sichtotstellen kann dem Spitzbuben und Einbrecher nur höchst willkommen und förderlich für seine schwarzen Pläne sein. Herausspringen aus dem Bett hätte Harald der Lange müssen, ans Fenster stürzen hätte der Träger eines nordischen Heldennamens müssen, umstürzen hätte der lange Primaner die Leiter mitsamt dem Spitzbuben sollen! Aber – er verhielt sich regungslos und starrte unter lebhaften Schlägen seines Herzens nach dem Fenster. Wer beschreibt sein Entsetzen, als plötzlich hinter den Scheiben ein menschlicher Kopf, gekrönt von einer hohen Ballonmütze, auftauchte! Ballonmützen sind die Tracht höchst zweifelhafter Subjekte – auch dieser Gedanke schoß unserm Primaner durch den Kopf, und seltsam! Harald erinnerte sich in diesem Augenblick zugleich, daß jener Gedanke in der vorletzten Nummer des Dingsdaer Wochenblattes in einer Berliner Korrespondenz geäußert worden sei – die letzte Zeile, unten, in der dritten Spalte, rechts.
Die Ballonmütze auf der Leiter spähte einige Augenblicke in das Zimmer hinein – Harald glaubte zwei schrecklich abstehende Ohren unterhalb der Ballonmütze zu sehen. Als besagte Ohren nicht das geringste Geräusch in dem Zimmer vernahmen, schwang sich plötzlich der ganze Kerl, einen fürchterlichen Knüttel in der Rechten hochhaltend, in die Stube.
Bei diesem Anblick flog Harald, nunmehr wie elektrisiert, in die Höhe, beugte sich mit dem Oberkörper weit vor, nach dem Fußende des Bettes hin, und schrie mit aller Kraft seiner Lungen: »Wer da?« (Als ob er nicht gewußt hätte, daß ein Spitzbube und Einbrecher da im Zimmer stehe!) Indem nun Harald der Lange bei seinem Werdarufe mit beiden Händen die Seitenwände des Bettgestelles gepackt hatte, drückte er unbewußt auf den verhängnisvollen Knopf: das Bett richtete sich, seiner alten Gewohnheit treu, am Fußende in die Höhe, die Beinchen knickten ein und das ganze Bettzeug mitsamt unserm Harald war, einen Viertelkreis beschreibend, im Begriff, in dem Schranke zu verschwinden, als Harald, verwirrt, erschrocken, seiner Sinne nicht mächtig, sich noch weiter mit dem Kopfe nach dem Fußende des Bettes hin arbeitete. Aber da war auch schon das Bett eingeschnappt – und der unglückselige Primaner fühlte, nicht ohne einen jähen körperlichen Schmerz, daß sein Haupt draußen geblieben war, das heißt, es war zwischen der oberen »Türkante« und der oberen »Schrankpartie« eingeklemmt! Wie seine Beine zurechtkamen, darauf hat sich Harald der Lange nie besinnen können; genug, sie hingen mitsamt dem Unterkörper und Oberkörper in schönster Ordnung im Innern des Schrankes. Der Mechanismus packte fest, unerschütterlich fest – wofür wäre sonst auch das Bett ein Patentbett gewesen? Kein Stemmen und Sträuben, kein Drücken und Rücken des Gefangenen wollte helfen – er blieb ein Gefangener, ein dem hochnotpeinlichen Halsgericht Verfallener.
Als der Einbrecher sein Opfer in solch wehrloser Lage sah, stieß er ein kurzes höhnisches Gelächter aus und hielt dem Gefangenen seinen armsdicken Knüttel unter die Nase – eine Zeichensprache, welche unstreitig sagen wollte: »Mensch, rühr dich, und ich zerschmettere dir den Schädel!« Dann brachte er – woher? das war ein Rätsel – plötzlich einen Sack zum Vorschein und steckte mit der größten Gemütsruhe von der Welt die auf einem Stuhle ausgebreiteten Kleidungsstücke Haralds hinein, dito die Stiefel, dito die silberne Taschenuhr, welche an der Wand tickte, dito die an derselben befestigte Nickelkette, dito verschiedene Bücher (die ein Recht hatten, auf dem Tisch zu liegen), dito diverse kleinere Gegenstände. Als sich der Einbrecher durch eine Okularinspektion überzeugt hatte, daß nichts mehr zu stehlen war, drehte er mit kühner Handbewegung den Sack zu (wobei der unglückliche Zuschauer in dem Patentbett unwillkürlich an das Manöver des Halsumdrehens denken mußte), lüftete höhnisch seine Ballonmütze zum Gruße, verbeugte sich und nahm auf demselben Wege, den er gekommen, seinen Rückzug. Die Leiter blieb am Fenster stehen, wobei sich Harald der Lange plötzlich erinnerte, daß sie der Witwe Potthof gehöre und unvorsichtigerweise längs der Hinterwand des Gartenhauses ihren Platz gehabt hatte.
Als Harald seine Bude leer sah – wir meinen leer von der Person des Einbrechers –, atmete er leichter auf, das heißt er versuchte leichter aufzuatmen, konnte es aber kaum, da sein armer Hals ganz fatal in der Klemme steckte. Dann wandte Harald noch einmal all seine Körper- und Geisteskräfte an, um Befreiung zu finden aus seiner unerhörten Lage. Aber vergebens. So mußte der Gefangene denn die ganze Nacht ausharren und seine Hoffnung auf den nächsten Morgen verschieben. Wie lang die Nacht dem Armen wurde, kann man sich denken.
Endlich gegen sieben Uhr morgens kam der kleine Hausknecht der Frau Potthof die Treppe hinauf und in die Stube hineingestampft. Ihm lag die Pflicht ob, dem Herrn Primaner den Kaffee zu bringen. Als er den Herrn Primaner nicht auf seiner Bude fand, blickte er höchst verwundert um sich, bis ein Gurgeln und Röcheln aus der Höhe seine kleinen grünen Aeuglein nach aufwärts lenkte. Als er hier, zwischen Schrank und Tür, das gerötete, verzerrte Antlitz Haralds sah, glaubte er, daß es sich um einen famosen Spaß handle, und da derselbe seinen Beifall fand, so stemmte er seine beiden Fäuste auf seine Kniee und lachte in Lauten, die an das Wiehern eines jungen Pferdes erinnerten. Harald der Lange, der sich verständlich machen wollte, aber nicht konnte, schnitt ganz verzweifelte Gesichter, was der kleine Hausknecht für einen neuen Spaß hielt. Daher verdoppeltes Wiehern. Harald der Lange, innerlich wütend, trommelte mit beiden Fäusten an die Seitenwände des Schrankes. »Sind Sie aber heute morgen komisch!« wieherte der Hausknecht und – rannte die Treppe hinunter.
»O, Madam,« rief er in der Küche der Frau Potthof zu, »man muß sich da oben krank lachen, unser Herr Primaner spielt Kasperletheater in seinem zugeklappten Bette!«
Frau Potthof fragte: »Wieso?« und ließ sich die näheren Umstände erklären. »Um des Himmels willen,« rief sie darauf, »was du für Spaß ansiehst, Johann, scheint mir bitterer Ernst zu sein. Der junge Herr ist in seinem Patentbett eingesperrt – gehe nur sofort wieder hinauf und drücke auf den Knopf.«
Der kleine dumme Johann stürzte also wieder hinauf und drückte auf den Knopf. Das Patentbett senkte sich gehorsam – der Gefangene war befreit. Aber es bedurfte einiger Zeit, bevor er zu Atem gelangen konnte. Auf dem Bette liegend, winkte Harald der Lange nach dem Kaffee. Johann, nunmehr zitternd an allen Gliedern vor Bestürzung, schenkte eine Tasse ein und kredenzte sie seinem Herrn Primaner. Nachdem dieser getrunken, in kleinen, langsamen Zügen, konnte er endlich die Abenteuer der Nacht erzählen. Nun faltete der kleine Johann seine dicken, roten Hände, wie er in Augenblicken der höchsten Erregung zu tun pflegte. Er mußte dem seiner Habe Beraubten die Sonntagskleider aus dem Kleiderschranke holen, der glücklicherweise in einem Winkel der Vorflur stand, er mußte dem von den Aufregungen und Leiden der Nacht fast völlig Erschöpften bei der Toilette behilflich sein. Dann gingen sie hinunter, um Frau Potthof und dem ganzen Hausgesinde die grause Geschichte zu erzählen.
Frau Potthof schlug die weißen Hände, wie sie in den Momenten der höchsten Erregung zu tun pflegte, über ihrer gelbbebänderten Haube zusammen und versicherte sehr energisch, sie würde den Frevel sofort der Polizei melden; der freche, abscheuliche, ruchlose Einbrecher müsse gepackt und zu Rad und Galgen verurteilt werden. Dann hefteten sich ihre Gedanken an die Leiter, die unglückselige Leiter, die an allem schuld wäre – und gern hätte Frau Potthof den kleinen Johann in den Grund geschmettert, wenn dieser nur im geringsten an der Wahl des Aufbewahrungsplatzes hinter dem Gartenhause schuld gewesen wäre; aber in tiefster Zerknirschung mußte sie bekennen, daß sie selbst und kein andrer den Platz bestimmt habe; sie sei nun einmal ein unglückliches Wesen, das trotz seiner besten Absichten überall Unheil stifte und so weiter.
Harald der Lange wankte in seinen Sonntagskleidern zur Schule und gab hier selbstverständlich seinen Mitschülern sofort sein nächtliches Abenteuer zum besten. Er wurde der Held des Tages – der Held der Woche, nachdem das übrige Dingsda den »frechen Einbruch, die unerhörte Dreistigkeit eines höchst gefährlichen Subjektes« durch das Dingsdaer Wochenblatt erfahren hatte. Wir wollen hier gleich bemerken, daß das Vertrauen, welches das Dingsdaer Wochenblatt in »unsre rührige Polizei« setzte, »die unzweifelhaft den Verbrecher der rächenden Hand der Nemesis überliefern werde,« nicht gerechtfertigt wurde, denn Roß und Reiter sah man niemals wieder; mit andern Worten: keine Spur des Verbrechers und des gestohlenen Gutes wurde entdeckt.
Als das erste Mitleid, welches der arme Harald bei seinen Mitschülern fand, verraucht war, wurde der Lange die Zielscheibe vieler neuen Witze und Spötteleien, gemäß dem Sprichwort: »Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.« Harald der Lange und sein Patentbett gaben auch den Stoff zu zahreichen Karikaturen, die von der Hand begabter Zeichner in Umlauf gesetzt wurden. Aber Harald, früher so lachlustig, wollte nie recht darüber lachen, er gefiel sich vielmehr darin, mit ernstem Pathos aus Shakespeares Richard III. zu deklamieren:
»Ich brächte nicht noch eine Nacht so zu,
Gält' es auch eine Welt beglückter Tage!
So voll grauser Schrecken war die Zeit.«