Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ferien! holdes Wort für alle Schüler, mögen sie groß oder klein, fleißig oder faul sein, mögen sie die Bänke der Volksschulen oder der höheren Lehranstalten drücken; den Gymnasiasten und Realschülern klingt es ebenso melodisch wie den Elementarschülern und Abc-Schützen, den hoch gelahrten Professoren und Doktoren nicht minder wie den schlichten Lehrern und Dorfmagistern. Jetzt sind die Tage der goldenen Freiheit gekommen, die Gassen bevölkern sich plötzlich mit zahlreicher Jugend; wessen Eltern es gestatten können, der begibt sich zum Bahnhofe, in die Ferienreise, oder zu Fuß mit dem Ränzel in die schöne Umgebung, Die schönsten Ferien, meinen wir, sind doch die in Westfalen und vielleicht auch sonstwo gebräuchlichen Herbstferien! Gaudete juvenes, vacatio imminet, patriam intrare licebit! In der herbstlichen freien Natur reifen die Früchte, und der Schüler trägt die Früchte seines Fleißes – oder auch seines Unfleißes! – auf der Zensur mit heim. Die Kornfelder sind schon gemäht und man gönnt dem Boden einige Zeit, sich auszuruhen; ausruhen darf auch jetzt der Schüler von seinen Lektionen und Pensis, von mündlichen und schriftlichen Aufgaben, Exercitien, Extemporalien etc. Aus des Himmels blauem Spiegel lacht der unbewölkte Zeus, und wenn auch gerade kein Zephyr über die Stoppeln weht, so doch ein erfrischender Luftzug, der die Wangen bald rötet, wenn er nur rechtzeitig und hinreichend genossen wird. Die lähmende Schwüle der Hundstage ist der belebenden Kühle des Herbstes gewichen, die Glieder fühlen sich wieder leicht und elastisch, und die Beine werden zu wahren Fortschrittsbeinen, die im muntersten Tempo die Welt durchmessen möchten.
Wir drei Brüder Lammers, Schüler des Gymnasiums zu Hinterwinkel, durften die Herbstferien auf dem Edelhofe unseres Onkels Adrian im Münsterlande zubringen. »Dort auf den weiten Heiden,« hatte unser lieber Vater zu uns beim Abschied gesagt, »könnt ihr Pflanzen für eure Herbarien sammeln, Schmetterlinge und Käfer für eure Insektensammlungen fangen, seltene Versteinerungen für eure geologische Sammlung suchen, denn die münsterländischen Heiden sind alter Meeresboden.« Von kühnen Hoffnungen geschwellt, von den großartigsten Vorsätzen belebt, hatten wir den Edelhof des Onkels und der Tante betreten. Aber es sollte anders kommen: Pflanzen, Schmetterlinge, Käfer, Versteinerungen, alle verloren sie plötzlich in unsern Augen den Sammelwert – die Dinge lagen ja förmlich zu Dutzenden und Hunderten am Wege! –- als uns der liebenswürdige Onkel seine Sammlung von Altertümern zeigte. In sechs mächtigen Glasschränken, die in einem weiten, lichten Saale ihre Aufstellung gefunden hatten, zeigten sich unsern trunkenen Blicken, denen noch niemals etwas derartiges begegnet war: schwarze Aschekrüge, rostige Spangen, Armbänder, Nadeln und Ketten, feuersteinerne Beile, Speerspitzen, Messer, ferner irdene Vasen, Krüglein, Lampen und Götzenbilder, sodann gebräunte Knochen, Zähne und Schädel, weiter Holzschnitzereien und Elfenbeinsachen, hierauf buntbemalte Glasscheiben und Oelbildchen; ferner alte Schlüssel, Schlösser und Thürbeschläge von Schmiedeeisen, noch weiter Dosen, Schachteln und hundert andre Dinge. Das Haupt- und Glanzstück der Sammlung war aber ein kupfernes Reliquienhäuschen mit Emailleverzierungen; Onkels Stimme nahm ordentlich einen feierlichen Klang an und seine Hände bewegten sich in abgemessenem Tempo, als er das Häuschen uns vorzeigte und erklärte. Das Kunstwerk war aber auch wirklich wunderschön, dabei stammte es aus dem Mittelalter, und es hatte – wie uns die gute Tante hinterher heimlich anvertraute – bare dreitausend Mark gekostet! Uns schwindelte bei dieser Summe, und die paar Mark, die wir als Zehr- und Reisegeld in der Tasche trugen, verloren förmlich ihren Wert, so daß wir beschlossen, sie nur möglichst schnell aufzubrauchen. Ein solches Reliquienhäuschen zu erwerben, das schlossen wir von vornherein in unsern Absichten aus, – aber eine Altertümersammlung, die wollten und mußten wir uns partout anlegen, zumal uns Onkel gesagt hatte, daß mehrere der Urnen, Krüge, Knochen und Waffen aus den Hünengräbern der Heide stammten, welche in der Nachbarschaft des Edelhofes lag. Onkel lächelte über unsern heiligen Eifer, der sofort mit Spaten und Hacke losziehen wollte, und mahnte: »Eile mit Weile!« Vorläufig wolle er uns einen Hünenbackenzahn als Grundstein unsrer geplanten Sammlung schenken. Wer war glücklicher, als die Brüder Karl, Theodor und Ludwig! Stante pede wollten wir das Wunderding von Zahn besitzen, das uns jetzt schon weder für Silber noch für Gold feil gewesen wäre, »Eile mit Weile!« sagte wieder der Onkel und schloß seine sechs Schränke mit Altertümern vorsichtig ab, die Schlüssel überall herausziehend und in die Tiefen seiner Tasche versenkend. Ob er Mausegelüste bei uns vermutete? Nein, lieber Onkel, die lagen uns völlig fern, und nimmermehr hätten wir die Lehre unsrer guten Mutter außer acht gelassen: »Ehrlich währt am längsten« – ein Sprichwort, das der derbere Vater gern in die Worte zu kleiden pflegte: »Erst lügen, dann betrügen, dann stehlen, dann morden, dann an den Galgen.« Nachdem Onkel sich vergewissert, daß seine Schätze wohl verwahrt seien, und nachdem er scherzend geäußert: »Ich wollte, ich könnte so einen feurigen Hund mit riesengroßen Augen, wie er in alten Sagen die Schätze bewacht, in meinen Dienst bekommen!« führte er uns treppauf, treppab über hallende Korridore, wo durch hohe Fenster die milde Herbstsonne schien und Millionen farbiger Stäubchen in den schrägen Strahlen tanzten, in seine Schreibstube. Hier also befand sich der Hünenbackenzahn, dieses Wunder, das wir unser eigen nennen sollten! Unsre Herzen klopften wie junge Lämmerschwänzchen, als Onkel nicht ohne eine absichtliche Feierlichkeit und Langsamkeit die Lade seines Schreibtisches loszog. Einem hinteren Fache entnahm er einen in Papier gewickelten Gegenstand, welchen er hierauf unsrem jüngsten Bruder, dem Sextaner Ludwig, überreichte. Ludwig begann die Papierhüllen – es waren deren mehrere – loszuwickeln, aber da er mit seinen vor Aufregung zitternden kleinen Händen allzu langsam verfuhr, so entriß ihm der Tertianer Theodor, der seine Ungeduld nicht länger zügeln konnte, mit einem Ruck das kostbare Paketchen und begann nun in rascherem Tempo die Hüllen loszuschälen; dabei ließ er jedoch den innern, freilich noch verhüllten Kern unversehens fallen, worauf ich, der Sekundaner Karl, wie ein Habicht auf die Beute stieß und mit fiebernden Händen endlich den Zahn ans Tageslicht brachte. Mit weit geöffneten Augen stierten wir auf den »Hünenbackenzahn«; hierauf stierten wir uns gegenseitig an und endlich stierten wir den Onkel an, der mit einem Lächeln zu kämpfen schien. Dieses Lächeln bestärkte uns in unsrem Verdachte, bis endlich der kleine Ludwig, der Naseweis der Familie, in die Worte ausplatzte: »Das ist ja ein ganz gemeiner Pferdezahn vom Anger! O, Onkel, wir haben lange genug auf dem Anger gespielt, um solche Zähne wohl zu kennen!« Nun platzte der Onkel vor Lachen los, während ich ratlos mit meinem gelben Pferdezahn in der flachen Hand dastand. Da erblickten meine wirr im Zimmer umherschweifenden Augen in einer Ecke ein Mauseloch – und im nächsten Augenblick versenkte ich in seine Tiefen das erst so heiß begehrte, jetzt so schnöde verachtete »Altertum«. – »Na, mein Junge, du weißt dich gut aus der Affaire zu ziehen,« lachte der Onkel, indem er sich die Seiten hielt. Aequam memento rebus in arduis und so weiter, impavidum ferient ruinae; es war ein Spaß, den ich mir mit euch erlaubte, aber da ihr ihn so gleichmütig aufnehmt, so werde ich mit euch heute Nachmittag zur Belohnung einen Spaziergang nach dem nächsten Städtchen machen.«
Das Mittagessen däuchte uns trotz der leckeren Speisen, welche die gute Tante aufgetischt hatte, diesmal ein wenig lang; wir verzichteten sogar – man staune! – auf den Nachtisch, welcher in köstlichen Aepfeln und Birnen bestand. »Aber Jungens,« tadelte die Tante, »so steckt euch doch wenigstens die saftigen Früchte in die Taschen, damit ihr einen Imbiß auf eurer Wanderung habt!« Dies ließen wir uns nicht zweimal sagen und wir stopften und pfropften uns alle Taschen so voll, daß es zuletzt aussah, als hielten wir unter unsern Kleidern am Körper allerlei traurige Auswüchse, Verkrümmungen und Mißbildungen verborgen. Namentlich der kleine Ludwig, der, aufrichtig gestanden, ein Nimmersatt war, machte eine so komische Figur, daß der humoristische Onkel sich vor Lachen krümmte und ein über das andre Mal rief: »Das hält ja keine Dreschmaschine aus! Ich kriege den Tod davon!« Indem wir älteren Brüder dem ganz und gar aus seiner Fasson geratenen Ludwig einige der dicksten Aepfel und Birnen mit Gewalt aus den Taschen rissen, wodurch der Junge sich wieder der Gestalt eines normalen Menschen näherte, beruhigte sich der Onkel, und nachdem er Hut und Stock zur Hand genommen, führte er uns, nach herzlichem Abschied von der Tante, mit dem Rufe:
»Auf auf, sprach der Fuchs zum Hasen:
Hörst du nicht den Jäger blasen?«
ins Freie.
Unterwegs suchten wir mit allen Kriegslisten aus dem Onkel herauszulocken, wo wir wohl ein richtiges Altertümchen erwischen könnten, aber Onkel orakelte so geheimnisvoll wie eine Pythia, daß wir aus seinen Antworten nicht klug werden konnten. Unsre Phantasie erging sich in den fabelhaftesten Gebilden, und der kleine Ludwig äußerte zuletzt ganz zuversichtlich, er glaube, daß uns der Onkel noch einmal mit einem Mammutgerippe überraschen werde. Da Onkel zu dieser Aeußerung weder lachte noch sprach, aber nicht abließ, uns mit dem Pferdezahn zu necken, wurden auch wir Jungens etwas unwirsch. »Warte nur, Onkel,« sagten wir, »das sollst du büßen, daß du uns so angeführt hast! Wir werden Rache nehmen, wenn auch nicht blutige Rache, so doch kaffeebraune Rache, nämlich in Strömen von Mokka, womit du uns im ›Goldenen Holzschuh‹ traktieren sollst.«
»Zugestanden,zugestanden!« lachte der Onkel; »Ströme von Kaffee sollen fließen, um meine Schuld abzuwaschen! Schinkenscheiben sollen als Pflaster auf eure Wunden gelegt werden! Mit Zuckerklumpen, so dick wie meine Faust, will ich euch die Bitterkeit des Kaffees, des Lebens und der Enttäuschung versüßen! Frische Butter will ich euch als Salbe auf eure Herzenswunde streichen! Verzeih du junges, dummes, gutmütiges Volk einem alten Egoisten von Altertumsforscher, der nichts aus seinen sechs Schränken für euch missen kann! Eher trennt sich ein Geizhals von seinem Golde, als ein Altertumsfreund von seinen Urnen, Vasen, Waffen, Knochen u. s. w.«
Die Kaffeeladung im »Goldenen Holzschuh« war sehr reichlich und lustig – aber das sahen wir Jungens im Verlauf der Unterhaltung wohl ein, daß vom Onkel nicht das kleinste Altertümchen für unsre beabsichtigte Sammlung zu bekommen war. Wir beschlossen deshalb, als der Onkel, um die Zeche zu zahlen, hinausgegangen war, fortan auf eigene Faust zu handeln.
Schon am folgenden Tage machten wir Ernst mit unsern Vorsätzen. Wir durchstreiften die weite Heide, welche an des Onkels Besitzung grenzte, kreuz und quer und waren so glücklich, inmitten eines Gestrüpps von Wacholder, Stechpalme und Brombeer ein mit rosenrotem Heidekraut überwuchertes Hünengrab zu entdecken:
»Es ist so still, die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle!
Ein rosenroter Schimmer stiegt
Um ihre alten Gräbermale« –
deklamierte ich nach Theodor Storm, worauf Bruder Theodor die Sage erzählte, das Heidekraut sei so rot gefärbt von dem Blute der heidnischen Recken, die erschlagen unter den Hünengräbern lägen; der kleine Ludwig aber wußte seiner poetischen Stimmung keinen besseren Ausdruck zu verleihen, als daß er mit seinem dünnen Stimmchen anfing zu singen:
»Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heide!«
Nur sang der Junge beharrlich »Rößlein« statt »Röslein« – er war nämlich ein gewaltiger Pferdeliebhaber,
Wir träumten von fabelhaften Schätzen, die im Schoße des Hünengrabes verborgen lägen, und unser kleiner Sextaner verstieg sich zuletzt zu Särgen und Thronen von purem Gold, wobei er sich auf ein uraltes Volkslied bezog, das von den berühmten »Slopsteinen« (Schlafsteinen) bei der Stadt Osnabrück bemerkt:
»Darunder ligg König Ringholt
In eenen goldenen Husholt« –
das heißt unter diesen Granitblöcken, den Schlafeswächtern für den toten Helden, liegt der Heidenkönig Ringholt in einem goldenen Haushalt, das ist Sarge.
Vorderhand mußten wir unsern Gelüsten nach den goldenen Särgen und Thronen noch Zügel anlegen, da wir weder Schaufel noch Hacke zur Hand hatten. Aber gleich nach dem Mittagessen sollte das große Werk der Ausgrabung vor sich gehen. Während dieses Mittagessens, dem wir hungrig, wie junge Habichte zusprachen, merkten wir es nicht oder wollten es nicht merken, daß Onkel ein wenig spöttisch zu unsrer begeisterten Schilderung des entdeckten Hünengrabes, dessen Lage wir ihm genau beschreiben mußten, lächelte. Er ließ uns denn auch mit Hacke und Schaufel in die Heide ziehen, wo wir alsbald im Schweiße unsres Angesichtes gleich Maulwürfen zu wühlen anfingen. Von der ungewohnten Arbeit bildeten sich alsbald schmerzhafte Wasserblasen an unsern Händen, was uns zu wiederholten Pausen zwang. Während einer solchen war es, daß sich das Gestrüpp von Wacholder und Stechpalme plötzlich teilte und – der Onkel vor uns stand. »Na, Jungens,« fragte er lächelnd, »habt ihr den goldenen Haushalt schon gefunden?« – »Noch nicht, Onkel,« knurrte ich, »aber wir werden ihn schon noch finden!« – »Ich glaube, kaum,« erwiderte kühl der Onkel, »denn dieser Hügel, den ihr für ein altes Hünengrab anseht, ist ein höchst moderner Windmühlenhügel. Es stand hier in meiner Jugendzeit die Mühle des Jodocus Leisetritt; die Mühle ist in einer stürmischen Herbstnacht abgebrannt, und Jodocus Leisetritt »ist gesterbt, weil er hat getrinkt zu ville Branntewein« – wie unser Polizeidiener Oschinski, der aus der Polackei hierher verschlagen war, sich auszudrücken beliebte.«
»Ein Windmühlenhügel?« wiederholten wir in dreifachem Echo und sperrten den Mund auf wie Nußknacker.
»Ja, ein Windmühlenhügel!« versicherte der Onkel noch einmal, kühl und bestimmt. Dann setzte er mit angenommenem komischen Pathos hinzu: »Amicus mihi Carolus, amicus Theodorus, amicus Ludovicus, sed magis amica veritas!«
Dieses klassische Citat beantwortete amicus Ludovicus mit den gerade nicht klassischen Versen:
»Ach, liebster Onkel Adrian,
Du hast uns viel zu Leids getan,
Darum will ich mir rächen –
Und dir erstechen!«
Damit fuhr der Junge mit der Schaufel, natürlich nur zum Scherz, auf Onkel Adrian los. Dieser parierte den Angriff mit seinem Spazierstock und lamentierte unter Lachen: »Nette Geschichten macht ihr da! Da träumt und fabuliert ihr von alten Hünen so lange, bis ihr die Wildheit dieser Heidenkönige in euern eigenen Adern verspürt, bis ihr friedliche Ackergeräte in feindselige Mordinstrumente verwandelt und einen ehrlichen Mann, dem die Wahrheit über alles geht, meuchlings attackiert! Nette Geschichten fürwahr, ihr Jünger der Wissenschaft, die ihr die Milch der frommen Denkart in euern Adern haben müßtet, statt des gärenden Drachengiftes! Und dieses Drachengift gar gegen euern Blutsverwandten, gegen euern leiblichen Onkel, gegen euern guten Hospes auszuspeien! Eheu, eheu me miserum! Ich verhülle nach antikem Muster mein Antlitz!«
Damit zog Onkel das bekannte Gelbseidene (oder einen Bruder desselben) aus der Tasche und verhüllte in so komischer Weise sein Antlitz, daß wir uns die Seiten halten mußten vor Lachen.
Um eine Enttäuschung reicher, pilgerten wir drei jungen Altertümler mit unsrem Mentor unter dessen gastliches Dach zurück, wo wir am reichbesetzten Tische der horchenden Tante die Verse aus dem »Peter in der Fremde« wahr machten:
»Erstickten ihren Gram mit Essen
Und tranken tiefbetrübt dazu,«
Der gute Moselwein des Onkels wandelte die »tiefe Betrübnis« gar bald in »rosige Hoffnung« um, zumal der Onkel uns gutmütig also belehrte: »Ihr müßt eure Forschungen mal anders anstellen! In einsame, entlegene Häuschen und Hüttchen müßt ihr gehen und eure Blicke in den Räumen umherschweifen lassen: will es das Glück, so begegnet ihr dort hin und wieder einem Altertümchen, das sich durch die Jahrhunderte in der Familie vererbt hat und von dessen wahrem Werte die Besitzer nicht die blasseste Ahnung haben. So hab' ich zum Beispiel beim Heidebauer Haverman eine wundervolle geschnitzte Truhe mit der Jahreszahl 1525 gegen einen nagelneuen ganz gemeinen Koffer eingetauscht, der nur die eine Bedingung erfüllen mußte, daß er doppelt so groß sei als die Truhe. Als Jans Haverman einen solchen Koffer, schön himmelblau und rabenschwarz angepinselt, von mir erhielt und ich die alte verstaubte Truhe auf meinen Wagen laden ließ, machte der Heidebauer ein höchst pfiffiges Gesicht, welches zu sagen schien: »Dich hab' ich aber nett über den Löffel barbiert!«
Dieses Geschichtchen des Onkels war ein Feuerfunke, der in den Zunder unsrer Hoffnungen fiel; der Zunder fing Feuer, brannte endlich lichterloh und beleuchtete die weite Heide mit rosigem Glanze, in welchem Häuser mit alten geschnitzten Truhen, kunstreichen Spinnrädern, gravierten Zinnschüsseln u. s. w. vor unserm geistigen Auge auftauchten.
Schon am andern Morgen setzten wir unsre jungen Beine in Bewegung und durchquerten die weite münsterländische Heide, wie Major v. Wißmann (damals noch Leutnant) Afrika, bis wir am jenseitigen Ende unsres einsamen Terrains ein windschiefes Hüttchen, ganz unter knorrigen Kiefern versteckt, entdeckten. Sofort brachen wir in dasselbe ein – Fortes fortuna adjuvat – und forderten uns zum Vorwand etwas Trinkwasser. Der alte Philemon, welcher bis dahin aus einem Tonpfeifchen schmauchend am Torffeuer des gemauerten Herdes gesessen hatte, humpelte, gutmütig »ja« nickend, auf seinen klobigen Holzschuhen zum Ziehbrunnen, ließ den Eimer hinab und zog ihn wieder empor, worauf die alte Baucis, welche bis dahin Kartoffeln geschält, einen Tonkrug von der Wand nahm, denselben in das klare Naß tauchte und uns die Labe kredenzte. Ich setzte den Krug an die Lippen, wobei ich mit den Augen nach der Beschaffenheit des Gefäßes schielte. Wie ein Blitz durchzuckte es mein Inneres: »Ein antiker Tonkrug!« Ich hätte aufjauchzen mögen vor Freude, aber ich beherrschte mich, um die Besitzer des Kleinods nicht zu unverschämten Forderungen zu ermutigen. Nachdem ich einen kühlen Schluck getan, reichte ich mit einem vielsagenden Blicke den Krug meinem Bruder Theodor, welcher gleicher Meinung mit mir zu sein schien, denn er sagte auf Latein so etwas von »etruskischen Vasen«. Diese lateinischen Worte machten den kleinen Ludwig aufmerksam, der immer die Ohren wie ein Mäuschen gespitzt hielt; er studierte unsre Blicke, die an dem Kruge hingen, und platzte dann – sehr undiplomatisch! – mit der Frage auf das Bäuerlein los: »Was wollt Ihr für den Krug haben?«
»Wollt ihr ihn denn kaufen?« fragte der Bauer, allerdings nicht auf hochdeutsch, sondern in der plattdeutschen Sprache seiner Heide.
»O ja!« erwiderten wir dreistimmig.
»Warum denn?« fragte der Bauer mißtrauisch.
»Weil – weil – wir Heidelbeeren, ich wollte sagen Preißelbeeren darin bergen wollen,« resolvierte ich mich, wobei ich über meine Lüge schamrot wurde, daß mir die Wangen brannten. Ja, so weit, bis zur Lüge, hatte mich meine Leidenschaft für Altertümer schon getrieben! Aber Mephisto flüsterte mir ins Ohr: »Du kannst ja wirklich auf der Heide ein paar Preißelbeeren hinein tun« – worauf ich den prüfenden Blick aushielt, den der Heidebauer, unter seinen buschigen grauen Brauen her, auf mich richtete. »Ah, so!« sagte der Mann; »ja, ihr könnt den Pott (Topf) haben – zwanzig Pfennige wird er schon wert sein.«
Doch dem war kaum das Wort entfahren, als ich meinen rechten Arm schon bis an den Ellenbogen in der Tasche hatte, um die zwanzig Pfennige herauszuholen. Lächerlicher Preis das, für solch ein Altertümchen! Der harmlose Alte ahnte es nicht, welch ein Kleinod er verschleuderte! Um die mahnende Stimme in meinem Innern zu beschwichtigen, reichte ich dem Mann ein blankes Fünfzig-Pfennigstück, wobei ich bemerkte, daß ich nichts heraus haben wolle. Der kleine Ludwig bemächtigte sich sofort des Kruges. Der Heidebauer zog mit den kaltblütig gesprochenen Worten: »Danke auch!« ein ledernes Beutelchen mit Riemenverschluß aus der Hosentasche, wickelte den Riemen etwa zwanzigmal von rechts nach links herum, worauf der Beutel sich auftat, um das Fünfzig-Pfennigstück zu verschlucken; alsdann wurde der Beutel etwa zwanzigmal mit dem Riemen von links nach rechts stranguliert und endlich wieder in die Hosentasche versenkt. Das Geschäft war abgeschlossen, der antike Tonkrug gehörte uns, wir konnten gehen, wohin es uns gefiel.
Vorderhand begaben wir uns spornstreichs mit unsrem neugewonnenen Schatze nach dem Gute des Onkels. Was für Augen, dachten wir, wird er machen, wenn der unsre Erwerbung erblickt! Um seine Ueberraschung zu steigern, verhüllten wir den Krug mit einem rotbaumwollenen Taschentuche; in dieser Verfassung wollten wir den Gegenstand, ohne ein erläuterndes Wort zu sprechen, vor den Onkel hinstellen; Onkel würde die Hülle lösen und dann – ja dann gedachten wir uns an der Ueberraschung des Altertümlers zu werden. Er würde uns Geld, viel Geld, fabelhafte Summen für unsern antiken Tonkrug bieten, aber wir waren entschlossen, nicht auf den Handel einzugehen. Ich sagte mit Emphase zu meinen Brüdern, der Tonkrug solle gewissermaßen das Piedestal zu unsrer Sammlung bilden, worauf der kleine Ludwig naseweis bemerkte, daß alsdann unsre Sammlung ja auf tönernen Füßen stände; ein Steinchen könne vom Berge rollen und den ganzen Aufbau zerschmettern. »Naseweiser Junge,« tadelte Theodor, »du siehst Gespenster am hellen Tage!«
Wir führten unsern Plan mit dem Onkel durch, aber statt der Ueberraschung erblickten wir auf seinem Antlitz – ein breites, seelenvergnügtes Lächeln.
»Was soll mir dieser Pott?« fragte er, mit den Augen blinzelnd.
»Dieser Pott?« erwiderte ich langsam, wobei ich mich hoheitsvoll emporreckte. »Ich bitte, lieber Onkel, in dem Gefäße eine antike Vase oder Urne zu respektieren,«
»Eine antike Vase oder Urne!« äffte der Onkel meine Stimme nach, um sofort in seinen eigenen lustigen Ton zurückzufallen. »Hahaha! Köstlich! Ich bitte, lieber Freund und Neffe, hier unter dem Fuße des Kruges einmal den Fabrikstempel zu lesen. Was steht da?«
»Ochtrup 1880«, las ich verwirrt und beschämt.
»Ochtrup ist,« fuhr der Onkel unbarmherzig fort, »ein kleiner Ort im Münsterlande, der sich mit Topfbäckerei befaßt; es wird dort auch eine gewisse Art von Kinderflöten gebacken, die mit Wasser gefüllt werden, einen schluchzenden Ton von sich geben und unter dem Namen ›Ochtruper Nachtigallen‹ bekannt sind. Schade, daß wir nicht eine zur Hand haben – ich würde dann die Ouvertüre zu eurer Tragikomödie spielen.«
»Onkel, du bist grausam!« rief ich und schleuderte meinen Ochtruper Krug von 1880 an die Wand, daß er in tausend Scherben zersplitterte.
»Ein Knalleffekt!« lachte der Onkel. »Aber pfui, mein Junge,« setzte er ernster hinzu, »wer wird so seinen jähzornigen Regungen folgen? Als Mann mußt du die Wahrheit ertragen können, Amicus mihi Carolus, amicus Theodorus amicus Ludovicus, sed magis amica veritas! Ich gebe zu, den Finger etwas grausam in deine Wunde gelegt zu haben, und ich will meine Schuld damit sühnen, daß ich dir, oder vielmehr euch allen dreien zusammen, einen echten Aschenkrug aus meiner Sammlung schenke. Ihr könnt denselben eigenhändig und eigenäugig aus meiner Sammlung auswählen, dann werdet ihr doch überzeugt sein, daß er echt ist. Ich besitze deren zehn, die alle den Hünengräbern unsrer westfälischen Heiden entstammen,«
Wir fielen dem Onkel gerührt um den Hals und ließen uns dann mit einer hübschen schwarzen, gerippten Urne feierlich belehnen. Die Urne war wirklich echt – kein Schelmenstreich des Onkels steckte dahinter; und feierlich, als ob wir die Bundeslade trügen, brachten wir »Nummer Eins« unsrer Sammlung auf unsre Stube, welche uns die Tante für die Dauer unsres Besuches angewiesen hatte.
Gut gibt Mut. Mit einer gehörigen Portion des letzteren durchtränkt, zogen wir am folgenden Morgen auf neue Entdeckungen aus. Eine frohe Ahnung sagte uns, wir würden diesmal glücklich sein. Gegen zehn Uhr gerieten wir in ein kleines Wirtshaus, gelegen am Hauptwege, welcher die Heide durchschnitt; wir wollten daselbst ein Glas Milch trinken und zugleich Umschau nach Altertümern halten.
Am Wirtstische trafen wir ein bejahrtes Bäuerlein, das sich einen Schnaps in kleinen Zügen leistete und dabei stillzufrieden aus einem hölzernen Pfeifchen schmauchte. Die Wirtin brachte uns drei Gläser Milch und zog sich, nachdem sie uns die Versicherung gegeben, daß »schön Wetter« sei, wieder in ihre Küche zurück. Wir ließen, nachdem wir getrunken, unsre Aeuglein »rund umme gehn«, wie's im Volkslied heißt, entdeckten aber in der kahlen geweißten Stube nichts, als ein paar kolorierte Lithographien höchst modernen Ursprungs, die Geschichte der heiligen Genovefa mit ihrer Hirschkuh und ihrem Schmerzenreich darstellend. Das Bäuerlein folgte mit seinen Blicken unsern Halsverrenkungen, die über die vier Wände hinglitten, und bemerkte dann freundlich: »Schöne Bilder, nicht wahr?«
»O ja!« erwiderte ich ebenso freundlich; »allerdings würden sie mir noch viel besser gefallen, wenn sie alt, recht alt wären.«
»So lieben Sie das Alte?« fragte der Bauer.
»Sehr!« erwiderte ich mit Nachdruck.
»Kurios!« bemerkte der Bauer; »ich für meinen Kopf hätte gern noch junge Zähne, damit ich meinen Pfeifenstummel halten könnte.«
Der Mann, sagte ich mir, scheint ein Witzbold zu sein; jedenfalls ist er geweckteren Geistes, als viele seiner Kollegen; mit dem läßt sich vielleicht was machen.
»Das verdenke ich Ihnen nicht, Väterchen,« erwiderte ich laut, »junge Zähne beißen besser als alte. Ich wollte auch nicht gesagt haben, daß ich alles Alte liebe, aber zum Beispiel in Bildern, Dosen, Schüsseln, Krügen, bunten Fensterscheiben und so weiter ist mir das Alte lieber als das Neue.«
»Hm, hm!« machte der Bauer, als sähe er die Sache so recht nicht ein.
»Es ist nun mal so eine Liebhaberei von mir,« entschuldigte ich mich vor dem Manne; »jedes Tierchen hat sein Pläsierchen – und jedes Menschenkind reitet sein Steckenpferd; meines find aber alte Sachen aus früheren Jahrhunderten . . . Sollten Sie nicht so etwas in Ihrem Hause haben?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Keine alten bunten Fensterscheiben, wie sie hier zu Lande früher dem Landmann bei seiner Hochzeit oder beim Hausbau von den geladenen Nachbarn verehrt wurden?«
»Ja, vor zehn Jahren hatte ich noch so etwas in den Fenstern, mit der Jahreszahl 1680 und zwei Windhunden, die ein Schild in den Vorderpfoten hielten; aber das große Hagelwetter von dazumal hat keine Scheibe in meinem Häuschen heil gelassen.«
Der Atem drohte mir vor Spannung stillzustehen: das Haus, das der Bauer bewohnte, war also ein recht altes, wenn die gebrannten Fensterscheiben von Anno 1680 stammten. Wie schade, daß das große Hagelwetter diese Scheiben zerschlagen hatte! Wenn das Haus aber so alt war, so mußten, ja es mußten noch andre Altertümer darin stecken!
»Ich hätte Ihnen die Scheiben gern für gutes Geld abgekauft,« sagte ich, um das Bäuerlein kirre zu machen, wobei ich besondern Nachdruck auf »gutes Geld« legte und mit meinen Markstücken in der Tasche klimperte. »Aber das große Hagelwetter ist mir leider zuvorgekommen und hat nichts dafür bezahlt. Besinnt Euch, Väterchen, ob Ihr sonst nicht noch ein Altertümchen im Hause habt!«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Keine Schüssel? Keinen Krug? Keine Dose?«
»Eine Dose?« fragte der Bauer, »Ja, da fällt mir ein, daß meine Kinder im vorigen Jahre so ein Ding mit nach Hause brachten – ein kurioses Ding, .das sie beim Spielen in der Sandgrube gefunden hatten.«
»War es da vergraben?« fragte ich, wobei ich die Ohren spitzte.
»Es muß wohl so gewesen sein,« bestätigte der Bauer, »denn Anton und Trina sagten ausdrücklich, sie hatten die Dose in der Sandkuhle gefunden.«
Was man vergräbt, so kalkulierte ich, ist etwas Wertvolles, ein Schatz, den man vor räuberischen Händen bergen will; folglich ist die aufgefundene Dose wertvoll!
»Wie sieht sie denn aus, Eure Dose?« fragte ich, indem ich meine Stimme zu möglichster Ruhe und Gleichgültigkeit zwang.
»Sie war von gelbangelaufenem Blech –«
Von getriebenem Kupfer! jauchzte es in meinem Innern.
»Und dann waren allerlei kuriose große Buchstaben darauf –«
Gotische Inschrift! jubelte meine innere Stimme.
»Und bunte Bilder, die Tiere mir vorzustellen schienen –«
Die Symbole der vier Evangelisten! schoß es mir durch den Kopf. Die Dose ist offenbar ein Reliquienkästchen, wie Onkel eines als Hauptstück seiner Sammlung besitzt.
»Die Buchstaben waren schwarz, die Tiere rot, und das Eichenlaub – ja, es stand auch ein Eichenkranz darauf – grün.«
Die alte deutsche Eiche, sie lebe! dachte ich. Ja, die Künstler der mittelalterlichen Gotik liebten das schönumrissene Eichenblatt sehr und ahmten es nach in Stein und Metall, zur Verzierung von Säulenknäufen, Gittern u. s. w.
»Die Krone obenauf mußte aber wohl von Gold sein,« fuhr der Bauer nachdenklich fort.
»Was, eine Krone von Gold!« platzte ich sehr undiplomatisch los. Doch kaum war mir das Wort entfahren, mocht' ich's im Busen gern bewahren. Das Ding ist offenbar ein Reliquienkästchen mit Emailleverzierungen auf getriebenem Kupfer, dachte ich; aber der Bauer darf nicht ahnen, welch ein Kleinod er besitzt, er würde im andern Falle unverschämte Forderungen stellen. In erzwungenem, kühlem Tone bemerkte ich dann: »Ja, so eine Krone hat man oft auf Kasten und Dosen, das ist nichts Rares! Aber, Väterchen, weshalb sagten Sie vorhin immer: die Dose war – die Buchstaben und Bilder waren –? Sie konnten doch sagen: die Dose ist – und die Buchstaben sind, denn ohne Zweifel besitzen Sie noch das (ich wollte schon sagen ›Kleinod‹, verschluckte indes noch rechtzeitig das verräterische Wort und sagte kühl) das im Sandloche gefundene Ding.«
»Nun, ich habe das im Sandloche gefundene Ding,« erwiderte der Alte, »seit einigen Monaten nicht mehr in meinem Hause gesehen.«
Bei dieser Eröffnung fiel mir der Unterkiefer vor Schrecken bis auf die Krawatte.
»Es kann aber sein,« lenkte der Unglücksmann ein, »daß meine Frau das Ding fortgelegt hat. Ja, meine Annemarie ist eine sehr akkurate Frau und sie bringt alles an seinen Platz.«
Diese Worte klangen mir wie Musik in den Ohren. Ich segnete Annemarie in meinem Innern.
»Hört, Papa,« sagte ich jetzt in entschiedenem Tone, »ich möchte das Ding mal sehen. Wenn Ihr erlaubt, so gehen wir drei Brüder mit nach Euerm Hause, Wie weit ist's bis dahin?«
»Na, es wird so eine dicke Stunde sein. Von hier bis zum Dorfe Föhrenhausen ist's eine gute halbe Stunde, und von Föhrenhausen nach meinem Häuschen ist's auch eine gute halbe Stunde, zu welcher der Fuchs noch den Schwanz zugegeben hat.«
»Dann stärkt euch,« sagte ich, um den Alten mir günstig zu stimmen, »vorher noch durch ein Schnäpschen; ich bezahl' es.«
Der schmunzelnde Bauer ließ sich solches nicht zweimal sagen, und nachdem er getrunken und ich bezahlt hatte, machten wir vier uns auf den Weg. Meine beiden Brüder schienen in derselben Spannung und Hoffnung zu sein, wie ich; ihre Mienen und Flüsterworte verrieten mir solches.
Während des Gehens überlegte ich, im Bewußtsein meiner beschränkten Barschaft, wie ich es anzufangen hätte, daß ich das »mittelalterliche Reliquienkästchen mit Emailleverzierung« billig in meine Hände bekäme. Ich müsse, sagte ich mir endlich, auf dem mit der Spendung des Schnapses bestrittenen Wege weiterschreiten; ich müsse den Alten mir günstig stimmen.
»Väterchen,« fing ich an, »Sie sprachen vorhin von Ihren Kindern Anton und Trina. Das sind gewiß recht artige, liebe Kinderchen? Haben Sie nur die zwei?«
»Jawohl, diese zwei, aber artig und lieb sind sie gerade nicht; sie zerreißen alles, was sie am Leibe haben, so daß man die Sachen kaum herbeischaffen kann, Anton hat wieder keine heilen Holzschuhe, und Trina hat am Sonntag wahrhaftig keine Schürze anzutun.«
»O bitte, mein Bester, so erlauben Sie mir, daß ich den Kleinen diese Dinge mitbringe; dieselben werden ohne Zweifel in Föhrenhausen zu haben sein.«
»Was? Sie wollen Anton ein Paar Holzschuhe und Trina eine neue Schürze kaufen? Acceptiert! wie der Herr Kaplan sagt. Ich sag' auch Dank. Wie werden sich die Kinder freuen! Aber meiner Frau, fürcht' ich, wird das Herz bluten, wenn sie leer ausgeht. Annemarie ist eben ein wenig sehr empfindlich.«
»Nun, dann kaufen wir Ihrer Frau ein weißseidenes Band mit roten Blumen und grünen Blättern für ihre Sonntagsmütze.«
»Das wird Kirmes im Hause geben, o jeh! Ach, junger Herr, Sie haben ein gutes Gemüt!«
Der biedere Landmann, so kalkulierte ich bei mir, weiß seinen Nutzen wahrzunehmen; kaum winkte den Kindern ein Geschenk, so suchte er ein solches auch für seine Ehehälfte herauszuschlagen. Der bekannte Spruch: »Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr,« scheint auf seinem Siegeslaufe um die Welt auch in das einsame Häuschen deines Bäuerleins gedrungen zu sein. Karl, Karl, du tätest gut, den Handel mit dem Reliquienkästchen noch vor dem Eintritt in das unbescheidene Häuschen abzuschließen! Jetzt ist das Altertümchen vielleicht noch um ein Billiges zu haben; später, wenn dich dein entzückter Blick, deine zitternde Hand verraten, fordert der biedere Landmann wohl so viel Taler, wie er jetzt Mark verlangen wird.
Mittlerweile hatten wir das Dörfchen Föhrenhausen erreicht. »Dort in der Wirtschaft ›Zum weißen Hahn‹ ist ein guter Kaffee zu haben,« bemerkte das Bäuerlein; »die Zunge klebt mir altem Mann am Gaumen; und dann wollten Sie ja für Anton und Trina, für meine Frau und die Großmutter etwas einkaufen; das können Sie alles im ›Weißen Hahn‹ erhalten, denn die Leute führen auch einen Laden.«
»Für die Großmutter?« konnte ich nicht umhin, fragend einzuwenden,
»Ach ja, ich vergaß; für die Großmutter hatten Sie nichts in Aussicht genommen, obgleich dieselbe die Respektsperson im Hause ist und alles nach ihrer Pfeife tanzt. Wenn die das bewußte Altertümchen nicht ablassen will, dann kriegt es nicht mal der Kaiser von Marokko.«
»Na, was würde,« fragte ich ziemlich kleinlaut, »denn der alten Dame wohl willkommen sein?«
»Ach, Herr, wenn Sie denn so gut sein wollen, so versuchen Sie es mit einem halben Pfund Schnupftabak. Und da es sein könnte, daß Großmutter das Altertümchen als Schnupftabaksdose benutzt, so fügen Sie eine billige Dose von Birkenrinde hinzu!«
Das Altertümchen als Schnupftabaksdose entweiht! Häßlicher Gedanke! Ich bewilligte für die alte Großmutter sofort Schnupftabak und eine Birkenrindendose.
Wir traten in den »Weißen Hahn,« und da meine Brüder Theodor und Ludwig ebenfalls einer Erquickung bedurften, so bestellte ich für uns alle Kaffee, obgleich es eigentlich Mittagessenszeit war.
Letzteres fiel uns drei Brüdern plötzlich schwer auf die Seele. »Was wird die gute Tante sagen, wenn wir heute nicht bei Tisch erscheinen?« Doch an ein Umkehren war jetzt nicht mehr zu denken. Und am Abend, bei unsrer Heimkehr, ja dann machte das Reliquienkästchen mit Emailleverzierungen alles wieder gut; über der Bewunderung des Schatzes würden Tadel und Vorwürfe ob unsres Ausbleibens verstummen.
Nachdem ich in dem Ladengeschäfte des »Weißen Hahns« meine Einkäufe für die Familie des guten Landmannes gemacht hatte, wollten wir uns in das Gastzimmer begeben, als ich gewahrte, daß der biedere Landmann selbst einen bunten Pfeifenkopf von Porzellan beliebäugelte und mit seinen schwieligen Händen zärtlich betastete. Ich merkte die Absicht, zumal der Bescheidene sich ganz entzückt über die schönen »Vergißmeinnichtblümchen« äußerte, die in Form eines Straußes auf den Kopf gemalt waren, nebst dem Spruche:
Weißt du, was dies Blümchen spricht?
Lebewohl! Vergißmeinnicht!
»Vergißmeinnichtblümchen,« bemerkte der Alte, »die sind fürs Andenken.«
»Und Sie möchten gern so ein Andenken von mir haben ?« fragte ich mit dem Humor der Verzweiflung,
»Ach, junger Herr, Sie sind schon gar zu gut; Sie drängen mir ja förmlich Geschenke über Geschenke auf!«
Für fünfundsiebzig Pfennig wurde der Vergißmeinnichtkopf (er hatte auch einen »echten« Goldrand, was ihn so teuer machte) das Eigentum des harmlosen Landmannes und stiftete mir in seinem Herzen ein Andenken,
Fürwahr, er war »nicht ohne«, dieser schlichte Landmann! Es steckte Spekulationsgeist in ihm, und er hätte eigentlich Krämer sein sollen. Mein Respekt vor seinem Geiste sollte übrigens noch gesteigert werden.
Als wir in der Wirtsstube um den runden Tisch herum saßen und auf den Kaffee warteten, bemerkte ich, daß unser Bäuerlein angestrengt nach der Küche hin lauschte. Auf einmal ging ein Verklärungsschimmer über sein Gesicht, worauf er sagte: »Wir werden einen guten Kaffee bekommen; ich hab' gezählt, daß die Mühle wohl hundertmal herumgegangen ist.«
Nun wird's Zeit, dachte ich, daß du deinen Handel mit dem Manne abschließest; eine solche Schlauheit wie mit dem Lauschen nach den Umdrehungen der Mühle läßt das Schlimmste befürchten!«
»Hört mal, Papa,« begann ich, »wollen wir nicht kurze Sache machen? Ich bin von Natur ein wenig ungeduldig und liebe ein glattes, kurzes Geschäft, Ich habe Euer Altertümchen noch nicht gesehen, weiß also nicht, ob es wertvoll oder wertlos ist; gleichwohl kaufe ich es auf mein Risiko. Seid Ihr mit zwei harten, runden Talern zufrieden?«
Der Bauer guckte seinen Vergißmeinnichtkopf an, den er gleich in Brand gesetzt hatte, kratzte sich dann mit der rechten Hand seinen eigenen Kopf und sagte: »Na, weil Ihr, junger Herr, so splendid gegen mich und meine Familie gewesen seid, sollt Ihr das Altertümchen für zwei Taler haben, wenn Ihr noch eine Mark darauf legt,«
»Also für sieben Mark?«
»Und fünfzig Pfennig für Tabak!«
»Nun ist's aber gut! Keinen Pfennig mehr! Sieben Mark fünfzig Pfennig, da sind sie! Das Altertümchen gehört mir!«
Das Bäuerlein strich die schönen blanken Münzen schmunzelnd ein und machte sich dann über den Kaffee her, der in diesem Augenblicke in einer mächtigen Zinnkanne aufgetragen wurde. Auch Brot und Butter war dabei. Statt des Mittagessens mußten wir Brüder uns mit diesen Dingen begnügen – alles fürs Altertümchen!
Ich war doch froh, daß ich das Emaillekleinod für einen so billigen Preis errungen hatte. Man denke nur: das Reliquienkästchen des Onkels hatte bare dreitausend Mark gekostet!
Der Preis der Zeche war für ein Dorfwirtshaus durchaus nicht bescheiden, und ich fühlte meine Kasse bis auf wenige Nickelmünzen erleichtert.
Wir packten wieder auf – im eigentlichen Sinne des Wortes, indem wir Brüder abwechselnd das Paket mit den Holzschuhen, der Schürze, dem seidenen Bande, dem Schnupftabak und der Birkenrindendose trugen. Wir wollten uns bis zuletzt dem Besitzer des Altertümchens gefällig erweisen. Heiß brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel hernieder, und die von unsern Tritten aufgewühlten Staubwolken drangen uns wie Schnupftabak in die Nasenlöcher, wie Zahnpulver zwischen die Zähne. Dabei umtanzten uns Schwärme von Mücken und Stechfliegen mit ihrem Gesumm und Gebrumm. Wir wünschten sehnlichst das Ende unsrer Fahrt herbei.
Endlich, endlich tauchte zwischen einer Baumgruppe ein grauer Brettergiebel und ein schwarzer Schornstein auf; das sei sein Häuschen, bemerkte der Bauer. Neuer Mut belebte unsre Glieder: noch eine kurze Spanne Zeit, und wir Brüder sollten ein Kleinod des Mittelalters in unsern Händen wiegen!
Die Kinder kamen uns schon entgegengelaufen, barfüßig und zerlumpt. Anton und Trina mußten auf Geheiß des Vaters den »fremden Onkels« ein Händchen geben; die fremden Onkels waren gar nicht erbaut davon, da die Händchen sehr schmierig waren; wir zogen uns mit der List aus der Affaire, daß wir die Händchen nur am Puls umspannten. Nun wollte der Alte den Kindern sofort die Geschenke einhändigen. Eine neue Probe für unsre Geduld! Das Paket wurde feierlich langsam vom Papa losgeschnürt und Anton mit seinen Holzschuhen, Trina mit ihrer Schürze belehnt. Wer war froher, als das Geschwisterpaar? Die beiden liefen gleich Windhunden nach dem Häuschen unter den Linden, um der Mutter und Großmutter die frohe Mär zu überbringen. Wir schnürten das Paket notdürftig wieder zusammen. Kaum hatten wir die letzte Schlinge gemacht, als, auf einen Stab gelehnt, die achtzigjährige Großmutter herangekrochen kam. Da sie fast taub auf beiden Ohren war, so hatte das Bäuerlein fast eine halbe Stunde nötig, der alten Dame begreiflich zu machen, daß sie Besitzerin eines halben Pfundes Schnupftabak und einer neuen Birkenrindendose geworden sei. Abermals eine Geduldsprobe für uns! Dann mußte das Paket wieder losgeschnürt und das bezeichnete Geschenk herausgeholt werden. »Wie lange noch, Catilina, wirst du unsre Geduld mißbrauchen?« Endlich, endlich schritten wir über die Schwelle des Hauses.
Ein versöhnender Zug im Charakter unsres Landmanns war, daß uns sogleich frische Milch zur Labung angeboten wurde. Nein, nein, wir dankten, dankten mit Händen und Füßen; wir wären weder durstig noch hungrig; das Altertümchen möchten wir nur sogleich erhalten, darauf allein stehe all unser Sinnen und Verlangen. Sogleich, sogleich, meinte der Bauer, aber vorher müsse seine Frau doch auch ihr seidenes Band erhalten. Zum letztenmal ward also das Paket geöffnet. Die Augen der Frau erglänzten, als sie das hübsche Muster von blutroten Rosen und grasgrünen Blättern auf weißem Grunde erblickten; aber die Ueberrumpelte konnte durchaus nicht begreifen, was unser Besuch, was die Geschenke bezweckten. Der Bauer mußte also die ganze Geschichte erzählen, was er so weitschweifig vollführte, daß wir Jungens wie auf glühenden Kohlen standen. Endlich fiel von seiten des Erzählers das Stichwort! »Wo ist das Altertümchen?« worauf wir dreistimmig schrieen: »Ja, das Altertümchen, wo ist es? O, holen Sie es doch, liebe Frau!«
»Ja, wo steckt das?« meinte die Frau. »Ich hab' es wenigstens seit einem halben Jahre nicht mehr gesehen!«
»Ach, es ist doch noch im Hause?« fragten wir mit gepreßtem Herzen.
»Ja, wenn die Kinder es nicht wieder verschleppt haben!«
Die unglückseligen Kinder! Wir hätten sie durchbläuen mögen, obgleich ihre Schuld noch gar nicht mal erwiesen war.
Nachdem die Bäuerin einige Minuten nachgedacht, zog sie aus der Kommode ihrer besten Stube die oberste Lade, stellte dieselbe mitten auf die Dielen und begann den Inhalt auszukramen. Hunderterlei Gegenstände, als: alte Strümpfe, Garnknäuel, Nähnadelbüchsen, Knöpfe, Flicken, Halstücher, Kragen, Schürzen, verschrumpfte Aepfel und leere Pillendöschen lagen in tollem Wirrwarr auf dem Boden und noch immer ließ die Frau nicht nach, neue Gegenstände herauszuwerfen, nachdem sie dieselben flüchtig gemustert hatte.
»Das Altertümchen ist nicht darunter!« bemerkte der Bauer kleinlaut,
»Dann steckt es in der mittleren Kommodenlade!« sagte die Bäuerin.
Sofort zog sie diese Lade heraus, ohne die erste wieder einzuschieben. Nun flogen aus der zweiten Lade frisch gewaschene Hemden, Handtücher, Tischtücher und Betttücher, aber das, worauf es ankam, fand sich nicht.
»Sollte ich mich getäuscht haben?« murmelte die Frau etwas kleinlaut vor sich hin.
»Ja, du hast dich getäuscht,« sagte der Bauer ärgerlich.
»Dann steckt das Ding in der untersten Lade,« erwiderte die Frau. »Ich glaub' es sicher, denn in der untersten Lade pflege ich wichtige Sachen zu verbergen,«
Sie zog die unterste Lade heraus und stellte sie oben auf Nummer eins und zwei. Wie eine scharrende Henne die Erde kratzt, so kratzte – man verzeihe mir den Vergleich! – die Bäuerin uralte, längst quittierte Rechnungen, vergilbte Briefe und zerknitterte Tapetenreste aus der Schublade, aber das Altertümchen kam leider nicht zum Vorschein!
Das Thermometer unsrer Hoffnungen sank auf den Gefrierpunkt.
Der Bauer sagte verdrießlich: »Dann soll ich wohl die sieben Mark fünfzig wieder herausrücken müssen!«
»Sieben Mark fünfzig Pfennig hast du für das dumme Ding bekommen?« fragte staunend die Bäuerin. »Ja, dann muß es oben im Kleiderschranke stecken!«
Voran schritt sie, trotz ihrer Jahre, wie eine Walküre. Wir hinterdrein, gedrückt, gebückt, mit dem verglimmenden Reste unsrer Hoffnungen.
Ein kleines Kämmerchen im Zwischenstock nahm uns auf. Die eine Wand wurde durch einen zweitürigen Kleiderschrank ausgefüllt.
Alsbald riß die Frau beide Türen des Kleiderschrankes auf. Röcke, Hosen, Kleider, Mäntel, mit denen die Bäuerin sonst recht vorsichtig verfahren mochte, weil es der Sonntagsstaat der Familie war, wurden so mir nichts dir nichts auf die Dielen geschleudert, als in keiner Tasche und Falte das Altertümchen gefunden ward,
»Nun bleibt noch die untere Lade des Kleiderschrankes übrig!« bemerkte die Frau mit dumpfer Ergebung.
Kinderstrümpfchen, Schlabberbäffchen, Windeln, Hemdchen flogen durch die Stube. Da – ein Schrei! Und noch ein Freudenschrei! Etwas Blankes, Rundes, Buntes hielt die Frau in ihrer Rechten. Triumphierend schwenkte sie es einen Augenblick in der Luft. »Das ist es! Das ist es!« schrie der Bauer und schleuderte seine Mütze gegen die Stubendecke. Meine Pulse flogen, mein Herz klopfte zum Zerspringen; schnell wie der Blitz streckte sich mein Arm nach dem heiß ersehnten, mühevoll errungenen Kleinod aus. Die Bäuerin drückte mir dasselbe mit leuchtenden Augen in die Hand. Meine Brüder, Ludwig und Theodor, drängten sich an mich heran und streckten die Halse vor wie Schneegänse im Fluge. Was hielt ich denn in meiner Rechten?
Eine halbverrostete Blechdose – eine modernste Konservenbüchse – mit buntgedruckter Papieretikette und der Aufschrift:
Helgoländer Kronen-Hummer.
Nur Scheren und Schwänze.
Der Rest sei Schweigen. Unsre Altertümersammlung ist bei der einen echten Urne, die uns der Onkel geschenkt hatte, stehen geblieben. Ich habe vorläufig keine Lust mehr, zu sammeln.