Th. Berthold
Lustige Gymnasialgeschichten
Th. Berthold

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf Schneeschuhen

Von echt nordischer Großartigkeit ist der Winter in dem südlichen Teile Westfalens, dem gebirgigen Sauerlande. Wie von weißem Marmor aufgetürmt, ziehen sich mit wellenförmigen Umrissen die tief verschneiten Waldgebirge unter dem perlgrauen Himmelszelte bis in alle Fernen dahin, und darüber waltet Stille. In den tiefen Schluchten längs der unteren Ränder der Hochwälder verläuft grauer Dämmer und schwarzgrauer Schatten, so daß das ganze Bild die Farblosigkeit einer toten Welt zur Schau trägt: man sieht nur Licht und Dunkel, nur Weiß und Schwarz in ihren Abstufungen. Hie und da greift die Krone einer uralten Eiche wie ein schwarzes Gerippe hervor.

Diese ausgedehnten Waldgebirge besitzen noch ihre ungestörte, wir möchten sagen weltferne Einsamkeit. In ihren schmalen Tälern erblickt man auf große Strecken weder Dörfer noch einzelne Gehöfte; in den Hochwaldungen selbst haust nur hie und da ein Köhler in seiner kegelförmigen, aus Klafterholz und Rasen erbauten Hütte, welche durch ihre Form an den Wigwam der Indianer erinnert. Unfern der Hütte verkohlt dann der Meiler, dessen Schwaden weithin durch den Wald dünstet. Aus der Ferne schallt zuweilen der Schlag der Aexte herüber, oder man hört das Kreischen und Knarren eines mit schwer wandelnden rotbraunen Ochsen bespannten Holzwagens, der auf abschüssigem, steinigem Wege hin und her geschleudert wird. Vielleicht treffen wir auch einmal einen Jäger, der einem Rehe nachstellt; doch solche Begegnungen machen durch ihre Seltenheit die ruhevolle und großartige Waldeinsamkeit nur noch fühlbarer.

Stundenweit muß oft der Wanderer gehen, wenn er ein Dörfchen, ein Städtchen erreichen will, das, wie Askra am Fuße des Helikon, am Fuße eines verschneiten Waldgebirges liegt. Traumhaft ruhen diese menschlichen Ansiedelungen, selbst dick verschneit, im tiefen Winterschnee. Man sollte meinen, alles Leben sei in den Häusern mit den vereisten Fenstern erstorben und nimmer könnten diese Eiszapfen, diese erstarrten Brunnen, sich wieder in klingenden Tropfenfall verwandeln. Und doch pulsiert das Leben in den schiefergepanzerten Häuschen so lebhaft denn je; es hat sich nur von der Außenwelt zurückgezogen – in die Küche, wo auf dem gemauerten Herde die Buchenscheite ihre gelbroten Flammenwirbel zum rußschwarzen Rauchfang emporsenden, – in die Stube, wo hinter den schwarzen Eisenplatten des Ofens das Feuer bullert und flackernde Reflexe über die Dielen wirft. In den Wirtsstuben sitzen am Abend die Handwerker beisammen, rauchen, plaudern oder spielen Karten; im Kasino klappern die Billardbälle und übertönt ein schallendes Gelächter die neueste Jagdgeschichte des alten Försters; im oberen Saale der Bürgergesellschaft klingen die Walzerweisen und schleifen die Füße; aus dem Gesellenhause erschallt der vierstimmige Gesang des Sängerbundes, und auf seiner stillen Bude sitzt der Gymnasiast, übersetzt Livius und Horaz, Thukydides und Homer oder schreibt den letzten deutschen Aufsatz ins Reine, wenn er nicht mit seinem Pensum schon fertig ist und ein »Erzählungsbuch« liest.

Die Bude des Gymnasiasten – sie zieht uns vor allem an. So klein, so traulich, so behaglich durchwärmt, liegt sie in einer verlorenen Ecke des Hauses. Die Farbe der Tapete ist kaum noch zu erkennen, so verräuchert ist sie vom Ofendunst; dazu vom Alter verblichen und, wie ein Kupferstich in Punktiermanier, von den Fliegen punktiert. Ein altes buntgeblümtes Sofa mit leise tönenden Sprungfedern ladet zum Sitzen ein. Aus dem Büchergestelle an der Wand blicken die Geisteswerke der griechischen, lateinischen und deutschen Klassiker hernieder. Hier hängt eine Landkarte, dort ein Bild. Auf dem wärmenden Ofen schmort ein Apfel und durchwürzt die Stube mit süßem Dufte.

Eine ganz bestimmte Stube ist's, in die ich den Leser führe. An dem runden Tische, der die brennende Petroleumlampe mit dem weißen Milchglase trägt, sitzt der Primaner Markus Franke, ein strammer blühender Geselle, stützt den blonden Krauskopf in die rechte Hand und hält mit der Linken ein Buch, dessen Zeilen von den leuchtenden Blauaugen gierig verschlungen werden. Seite auf Seite wird knisternd umgeschlagen, bisweilen ruhen die Blicke länger auf einem schwarzen Holzschnitt.

So dauert das wohl eine gute Stunde, während nur das Ticken der alten Wanduhr und das Knistern im Ofen die Stille unterbricht. Endlich ist die letzte Seite gelesen. Markus Franke lehnt sich hintenüber, an die Stuhllehne; er ballt die Fäuste und streckt die Arme aus, weit – als wollt' er mit Schiller deklamieren: »Seid umschlungen, Millionen!« – gähnt aber nur und reckt sich. Dann springt er energisch auf die Füße und spaziert, eine große elastische Gestalt, in der kleinen Bude auf und ab, wie ein Menagerielöwe in seinem Käfig. Plötzlich entringen sich seinem Munde die Worte: »Famoser Kerl, dieser Frithjof Nansen! Auf Schneeschuhen das vergletscherte Grönland zu durchqueren! Grandiose Idee und unglaublich kühne Tat, die mit Recht allgemeine Bewunderung erregte. Riesig willensstarker und tatkräftiger Mann, dieser Norweger! So einer von der Nummer, wie Horaz sie zeichnet:

Si fractus illabatur orbis,
Impavidum ferient ruinae.

Selten hat mich ein Buch so gepackt, wie die Schilderung dieser originellen Reise auf Schneeschuhen. Schneeschuhe, famoser Sport. Beim Herkules! ich möchte diesen norwegischen Schneeschuh, den Ski oder Schi, wie man das spricht, auch einmal unter den Füßen haben, um die Kunst des Laufens zu erlernen. Unser Sauerland, wo im Winter längere Zeit hindurch eine feste Schneedecke liegt, ist ein ausgezeichnetes Terrain zum Schneeschuhlaufen, stellenweise ein zweites Grönland. Der Aufstieg auf Höhen ist zwar mit Schneeschuhen, wie ich bei Nansen lese, sehr mühsam, aber das pfeilschnelle Hinabgleiten über schneebedeckte Abhänge um so genußreicher. Auf ebenen Flächen bewegt man sich zwar nicht sehr schnell und auch nicht mühelos dahin, aber immerhin bedeutend rascher und bequemer, als wenn man gezwungen wäre, durch den tiefen Schnee zu waten, wie ein Storch durch den Salat. Ja, ich tu's, ich werde den Sport versuchen! Ein Paar Ski kann ich mir selber nach den bei Nansen gegebenen Andeutungen verfertigen; den dazu gehörigen Stab, der zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beim Laufe dient, soll mir Drechsler Hornemann in der Kamillengasse machen. Dann stehl' ich mich an freien Nachmittagen hinaus in unsre sauerländische Winterlandschaft, in unser schneevermummtes Gebirge und übe mich, die Hose in die Stiefel gesteckt, den alten roten Shawl um den Hals gedreht und den grauen Filzhut über die Ohren gezogen. Bin ich erst mal Meister in meiner Kunst, dann mögen's meine Mitschüler wissen, speziell meine Freunde: Karl der Dicke, Schnok, Wischnu, Eisern-Heinrich, Plato und Ibis.«

Nachdem Markus Franke diesen Monolog gehalten, versinkt er in Schweigen. Aber während er sein Auf- und Niederwandeln auf den Dielen fortsetzt, verrät seine nachdenkliche Miene, daß er seinen Plan in seinem erhabenen Gemüte noch weiter wälzt, wie der gute Homer sagt. Zuweilen nickt das blondhaarige Haupt, als stimme es selbst den Entschlüssen zu, die es hinter der klaren Stirne ausgesponnen. Erst als die Glocke der alten Petrikirche die zehnte Stunde mit einem dumpfen Brummen verkündigt, bläst Markus Franke die Lampe aus und spaziert durch eine Tapetentür in sein Schlafkämmerchen, das er des beschränkten Raumes wegen seine »Koje« zu nennen pflegt. Bald verkündigen die tiefen gleichmäßigen Atemzüge des Primaners, daß er in Morpheus Arme gesunken. Der Traumgott, ein alter freundlicher Mann, beschenkt den Schläfer mit einem Paar Ski, die zwölf Ellen lang sind und mit denen man von einem Berggipfel zum andern durch die Luft sausen kann, während unten tief im Tale die ganze Prima steht und verwundert die Hände zusammenschlägt. –

Was Markus Franke an jenem Winterabend ersonnen, das setzt er in den freien Stunden der nächsten Tage unverzüglich ins Werk. Er war von klein auf ein Meister in Handarbeiten, im Sägen, Schneiden und Hämmern, und hat einmal sogar zum Geburtstag seiner Mutter ein dreibeiniges Tischlein fertig gebracht, welches nur den einen Uebelstand aufwies, daß alle drei Beine ungleich waren, was dem Möbel von Markus' älteren Brüdern den Spottnamen »Dreifuß der Pythia« eintrug. Seitdem aber hat Markus entschieden Fortschritte gemacht, und nicht selten pflegt er sich selbst während der Arbeit durch den Wahlspruch zu ermuntern:

»Was du treibst, das treibe recht,
Was du machst, das mach nicht schlecht!«

Nicht schlecht sind denn auch die Ski, die endlich fertig hinter des Primaners Bettstelle versteckt liegen – geschwisterlich angeschmiegt an den langen Stab, den Meister Hornemann in der Kamillengasse fein säuberlich geliefert. Markus wartet nur den ersten schulfreien Nachmittag ab, um als zweiter Frithjof Nansen über Schneeflächen und Schneeberge dahinzusausen. »Quosque tandem?« seufzt Markus nach klassischem Muster diesem Nachmittag entgegen.

Endlich kommt er, ist er da, ohne Schneegestöber, still, feierlich und sonnig. Es ist, als ob das Sauerland sich zum Einzug seines großes Sohnes, eines zweiten Nansen, rüste. Wie er sich's gelobt, macht Markus sich allein, von seinen Mitschülern ungesehen, zum Tore hinaus, wobei er eine Hintertür seines Wohnhauses benutzt, durch die sonst gewöhnlich ein bestimmtes Haustier, Capra hircus, zu spazieren pflegt. Aber was ficht das große Geister an? Rüstig ausschreitend, vertieft sich Markus Franke in die tief verschneite Berglandschaft, die wie aus riesigen Blöcken von weißem carrarischem Marmor zusammengefügt erscheint, nur daß dieses Weiß und ewige Weiß, ohne daß man es anzufühlen braucht, etwas Weiches, Sanftes hat, wie das Gefieder auf der Brust des königlichen Schwanes. Bald verläßt Markus die offene Landstraße und schreitet auf einem Nebenwege einer Gegend zu, die ihm für seine Uebungen geeignet scheint: ein weites Schneefeld, das sich allmählich zu einem baumlosen Berge aufrafft.

Hier angelangt, legt Markus nicht ohne ein feierliches Gefühl seine Ski an, nimmt seinen Stock in die mit Fausthandschuhen bewehrten Hände und beginnt, an den großen Frithjof denkend, seine Uebungen.

Gut, daß der große Frithjof nicht zuguckt, denn Markus liegt nach einer halben Minute im Schnee, so zusammengekugelt, daß man nicht weiß, was Ski, Bein, Arm, Stock oder Kopf ist. »Des Rochens greuliche Ungestalt« (vergleiche den Taucher von Schiller!) ist der reine Waisenknabe gegen dieses Häufchen Unglück. Aber allmählich nimmt das Häufchen Unglück wieder menschliche Gestalt an, und mit dem Rufe: »Per aspera ad astra!« beginnt Markus seine Uebungen von neuem, jetzt mit mehr Vorsicht. Und siehe da! die Sache macht sich. Bald gleitet der Pseudo-Norweger über das Schneefeld dahin, bald vermag er auch, wenngleich unter Mühseligkeiten, eine Anhöhe zu ersteigen, um pfeilschnell auf der andern Seite den Abhang hinabzugleiten, wobei er eine kleine Lawine weckt, die hinter ihm drein rollend, nahe seinen Fersen in Schneewolken zerstiebt. Es ist wundervoll!

Da Erfolg Mut erzeugt, so kommt unserm angehenden Schneeläufer in seinem erhabenen Gemüte der kühne Gedanke, wie grandios es sein müsse, von dem nahen Berge, einem wirklichen Berge, hinunterzusausen. »Dem Tapfern hilft das Glück!« ruft Markus entschlossenen Tones in die feierliche Winterstille hinaus, die bis dahin nur vom Räuberschrei eines Sperbers unterbrochen war. Sed frustra, sagt Cornelius Nepos; alle Bemühungen, die Markus macht, auf Schneeschuhen den steilen Berg hinaufzukommen, sind vergeblich. Hat er sich stöhnend wie eine Dampfmaschine ein Stückchen hinaufgearbeitet, so gleitet er plötzlich wieder hinab, wobei er sich seine Nase auf dem kalten Schnee so feurigrot scheuert, daß es aussieht, als trage er eine Pfingstrose im Gesicht. Endlich spricht Markus trotzig: »Kommt der Berg nicht zum Propheten, so kommt der Prophet zum Berge!« Damit entledigt er sich seiner Schneeschuhe, nimmt dieselben in die linke Hand und klettert nun auf Schusters Rappen den Berg hinan. Das gelingt. Oben setzt sich Markus in den Schnee, um ein wenig zu verschnaufen. Wie ein Schneekönig sitzt er da auf seinem Throne, den Stab als Zepter tragend. Der Wind spielt mit den Zipfeln des roten Shawls, als sei das Haupt von einer Aureole umgeben. Großartig ist die Aussicht auf die in Schnee vermummten Gebirge; zu jeder andern Zeit würde Markus einen Dithyrambus gedichtet haben – heute beschäftigen ihn einzig seine Ski, und aus einer grauen Himmelswolke scheint ihm der große Frithjof Nansen mit seinem Pelzbarett zu gucken und zu rufen: »Voran, Markus, en avant!« Markus schnallt deshalb seine Ski wieder an, faßt seinen Stock und mißt mit den Augen den Abhang, den er hinuntersausen will.

Ungesehen von ihm gehen in diesem Augenblick einige dunkle Gestalten am Fuße des Berges vorüber. Es sind die Primaner Karl der Dicke, Eisern-Heinrich, Schnok, Wischnu, Plato, und Ibis. Also alle die Freunde unsres Freundes. Sie gehen spazieren und unterhalten sich lebhaft.

»Wo mag doch heute unser Markus, genannt Marc Aurel, stecken?« fragt Karl der Dicke. »Ich war auf seiner Bude, aber das Nest war leer.«

»Vielleicht verspürte er heute ein dichterisches Bauchgrimmen,« lacht Schnok, »das er einsam in die Berge führen mußte.«

»Laß gut sein,« meint Wischnu; »Marc Aurel tummelt den Pegasus nicht übel.«

»Nur bisweilen lahmt der Dichtergaul ein wenig,« behauptet Eisern-Heinrich, »und in dem Gedichte über Alexander den Großen bockt er ganz entschieden.«

»Egal,« ruft Plato, »Marc Aurel ist ein gemütliches Haus!«

»Ja, das ist er entschieden!« rufen mehrere Stimmen mit Nachdruck.

»Er fehlt uns heute,« bekräftigt Ibis. »Er ist doch sonst immer bei uns, und ich klebe nun mal an alten Sitten wie ein Heftpflaster. Ich gäbe –«

Ibis kann nicht aussprechen, was er eigentlich geben will, denn in diesem Moment fährt er seitwärts – fahren die andern Spaziergänger zu Tode erschrocken auseinander. Ein dunkler Gegenstand, in eine Lawine von Schnee gehüllt, saust wie ein Sturmwind den Berg hinunter, fliegt wie ein Blitz über den Weg, durch die auseinander gestobenen Spaziergänger hin, und macht dann endlich im ebenen Felde Halt.

Ibis ist der erste, der, sich von seinem Schrecken erholend, in die Worte ausbricht: »Was kommt da von der Höh'?«

Dann ruft Plato: »Potz Blitz, das ist ja die Gustel von Blasewitz!«

»'ne nette Gustel von Blasewitz!« ruft Eisern-Heinrich, »Wenn ich nicht schneeblind bin, so ist das ja unser Marc Aurel, lui-même oder Louis selbst!«

»Lupus in fabula!« sagt Wischnu. »Gerade sprachen wir von Marc, da kommt er wie eine Bombe in unsern Haufen geflogen.«

»Nun sag aber, Marc,« ruft Karl der Dicke, »was für ein Wind pfiff dich in unsre Mitte? Und was sind das für Schlittenkufen, die du an deinem Piedestal trägst? Und was ist das für ein Spazierstock, dessen Längenmaß auf die Körperverhältnisse von Sankt Christoph berechnet zu sein scheint?«

Von seinen Mitschülern und Freunden umzingelt, gibt Markus Franke lachend seine Erklärungen ab. Er erzählt von Grönland, von Frithjof Nansen, von dem interessanten Buche, von den Ski oder Schneeschuhen und dem Steuerstabe; er berichtet, wie er sie, seine Freunde, mit seiner Fertigkeit habe überraschen wollen, wie sie ihm aber zuvorgekommen seien.

»Me hercule, nein, du bist uns zuvorgekommen, Marc,« ruft Ibis, »indem du wie eine Lawine den Berg hinunter uns vor die Füße geflogen bist!«

Selbstverständlich regt sich bei Ibis und den anderen der Wunsch, ihren Freund, den sie unter Preisgabe des Spitznamens Marc Aurel sofort als »Nansen« begrüßen, in Tätigkeit auf den Schneeschuhen zu sehen.

»Nansen, allons, gib uns mal zu ebener Erde eine Probe deiner Fertigkeit!« ruft der eine und der andre.

Nansen ist gern bereit dazu und macht seine Sache so geschickt und glatt, daß sich sofort in dem ganzen Chorus der Wunsch regt, auch die Kunst des Schneeschuhlaufens zu erlernen.

»Wißt ihr was?« ruft Karl der Dicke, »wir gründen einen Schneeschuhverein. Der Name ergibt sich von selbst: Skiklub. Wer nicht weiß, was Ski sind, wird denken, Skiklub sei chinesisch. So 'n bißken Geheimnis macht sich ganz wundervoll. Das imponiert den Sekundanern. Wir lassen uns beim Meister Hornemann auch solche Ski machen. An freien Nachmittagen geht's dann hinaus in unsre Berge. Der Schnee ist hier zu Lande so konservativ, daß er auf die Fertigstellung unsrer Ski warten wird.«

Der Vorschlag, den Karl der Dicke macht, zündet. Mit dem Feuer der Begeisterung erfaßt er die jungen Burschen, die jetzt ihren Spaziergang fortsetzen, nachdem Nansen seine Schneeschuhe abgelegt hat. Hin und her wird die Sache erwogen; herrliche Aussichten eröffnet der Plan: man will, wenn man erst auf den Ski zu laufen versteht, eine förmliche Durchquerung Grönlands ins Werk setzen, das heißt im Abbilde – in den sauerländischen Bergen. »Dann trinken wir Nansens Wohl in Seehundstran!« ruft Karl der Dicke zum Schlusse aus. –

Was die Freunde an jenem Nachmittag geplant, wird zur Wirklichkeit. Meister Hornemann in der Kamillengasse stellte die Ski zur Zufriedenheit her, und an jedem freien Nachmittag traten die Freunde ins Freie, um sich in der neuen Kunst zu üben. Nicht lange, und sie haben eine solche Fertigkeit darin erlangt, daß sie die Durchquerung Grönlands zur Ausführung bringen können.

Sie wählen hierzu ein bestimmtes Terrain, das zwischen den verschneiten Waldgebirgen von Westen nach Osten verläuft, bald in ebener Richtung, bald über Abhänge und Hügel, auch ein etwas größerer Berg ist zu nehmen. Am Ende der Fahrt winkt ein von Holzfällern bewohntes kleines Dorf, wo man in der Schenke »Zum grünen Baum« sich einen heißen Kaffee genehmigen will.

Sehr unternehmungslustig ausstaffiert und vom freundlichsten Wintersonnenschein begünstigt, tritt an einem freien Nachmittag der Skiklub seine Grönlandsfahrt an. In Zwischenräumen von zwanzig bis dreißig Schritten folgen sich die Läufer; Nansen vulgo Marc Aurel alias Markus Franke hat die Spitze. Als man erst einmal im Gange ist, hei, wie pfeilschnell sausen da die jungen elastischen Gestalten dahin! Auf den Wangen erblühen unterm Hauch der Kälte rote Rosen, die Augen leuchten im Glanz der Freude. Wildromantisch ist die Natur – echt grönländisch! Zur Linken und Rechten hohe Bergwände, cyklopische Felsenmauern, düster schwarz erscheinend neben dem blendend weißen Schnee; dann Nadelbäume, halb zersplittert, kupferrot berindet, ihre schwarzgrünen Nadelzweige gleich Adlerfittichen auf- und niederschlagend im Winde; nun Geröll, Steinbrocken, als hätten hier Cyklopenkinder Ball gespielt – freilich jetzt von weißer Schneedecke halb verhüllt. »Hurra, Grönland!« jauchzt Nansen. »Hurra Grönland!« jauchzt sein Gefolge. »Grönland – Grönland!« schallt das Echo von den Bergwänden zurück. O, es ist ein herrliches Vergnügen, dieser Schneeschuhlauf!

Doch, wie sagt der Dichter? »Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Sterblichen zu teil.« Auch Nansen soll die Wahrheit dieses Wortes erproben – leider! Man ist bei einem isoliert stehenden Bergkegel angelangt. Ein verwegener Gedanke schießt dem Führer durch den Kopf, und mit kräftiger Stimme ruft er: »Halt!« Dieser Ruf, der hell und stark wie das sagenberühmte Horn Olifant des Helden Roland in die Ferne klingt, hemmt den Lauf der Kameraden und bald stehen sie in einer Gruppe beisammen. Man schöpft Atem, man scherzt, man spricht seine Genugtuung über den stählenden Wintersport aus, bis Nansen das Wort ergreift und seinen Freunden die Mitteilung macht, daß er Lust verspüre, den Bergkegel zu nehmen. »Ihr andern, die ihr noch weniger geübt seid als ich,« fügt er hinzu, »könnt währenddessen diesen Zuckerhut von Berg an seinem Fuße umkreisen, bis ich hoch vom Parnaß herniederschwebe und mich wieder in die Mitte der Sterblichen mische,«

Den Freunden will das Wagnis ein wenig bedenklich erscheinen. Der Berg sei zu steil, meinen sie, und Nansen traue sich vielleicht etwas zu viel zu; auch hier gelte der Spruch : »Erst wäg's, dann wag's!« Sonst könne es Nansen ergehen wie dem Marmorblocke des Sisyphos: »Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.« – Der Widerspruch, so gut gemeint er ist, reizt Nansen nur noch mehr, und das ist nicht nett von ihm, denn: »Einem guten Rate öffne dein Ohr!« hat ein weiser Mann gesprochen. Nansen beschwichtigt alle Einwendungen durch die kühne Deklamation der Goetheschen Verse:

»Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen
Rufet die Arme
Der Götter herbei!«

Er beginnt den Aufstieg, langsam, mühselig. Als seine Kameraden sehen, daß sie ihn nicht halten können, lassen sie ihn. Sie setzen sich wieder in Bewegung, um den breit und massig dahingelagerten Fuß des Berges zu umkreisen. Auch dieses Unternehmen bietet seine Schwierigkeiten: gigantischen Felsblöcken ist auszuweichen, Anhöhen des Bodens sind zu ersteigen, durch versperrende Kiefernstämme muß man sich durchschlängeln. So kommt's, daß sie längere Zeit zu ihrem Unternehmen gebrauchen, als sie anfangs gedacht. Plötzlich stößt Plato, der die Spitze des Zuges hat, einen Schrei aus und winkt mit der hoch erhobenen Rechten hinter sich. Denn wenige Schritte vor ihm, zwischen Schnee und Felsenbrocken, liegt regungslos und lang dahingestreckt eine menschliche Gestalt, ein Skiläufer, wie die langen Gerätschaften verraten – – Nansen! Kaum hat Plato mit bebenden Lippen den Namen seines Freundes vor sich hingerufen, als er auch schon an der Seite des Regungslosen steht, sich über ihn beugt und sein bleiches Haupt zärtlich mit dem rechten Arme emporhebt, »Er ist's, unser Markus!« stammelt er schreckensbleich den Kameraden zu, die sich um die traurige Gruppe versammeln.

»Ein Absturz!« sagt Schnok tief ergriffen,

»Ach Gott, ja, ein ernstlicher Absturz!« wiederholt Plato,

»O, wenn unser Freund nur nicht zu Schaden gekommen ist!« seufzt Wischnu.

»Es sollte mir ewig leid tun,« sagt Karl der Dicke beklommen.

»Als wenn wir es geahnt hätten,« spricht Eisern-Heinrich leise. »Wir rieten ihm ab, er wollte sich aber nicht raten lassen. Er muß die Höhe des Berges glücklich erreicht und dann den Abstieg genommen haben; dabei ist er abgestürzt, wie seine Lage hier am Boden verrät, Kopf voran.«

»Jetzt keine rückwärts gerichteten Betrachtungen!« antwortet Plato. »Sie sind nicht am Platze. Wenden wir uns vielmehr dem gegenwärtigen Augenblicke zu! Der Zustand unsres lieben Freundes erfordert unsre Hilfe. Was sollen wir tun? Vor allem müssen wir ihn ins Bewußtsein zurückrufen.«

»Ich habe eine kleine Feldflasche mit Rotwein bei mir,« sagt Ibis. »Welch ein Glück, daß ich noch nicht daraus getrunken!«

»Bravo! Der Rotwein wird seine Kräfte beleben. Gib her!« antwortet Plato eifrig.

Ibis reicht die Flasche hin, und Plato flößt einige Tropfen zwischen die Lippen des Bewußtlosen. Dann noch einmal. Nun wäscht er ihm Stirn und Schläfen mit dem edlen, duftenden Naß, Plötzlich hebt sich die Brust des Ruhenden, ein schwerer Atemzug erfolgt und – die Augen öffnen sich,

»Gott Dank!« rufen die Umstehenden wie aus einem Munde. »Er lebt!«

»Junge, wie geht dir's? Weh getan? Hoffentlich sind Arme und Beine heil geblieben, was?« fragt Plato mit Zärtlichkeit in der Stimme.

Nansen versteht die Frage, denn er nickt bejahend. Erst bewegt er den einen Arm, dann den andern, hierauf krümmt und streckt er die Beine. Schon fliegt ein Lächeln über sein Gesicht, wie ein erster matter Sonnenstrahl nach einem schweren Donnerwetter über die Landschaft fliegt. Dann spricht er: »Ich glaube, ich bin mit dem Schreck davongekommen. Wenigstens fühl' ich mich im Besitz meiner Glieder, und auch meine Rippen scheinen mit dreifachem Erz umpanzert gewesen zu sein, wie der gute Horaz sagt.«

»Hurra, er macht schon wieder Witze!« ruft Karl der Dicke. »Junge, du hast uns einen heillosen Schrecken eingejagt! Ein Karpfen, der aufs trockene Land gerät, ist gewiß ein kläglicher Anblick; aber noch kläglicher ist ein Skiläufer anzusehen, der mit seinen ellenlangen Gerätschaften platt im Schnee liegt. Man meint überall zerbrochene Rippen, zersplitterte Arm- und Beinknochen hervorgucken zu sehen; man weiß nicht mehr, was oben und unten ist, und leicht kann es geschehen, daß eine hilfreiche Hand den Abgestürzten auf den Kopf, statt auf die Beine stellt. Das ist bei dir, mein lieber Markus, nun gottlob nicht zu befürchten, da du den Kopf wieder hoch trägst.«

»Doch bevor ihr mich auf die Beine stellt, schnallt mir gefälligst die Schneeschuhe ab!« sagt lachend – ja, jetzt schon lachend! – Markus Franke. »Mit meinem Skiläufen ist es für heute vorbei, ich fühl's. Wie hattet ihr recht mit eurer Mahnung und eurem Widerspruch! ›Erst wäg's, dann wag's!‹ das soll die Lehre sein, die ich aus diesem Abenteuer ziehen und zur Devise meines ferneren Lebens machen will.«

»Erst wäg's, dann wag's!« stimmen die übrigen mit lautem Zuruf bei.

»Hoch Grönland!« ruft Schnok, um dem etwas feierlichen Moment die Spitze abzubrechen und den Humor wieder einzuführen. Und: »Hoch Grönland!« antworten ihm die Freunde, ihre Hüte schwingend.

Plötzlich blicken alle nach einer bestimmten Richtung hin:

»Denn aus einer Felsenspalte
Tritt der Geist, der Bergesalte.«

Nun, ein Geist scheint dieser ältliche Herr im schmucken Jagdanzuge gerade nicht zu sein, dazu sind seine Wangen viel zu irdisch rot und ist sein Gang viel zu irdisch stramm. Er legt zwei Finger seiner Rechten militärisch grüßend an das grüne Lodenhütchen mit dem kecken Gemsbart und spricht, über das ganze Gesicht hin lachend: »Bedanke mich schönstens, meine jungen Herren, für das Hoch, das Sie mir da soeben ausgebracht. Aber wie kommen Sie dazu? Wie habe ich das verdient?«

Die Primaner sind verdutzt, niemand öffnet den Mund. Sie blicken sich verwundert an und bekämpfen ein Lächeln.

»Ja, Sie riefen doch: Hoch Grönland!? Ich bin aber der Freiherr Ubaldus Grönland zu Grönlandshausen,« spricht der alte Herr,

Da geben die Jünglinge ihrer Heiterkeit freien Lauf, und Plato übernimmt es, das Mißverständnis klar zu stellen. Auch den Unfall berichtet er, von dem ihr Freund vorhin betroffen sei, und der indirekt das Hoch auf Grönland veranlaßt habe,

»Ich stehe also als Usurpator da,« antwortet der alte Freiherr, gutmütig lachend. »Indes, sine ira et studio, wie unser alter Tacitus sagt, lege ich die Ehre in Ihre Hände zurück. Aber es soll mir eine Genugtuung sein, daß ich Sie doch noch heute nachmittag zu einem Hoch auf meine Person veranlasse. Wie ich das anfangen will? Dort drüben auf der Landstraße hält mein Jagdschlitten mit dem Kutscher. Für Ihren abgestürzten Freund ist es besser, wenn er fährt, statt mühsam auf Schusters Rappen zu hinken. In seinem Interesse lade ich Sie ein, Sie alle, auf meinem Schlitten Platz zu nehmen und mit mir nach meinem Schlößchen zu fahren. Dort werde ich mir gestatten, Ihnen eine gastliche Bewirtung angedeihen zu lassen. Ihr Freund hat's nötig, und Sie andern können's brauchen. Ich habe gern so junges Volk zu Tische, mit dem ich alte Schulerinnerungen auffrischen und alte Studentenlieder singen kann. Und wunderliche Geschöpfe müßtet ihr sein, wenn ihr nicht beim edlen Saft der Reben endlich rufen wolltet: ›Hoch Grönland!‹ Eure Skigeschichte, so lustig begonnen, so traurig verlaufen, verdient wohl, daß sie einen humoristischen Schluß erhält. Ich kann die traurig auslaufenden Geschichten nun einmal nicht leiden. Also abgeschnallt die Ski und dann allons zum Schlitten!«

»Hoch der Freiherr von Grönland!« rufen die Kameraden wie aus einem Munde.

»Hahaha, da ruft ihr schon, bevor ihr noch vom Saft der Reben gekostet!« lacht der alte Herr.

Und dann schreiten alle, ihren Nansen führend, dem Schlitten zu.


 << zurück weiter >>