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Eigentlich hieß er Ludwig Bullermann; seinen Spitznamen »Ludwig das Kind«, mit welchem ihn alle Mitschüler riefen, hatte er sich auf folgende Weise erworben.
Der Tertianer Ludwig Bullermann wurde eines Vormittags in der Mathematikstunde vom Professor Krüger an die Tafel gerufen, um den pythagoreischen Lehrsatz zu beweisen. Ludwig schritt mit einer Gebärde, als ob ihm dies das reine Kinderspiel sei, an die große schwarze Tafel, faßte zierlich die Kreide zwischen die Fingerspitzen, zog mit kühnen Strichen seine Figuren und begann mit geläufiger Zunge zu beweisen, während Professor Krüger, das Notizbüchlein in der Hand, seine großen goldgefaßten Brillengläser auf ihn richtete. Plötzlich stockte Ludwig: »Wenn nun – wenn nun« – suchte er sich über seine innere Verlegenheit hinwegzuhelfen, wobei er rot wie ein gekochter Krebs wurde, »wenn nun« – aber vergebens, er konnte den Nachsatz nicht finden. Da griff er, um die Pause der Verlegenheit auszufüllen – diese schreckliche Pause, wo man wünscht, in den Kartoffelkeller des Pedellen zu versinken, zu seinem Taschentuche; mit kühner Handbewegung zog er es aus der Tasche seiner Joppe und schleuderte einen wahren Regen jener kleinen Steinkügelchen, die man hier Märmel, dort Knicker, anderswo Schusser nennt, in die Klasse hinein, seinen Mitschülern auf die Bänke und seinem Professor vor die Füße. Die ganze Klasse brach unwillkürlich in ein schallendes Gelächter aus: es war zu komisch, ein Tertianer und spielt – noch mit Märmeln! Das Geheimnis der Joppentasche war verraten.
Professor Krüger blitzte mit seinen goldgefaßten Brillengläsern die Klasse an, streckte gebieterisch die Rechte aus –
Und Stille, wie des Todes Schweigen,
Liegt überm ganzen Hause schwer.
Dann richtete er seine Blicke auf die den Dielen zu teil gewordenen Märmel, die harmlos dem Fußgestell der Tafel zurollten, von diesen auf Ludwig Bullermann, dessen Gesicht zur Röte einer Pfingstrose erblüht war, und sprach mit lauter, langsamer Stimme die Worte: »Ludwig das Kind!« Nichts weiter. Hierauf beorderte er den Abgebrannten durch eine Kopfbewegung, in seine Bank zurückzukehren.
Professor Krüger wollte gewiß mit seiner Aeußerung dem Knaben keinen Spitznamen anhängen, aber die Mitschüler taten es. Der Name »Ludwig Bullermann« paradierte fortan nur noch auf den Heften Ludwigs, im Notizbuche der Herren Lehrer und auf den Zeugnissen des Schülers; im übrigen hieß der Junge »Ludwig das Kind«. Und leider müssen wir hinzufügen, trug Ludwig diesen Namen nicht mit Unrecht. Für einen Tertianer und für seine fünfzehn Jahre war er wirklich noch sehr kindisch. Der Fall mit den Märmeln hatte ihn nicht kuriert, seinem Sinne keine ernstere Richtung gegeben; im Gegenteil – –
Eines Nachmittags, zehn Minuten vor zwei Uhr, kurz vor der Geschichtsstunde machte Ludwig das Kind in den Zipfel seines rotbaumwollenen Taschentuches einen Knoten; in diesen Knoten schob er seinen Zeigefinger, dann drapierte er das übrige Taschentuch so um den Daumen und Mittelfinger, daß diese beiden zwei Aermchen bildeten. Indem Ludwig das Kind den Zeigefinger bewegte, nickte das Männchen mit dem Kopfe; sobald er Daumen und Mittelfinger rührte, gestikulierte das Figürchen mit den Armen. Die Mitschüler, welche diesem Spiel zusahen, lachten. Dieses Beifallsgelächter schmeichelte Ludwig dem Kind; er sprang aus der Bank und zog sich hinter den großen blechernen Ofenschirm zurück, reckte seinen rechten Arm so hoch, daß das Figürchen über den oberen Rand des Schirmes ragte, und begann nun in aller Form »Kasperletheater« zu spielen. »Ich bin der Tod! Dann brauchst du auch kein Brot u. s. w.« Einer der Zuschauer, die sich schüttelten vor Lachen, steckte dem Kasperle ein Lineal zwischen die Aermchen, worauf Kasperle begann, mit dem Holze auf den blechernen Ofenschirm zu klopfen. Es war eine heillose Musik. Das Lachen der Zuschauer steigerte sich zum Wiehern junger Fohlen. Doch:
Zwischen Lipp' und Kelchesrand
Webt der finstern Mächte Hand!
Die Zuschauer waren so vertieft in den Anblick der lustigen Posse, daß sie nicht merkten, wie der Geschichtsprofessor Helvetius das Klassenzimmer betrat, wie er auf sie zuschritt und plötzlich mitten unter ihnen stand. Der Herr Professor räusperte sich, ganz leise:
Und wie vom Sturm zerstoben,
Ist all der Hörer Schwarm –
das heißt, sie machten Miene, zu zerstieben, als eine gebieterische Handbewegung des Herrn Professors sie an ihre Plätze bannte. Der Professor lächelte, es war also auf einen Scherz abgesehen. Nur Ludwig das Kind, hinter seinem Ofenschirm verborgen, sah nichts, merkte nichts. Völlig von seinem Spiel hingerissen, fuhr er zu deklamieren fort:
»Ich habe Schweinebraten heut',
Wollt ihr mein Gast nicht sein?«
worauf Kasperle mit verstellter Stimme antwortete:
»Herrjemine, da stell' ich mich
In fünf Minuten ein!«
In demselben Moment bog Professor Helvetius seinen Kopf um den Ofenschirm herum. Die Wirkung kann man sich denken. Als hätte er das versteinerte Antlitz der Medusa gesehen, so erstarrte Ludwig das Kind. Vox faucibus haesit.
Professor Helvetius schüttelte den Kopf und wiederholte dieselben Worte, die einst der Mathematikprofessor Krüger gesprochen: »Ludwig das Kind,« Dann hieß er die Schüler auf ihre Plätze gehen, und der Unterricht begann.
So trug Ludwig durch wiederholtes Kinderspiel dazu bei, daß sein Spitzname von Zeit zu Zeit aufgefrischt und vollends befestigt wurde.
Der Name verblieb ihm auf der Untertertia, auf der Obertertia, auf der Untersekunda. Erst auf der Obersekunda machte sich bei Ludwig dem Kinde eine ernstere Richtung geltend. Erfüllte sich an ihm das Sprichwort: Aus Kindern werden Leute? Oder hatte der unter tragischen Umständen erfolgte Tod eines Mitschülers – Felix Förster war beim Schlittschuhlaufen durchs Eis gebrochen und vor den Augen seiner Mitschüler, die ihn nicht retten konnten, ertrunken – Einfluß auf unsern jungen Helden gehabt? Ludwig wollte dies freiwillig nicht bekennen; wenn ihn seine Mitschüler fragten: »Warum ist Ludwig das Kind so ernst geworden?« so pflegte er lächelnd auf den weißen Flaum zu deuten, der auf seiner Oberlippe sproßte, und den man, wenn die Sonne darauf schien, sehen konnte. »Ein Mann, der einen Schnurrbart hat,« sagte er dabei, »ist kein Kind mehr. Hört, Kameraden! mein Spitzname wird mir unbequem, ich fühle, daß ich mich seiner als Obersekundaner schämen muß. Nennt mich doch einfach Ludwig, oder Ludwig Bullermann!«
»Na, wenn dein Bart,« erwiderte Anton Oberkamp, »erst so weit ist, daß er nicht nur im Sonnenschein, sondern auch im Schatten sichtbar wird, so sollst du den Namen »Ludwig der Bärtige« erhalten.«
»Bis dahin,« lachte Heinrich Humperdink, »ist Ludwig längst vom Gymnasium abgedampft und ein Philister mit Cylinderhut und langem schwarzen Tuchrock!«
Der Spitzname »Ludwig das Kind« war unserm Helden in der Tat höchst fatal geworden, da derselbe den reifenden Jüngling an frühere Torheiten erinnerte. Ludwig sann und sann, wie er des unbequemen Namens ledig werden könnte. Aber kein Weg, kein Mittel wollte ihm erscheinen. Das Nachdenken grub sogar eine Stirnrunzel über seine Nasenwurzel – eine Denkerfalte, die nun völlig mit seinem Spitznamen in Mißklang stand.
Endlich, bei Gelegenheit eines Klassen-Exitus, machte sich die Sache. Die Obersekunda war mit ihrem Ordinarius, Herrn Professor Schrader, zur Lohmühle gezogen, hatte an endlosen Tischen Kaffee getrunken, neunzöllige Butterbrote gegessen und dann auf der Wiese verschiedene Turnspiele aufgeführt. In einer Pause trat Ludwig das Kind an den Herrn Professor heran und trug ihm mit leiser Stimme eine Angelegenheit vor. Der Professor nickte zustimmend. Da sprang Ludwig das Kind auf einen Heuhaufen und donnerte ein kräftiges »Silentium!« unter die Schar seiner Mitschüler.
»Still! Ludwig das Kind will reden!« hieß es.
»Nein,« erschallte es von andrer Seite, »Ludwig das Kind will ein Liedchen singen: Weißt du wie viel Sternlein stehen?«
»Silentium!« donnerte Ludwig noch einmal von seiner improvisierten Rednerbühne herab. Und es wurde still.
»Während wir hier, um unsern hochverehrten Herrn Ordinarius geschart,« hub Ludwig mit weithin vernehmlicher Stimme zu reden an, »so fröhlichem Spiele uns hingeben, während wir dort im Saale gleich den homerischen Helden die Hände erhoben zum lecker bereiteten Mahle, liegt drüben in der dumpfen Stadt, die wir für einige fröhliche Stunden verlassen, unser lieber armer Mitschüler Hubertus Grünewald auf seinem Krankenlager. Ihr wißt, daß er von einem schweren, fast hoffnungslosen Brustleiden befallen ist. Ich besuchte ihn gestern abend und empfing höchst traurige Eindrücke. Hubertus wandte mir ein bleiches, müdes Antlitz zu, und seine Mutter, eine arme Witwe, weinte in ihre Schürze. Aus ihren Worten konnte ich schließen, daß die materielle Not an die Tür des Häuschens gepocht hat. »Ach« seufzte die Mutter unter anderm, »könnt' ich meinem armen Sohne nur etwas Stärkendes bieten!« Mitschüler, Kameraden, Freunde! Wo der Mensch froh ist, soll er auch an diejenigen denken, die traurig sind. Ich schlage vor, daß wir von dem heutigen Exitus unserm armen Kranken jeder etwas Stärkendes mitbringen. Heute abend, nach der Heimkehr, tragen wir es dann im Dunkeln in das Häuschen der Witwe, denn die Nachbarn brauchen es nicht zu wissen. Ich hoffe, ein jeder von uns wird sich heute nachmittag beim Verzehren gern ein kleines Opfer auflegen. Nur im Opfer wohnt die Liebe. Nicht um mich zu rühmen, sage ich es, sondern weil ich als Redner die Verpflichtung fühle, mit gutem Beispiel voranzugehen: ich werde Hubertus Grünewald eine Flasche Wein mitbringen. Vivat sequens!«
Damit sprang Ludwig von seinem Heuhaufen herab. Ein allgemeines »Bravo! Bravissimo!« und Händeklatschen begrüßte ihn und bewies ihm das Einverständnis seiner Mitschüler.
»Ich kaufe vom Lohmüller eine Cervelatwurst für Hubertus Grünewald!« rief Paul Wiese.
»Ich verpflichte mich zu einem Dutzend Eier!« rief Eduard Steiner.
»Ein feines Landbrot sei meine Spende!« schrie der dicke Tonius Köster aus voller Lunge.
»Ich gebe eine zweite Flasche Wein!« rief Theodor Siewers.
»Ich eine dritte!«
»Ich eine vierte!« verkündete eine andre Stimme,
»Platz da für den großen Büffel!« rief der hünenhafte Karl Lauterbach, »ich spendiere einen ganzen geräucherten Schinken vom weißzahnigen Schweine!«
So tönte es noch eine Weile fort, bis ein halbes Proviantmagazin beisammen sein mochte. In dem beglückenden Gefühl, daß man etwas Gutes vollbringe, erinnerten Ludwigs Mitschüler sich desjenigen, der den Vorschlag zu diesem Werke der Mildherzigkeit gemacht. Es war »Ludwig das Kind!« Das Kind hatte sie alle beschämt. Aber Ludwig wollte gern seines fatalen Spitznamens ledig werden; nun wohlan, er sollte es. Der entscheidende Augenblick war gekommen.
Auf den verlassenen Heuhaufen schwang sich Robert Hufeland, der Primus der Obersekunda: »Silentium!« schmetterte er. »Genossen! Freunde! Unser Mitschüler Ludwig Bullermann hat uns soeben den Beweis eines edlen, ernsten, männlichen Herzens gegeben. Mit einem solchen Herzen steht aber im Widerspruch ein Name, welcher unserm Freunde seit der Knabenzeit anhaftet. Ich glaube mich zum Dolmetscher der Gesinnungen aller zu machen, wenn ich vorschlage, daß wir den Namen »Ludwig das Kind« feierlich begraben und einen andern an seine Stelle setzen. Es gibt in der Geschichte viele Ludwigs: Ludwig den Frommen, Ludwig den Springer, Ludwig den Strengen, Ludwig von Tarent, Ludwig den Bärtigen u. s. w.; aber darunter wollen wir nicht wählen, der eine Name paßt nicht, der andre könnte falsch ausgelegt werden. Nun ist noch da »Ludwig der Große«, König von Ungarn. Ich denke, wir ehren die Tat unsres lieben Freundes Ludwig Bullermann am würdigsten, wenn wir ihn fortan »Ludwig den Großen« nennen. Ich bitte, mir durch Akklamation eure Zustimmung zu erteilen!«
Na, das Beifallsklatschen hätte man hören sollen! Luft und Erde bebten und die Krähen fielen vor Schrecken von den Bäumen, welche am Saume der Wiesen standen, »Ludwig der Große, hoch!« erschallte es; »Ludwig der Große, hoch! Und zum drittenmal: Ludwig der Große, hoch!«