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Philemon und Baucis.

»Wo jetzt die Arbeiterbaracken stehen, war in meiner Kindheit ein Garten, der sich sehen lassen konnte. Recht verwildert war er freilich, und die Apfel- und Birnbäume sahen eigentlich aus wie alte Besen, die unser Herrgott jeden Sommer mit etwas Laub behing, als ein Wunder und Zeichen, daß er tut, was ihm gefällt. Aber er hängte auch Birnen und Apfel hinauf und ließ sie gute Ernte tragen, ob nun ein Obstjahr war oder nicht.

Mitten im Garten stand ein ziemlich großes, rotes, zweistöckiges Haus mit einem glockenförmigen dunklen Ziegeldach. Es mußte sehr alt sein; die Dielenbretter waren ellenbreit, die Schwellen ganze Baumstämme, die Türklinken fast zu schwer für meine Hände. An den Wänden des Saals waren holländische Kattuntapeten mit Blumenmustern, und da stand ein gewaltiger Kachelofen mit zwei Feuerstellen. Es war, wie man sagte, eine Wohnung für Standespersonen, und ich weiß nicht, für wen sie gebaut oder wie sie früher einmal verwendet worden war. Aber in meiner Kindheit wurde sie von Philemon und Baucis bewohnt, obgleich der Mann Erik gerufen wurde und die Frau Lovisa.

Wie ich mich seiner erinnere, war er etwa achtzig Jahre alt oder vielleicht noch älter, die Alte ungefähr ein Jahrzehnt jünger. Er war irgendeinmal Kutscher im Schloß gewesen, aber das war schon so lange her, daß niemand sich erinnern konnte, wann. Ein paar Spenden und Geschenke bekamen sie wohl, aber Unterhalt oder Pension genossen sie nicht. Die einzigen Tiere, die ich dort sah, waren ein Schwein, eine Katze und drei uralte, kahle Hühner, die alle miteinander nicht mehr als ein Ei im Jahr zusammenbrachten. Ein Gärtchen und ein Kartoffelfeld hatten sie natürlich, und der Alte hatte einen langen, schwarzen Rock, der noch vom Schloß stammte, und die Alte ein lilageblümtes Kleid mit einer Halskrause. Sie saßen in dem feinen Hause als Herrschaftsleute, und der Hausrat war auch danach, wenigstens in dem großen Saal, der der einzige Raum war, in den Leute geführt wurden. Da stand dann der Alte in Positur und empfing einen, wenn man ihm eine Tüte Schnupftabak brachte. ›Danke jedenfalls für die freundliche Aufmerksamkeit‹, sagte er dann, ›ich hoffe mich bei der lieben Frau Gräfin revanchieren zu können.‹ Und das tat er im Herbst, wenn er mit seinen wunderbaren Birnen kam. Da kriegte er Schnaps und etwas zum Zubeißen, aber nicht wie andre Leute in der Küche, sondern im kleinen Salon. Und da saß er und unterhielt die Gräfin eine Stunde lang, worauf er einen Korb mit Süßigkeiten für Lovisa mitbekam. Aber diesen Korb brauchte er aus irgendeinem Grunde nicht selbst zu tragen, sondern ein Mädchen oder ein Knecht wurde ihm mitgegeben, und er ging nie neben dem Mädchen oder dem Knecht, sondern ein paar Schritte voraus und hielt einen Stock in der Hand.

Niemand wußte, wie er so fein auftreten konnte, immer glattrasiert und mit Vatermördern um das breite Kinn. Niemand wußte auch, wer ihm und der Alten das Recht gegeben hatte, in dem großen Hause zu wohnen, das für ihren Stand und ihre Lebensumstände viel zu geräumig war. Die Gräfin stellte Nachforschungen an und fand, daß, als das Haus vor etwa dreißig Jahren leer gestanden hatte, die beiden Alten ganz einfach hineingezogen waren. Aber nun begann es in Larsbo knapp mit dem Raum zu werden. Die Gräfin ließ eine leerstehende Kätnerhütte im Walde für sie herrichten. Die hatte Küche und Kammer und war ganz nett; ein Gärtchen gehörte dazu, ein Stall, Obstbäume und Sträucher. Aber sie war ja in keiner Weise mit dem großen roten Hause zu vergleichen. Als die Gräfin dem Alten vorschlug, hineinzuziehen, lachte er ihr ins Gesicht und machte sich in höflicher, scherzhafter Weise über sie lustig. ›Nein, Frau Gräfin, damit dürfen Sie mir nicht kommen!‹ sagte er. ›Sonst müßte ich ja rein glauben, die Frau Gräfin ist nicht recht bei sich. Wie würde das denn aussehen, wenn wir in dieses Lausenest ziehen würden? Die Leute könnten ja glauben, daß es mit uns auf unsere alten Tage bergab gegangen sei! Nicht, daß ich mich viel darum schere, was da im Kirchspiel geschwätzt wird. Aber Lovisa hat ihre Gefühle! Und wenn ich mir erlauben darf, der Frau Gräfin in aller Bescheidenheit einen Rat zu geben: Verderben Sie sich's nicht mit der Lovisa!‹

Dabei mußte es vorderhand sein Bewenden haben. Der Alte spazierte zurück in das feine, alte Haus, flott, mit hochgetragenem Kopf und roten Backen zwischen den weißen Polissons. Und er hatte sich aus vielen Schwierigkeiten gezogen und bei so manchen Gelegenheiten seinen Willen durchgesetzt, indem er sagte: ›Darf ich einen Rat geben? Verderben Sie sich's nicht mit der Lovisa!‹

Aber Lovisa war ein kleines, altes Mütterchen mit großen runden Augen, großem rundem Kopf und kleinem rundem Körper. Sie war so urbescheiden, daß man beinahe glauben konnte, sie hätte die Sprache verloren. Sie sagte nie ein böses Wort, und das viele Gute, was sie sagte, bestand hauptsächlich in zärtlichen, entzückten Ausrufen. Es gab keine Reibungsfläche, um bei ihr anzustoßen, und das wußte der Alte wohl am besten, der sie regierte, wie der Hahn die Henne regiert. Er selbst war munter und gutmütig, und wenn wir Kinder in seinem Garten Obst stahlen, tat er immer, als sähe er uns nicht, falls wir nicht gar zu früh am Morgen kamen. Er hatte eine entsetzliche Morgenlaune, und das soll der Grund gewesen sein, weshalb er als Kutscher seinen Abschied bekam. Dies hatte zur Folge, daß wir Kinder sein Obst mit Vorliebe des Morgens stahlen, und selbst die Faulsten unter uns konnten der Versuchung nicht widerstehen, sondern krochen schon um sechs Uhr früh aus den Federn, um bei Erik zu stehlen. Da huschte er unter den Bäumen mit einer Peitsche herum und knallte nach uns. Meine Beine waren oft gestreift und geschwollen. Ob die Alte auch die Peitsche zu kosten bekam, das weiß ich nicht, ich glaube es kaum. Denn wenn er in dieser Laune war, pflegte er eine Art schrillen Pfiff auszustoßen, der, meiner Meinung nach, ein Warnungssignal für die Alte war. Und ich hörte ihn auch rufen: ›Weib, bleib mir vom Leibe! Ich habe den Teufel im Herzen und die Peitsche in der Hand!‹

Derlei begab sich des Morgens; sonst war er fromm und fröhlich. An der Alten hatte er nichts auszusetzen, nur drei Dinge: erstens das heftige Temperament, das sie seiner Behauptung nach hatte. Aber das war eine offenkundige Lüge. Zweitens, daß sie sich in den Unterrock schneuzte. Das war wahr und wurmte ihn um so mehr, als er behauptete, der einzige wirkliche Unterschied zwischen besseren und minderen Leuten läge im Taschentuch. Er hatte selbst die allerfeinsten Batisttücher mit dem Monogramm meines Großvaters und der Grafenkrone. Manche behaupteten, er habe sie gestohlen; aber wahrscheinlich ist, daß er sie nach Großvaters Tod bekommen hat, als die ganze Wäsche unter die Leute verteilt wurde. Der dritte Vorwurf bestand darin, daß die Alte ihm nicht auf der Stelle parierte und seinen Wünschen nicht augenblicklich nachkam. Das war teilweise richtig, denn die Alte war taub und verstand sehr schwer, was er zu ihr sagte. Seiner Meinung nach hätte sie aber in fünfzig Jahren seine Mienen und Gebärden schon verstehen lernen müssen. Er exerzierte und übte täglich mit ihr, ohne daß sie nennenswerte Fortschritte machte. Das betrübte sie beide, aber meiner Meinung nach lebten sie ganz glücklich miteinander.

Dann begann jedoch das Torfausstechen in großem Maßstab, und der Raum in Larsbo wurde immer knapper. Der Verwalter lag meiner Tante in den Ohren und redete ihr zu, die beiden Alten zu delogieren und ins Armenhaus zu schicken, da sie sich in ihrem Starrsinn nicht mit der Waldhütte begnügen wollten. Das widerstrebte ihr jedoch, und sie fand einen anderen Ausweg. Die Alten hatten zwei Töchter, die beide sehr gut verheiratet waren, die eine mit einem Rauchfangkehrermeister in Örebro und die andere mit einem Kupferschmied in Arboga. Als die Gräfin einmal in Örebro war, ließ sie den Rauchfangkehrermeister kommen und machte ihm den Vorschlag, die Schwiegereltern zu sich in Kost und Quartier zu nehmen gegen angemessene Vergütung und einen entsprechenden Unterhaltsbeitrag, in Anbetracht ihres hohen Alters war es ja auch wünschenswert, daß sie Pflege und Aufsicht hatten. Der Rauchfangkehrermeister hatte nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden, was die Alte betraf, aber der böse Morgenhumor des Alten schreckte ihn ab. Er sagte: ›Mein Schwager in Arboga ist Kupferschmied und ein Teufelskerl, der fürchtet sich vor nichts. Wenn er den Alten nehmen will, so nehme ich gerne die Alte.‹

Sie wurden einig, und der Rauchfangkehrermeister und der Kupferschmied wurden ebenfalls einig. Die Zeit der Abholung wurde auf einen Tag im Spätsommer festgesetzt, an dem die beiden Alten die goldene Hochzeit feiern sollten und die Töchter und Schwiegersöhne ohnehin die lange Reise unternommen hätten, um ihnen eine Freude zu bereiten. Da der Alte ein Dickschädel war, beschloß man, die Sache bis auf weiteres geheimzuhalten. Meine Tante sagte also den beiden Leutchen noch nichts, und als der bedeutungsvolle Tag herankam, verreiste sie, nachdem sie noch zuerst verfügt hatte, daß die goldene Hochzeit mit allem erdenklichen Prunk und auf ihre Kosten gefeiert werden solle.

Gegen zwölf Uhr am Tage der goldenen Hochzeit begaben wir uns in das feine, alte Haus. Ich, die ich sieben oder acht Jahre alt war, repräsentierte meine Tante, war weiß gekleidet und hatte einen Blumenkranz im Haar und einen großen Blumenwedel in der Hand, und in den Blumen steckte ein Kuvert mit Geld. Gleich nach mir kamen alle Honoratioren des Gutes, der Verwalter und die Buchhalter, der Großknecht und der Kutscher mit ihren Frauen, die Hausmamsell und die Kammerjungfer. Ferner fanden sich der Küster und der Schullehrer und die Schullehrerin und vielleicht noch einige andere ein, aber lauter bessere Leute. Ein paar Mädchen trugen große Körbe mit allerlei Gottesgaben.

Der Alte im schwarzen Rock und galonierter Kutschermütze stand mitten im Garten und neben ihm seine Frau. Große, rotgelbe Birnen und rosagrüne Äpfel hingen an schweren Zweigen über ihren Köpfen. Der Alte nahm unsere Huldigung mit angemessener Überraschung entgegen, artig und würdig; die Alte schmunzelte und piepste vor Dankbarkeit und Glück. Ein Tisch wurde zwischen Himbeer-, Johannisbeer- und Stachelbeerbüschen gedeckt, und wir ließen uns nieder und guckten nach der Straße. Und plötzlich wirbelte eine Staubwolke auf, und aus der Staubwolke kam mit Rasseln und schmetternden Hufen der Larsboer Char à bancs, bekränzt und mit dem gleichfalls bekränzten Kupferschmied auf dem Kutschbock. Im Wagen saßen der Rauchfangkehrermeister, die Töchter und einige Kinder und Enkelkinder. Das Ganze schwankte, schlingerte und schlängelte sich; denn der Fuhrmann war mehr heiter als gewandt, und im Rucksack befand sich ein Fünfzehnliterkrug mit Branntwein und ein anderer mit Punsch. Wir Landleute waren still und sittsam gewesen und hatten über das Wetter gesprochen. Aber Städter wie diese sind vergnügter und beherzter und benehmen sich frei. Der Kupferschmied umarmte alle Anwesenden, und mich küßte er, so daß mir seine Bartstoppeln Löcher in die Haut stachen. ›Häßlich bist du‹, sagte er, ›aber jetzt hab' ich doch auf jeden Fall eine kleine Gräfin geküßt!‹

Wir setzten uns um den Tisch und aßen und tranken. Der Kupferschmied gab mir ein Glas Punsch, und gleich wurde mir so wirr im Kopf, daß ich nichts mehr deutlich sah und hörte. Arme und Beine, Köpfe und Hände tanzten vor mir zwischen den Birnen und Äpfeln unter dem Himmel herum. Aber als ich wieder zur Besinnung kam, fiel mein Blick auf die beiden Alten. Sie stand da und zog ihn am Rockärmel, und er zog nach seiner Seite, so daß sie hin und her wackelten. Der Alte schrie:

›Nein, ich will nach Arboga! Und das paßt für mich, denn das ist eine feine Stadt. Da werde ich über die breiten Straßen gehen und mich in den großen Auslagescheiben spiegeln, denn ich habe das Bauernland satt und dich auch, du altes Bauernweib!‹

Und er wendete sich an die andern und sagte: ›Glaubt ihr, ich habe ihr in all den fünfzig Jahren beibringen können, sich wie ein Mensch zu schneuzen?‹

›Schneuz dich!‹ brüllte er der Alten ins Ohr. ›Der Rotz rinnt dir herunter!‹

Das war richtig, denn die Alte weinte bitterlich. Jetzt hob sie sofort den Rand des Unterrockes auf und schneuzte sich.

›Seht ihr's! Seht ihr's! Seht ihr's!‹ triumphierte der Alte. ›Drei Sachen habe ich ihr nicht beibringen können, obwohl ich jetzt fünfzig Jahre mit ihr geübt und exerziert habe: sich zu schneuzen wie ein Mensch, im Moment zu parieren und ihre böse Zunge im Zaum zu halten. Nein, jetzt habe ich dich aber übersatt, Lovisa! Fahr du nur nach Örebro! Ich fahre nach Arboga!‹

Die Alte zerrte und weinte und weinte und zerrte, und schließlich gelang es ihr, ihn ins Haus zu bugsieren. Das letzte, was ich von ihnen hörte, war der Alte, der schrie: ›Bis hierher hab' ich dich, Alte! Hab' ich's nicht fünfzig Jahre mit dir ausgehalten, und jetzt gönnst du mir nichts? Gönnst mir nicht, nach Arboga zu kommen! Aber das werd' ich! Und herrlich und in Freuden leben! Werd' ich!‹

Mehr bekam ich von Philemon und Baucis nicht zu hören und zu sehen, denn die Kammerjungfer meiner Tante nahm mich eiligst bei der Hand und führte mich nach Hause. Vermutlich war die Gesellschaft etwas zu lebhaft geworden. Aber als es am allerlustigsten zuging, soll der Alte wieder herausgekommen sein, verlegen und ernst. Er zog seinen Schwiegersohn, den Kupferschmied, beiseite und erklärte, das Ganze sei nur ein Spaß gewesen. Weder würde er nach Arboga fahren noch die Alte nach Örebro, sondern sie würden in ihrem Hause verbleiben, die Tage, die ihnen noch beschieden seien. Da wurde der Kupferschmied zornig, und er sagte:

›Wenn du dickschädlig bist, Alter, dann werden wir gleich zusammenpacken. Und das müssen wir ohnehin, da wir in aller Frühe, um fünf Uhr, aufbrechen sollen.‹

So gingen sie denn ins Haus, die Töchter und die Schwiegersöhne und die andern, und begannen zu packen. Der Verwalter ließ einen Leiterwagen vorfahren, und in den wurde der Hausrat gestopft. Und der Verwalter sagte:

›Es ist der Befehl der Frau Gräfin. Da habt ihr's, weil ihr nicht in der Waldhütte wohnen wolltet.‹

Nun ging die Alte von dem einen zum andern, von den Töchtern zu den Schwiegersöhnen, vom Verwalter zum Küster, vom Schullehrer zur Hausmamsell. Sie gab jedem die Hand, und zu jedem sagte sie, während sie immerzu weinte:

›Ach, du liebes Herrgöttle! Könnt ihr denn nicht verstehen?‹

Der Schulmeister sagte: ›Was können wir nicht verstehen? Sollen alte Leute so närrisch sein, daß sie nicht ein jedes in seiner Stadt wohnen können? Wenn es nur zu ihrem Besten ist und sie die zärtlichste Pflege von Kindern und Kindeskindern haben?‹

Aber die Alte hatte keine anderen Worte als diese: ›Könnt ihr denn nicht verstehen! Könnt ihr denn nicht verstehen!‹

Und der Alte stand wortlos vor dem Umsturz, schwer nach dem Mittagsrausch. Wußte schließlich nichts Besseres, als seinen alten Kniff anzuwenden und zu sagen: ›Darf ich einen Rat geben? Verderben Sie sich's nicht mit der Lovisa!‹

Da konnten sie nicht umhin zu lachen, aber sie waren auch gerührt von der Hilflosigkeit der beiden Alten; sie umarmten sie und streichelten sie, und unterdessen packte man fertig. Als diese Arbeit erledigt und die Alte endlich verstummt war und der Alte mit ihr, wollte der Kupferschmied, daß es wieder lustig werde, da es ja doch auf jeden Fall ein Festtag war. Die beiden Alten wurden bekränzt, der Rauchfangkehrermeister hielt eine Rede auf sie und pries ihre Treue und Liebe; die Töchter und die Kinder setzten sich zu ihnen und hätschelten sie. Sie ließen es geschehen; aber als sie ein Weilchen so gesessen hatten, standen sie auf, und der Alte sagte:

›Sollen wir beizeiten fahren, so ist es am besten, daß wir auch beizeiten zu Bett gehend!‹

Sie gingen in das Haus hinein, wo man ihnen ein Bett für die Nacht stehengelassen hatte. Im Garten dauerte das Fest fort, und da die Hausmamsell mit freigebiger Hand dafür gesorgt hatte, hörte die Freude nicht so bald auf. Sie waren vergnügt, bis plötzlich eines der Enkelkinder gelaufen kam und rief:

›Schaut! Großvater und Großmutter! Schaut! Großvater und Großmutter dort auf dem Weg!‹

In einiger Entfernung sah man über den Weg den alten Mann und die alte Frau gehen, und zwischen sich schoben und zogen sie einen Karren, und auf dem Karren stand das Bett. Sofort stürzten sie ihnen nach und hatten sie bald eingeholt. Sie schrien und riefen durcheinander, einige ärgerlich, andere gerührt, wieder andere lachend. Aber der Alte sagte:

›Jetzt gehen wir ins Waldhäusel. Wollt ihr uns das auch nicht gönnen?‹

›Das gibt's nicht!‹ sagte der Kupferschmied. ›Wir haben mit der Frau Gräfin alles mit Wort und Handschlag abgemacht, und da läßt sich nichts ändern.‹

Er nahm den Alten beim Arm, ganz wie ein kleines Kind, der Rauchfangkehrermeister nahm die Alte, und die andern nahmen den Karren. Dann schlossen sie sie in das Haus ein. Das Fest dauerte fort, bis es Zeit wurde, zu Bett zu gehen. Die Städter hatten Unterkunft im Herrenhof gefunden, aber eine der Töchter blieb zurück, um über die beiden Alten zu wachen, die ins Bett gekrochen und eingeschlummert waren. Sie richtete sich ein Lager neben dem ihren und hielt sich eine gute Weile wach. Da sie nichts anderes von ihnen hörte als ein gleichmäßiges Schnarchen vom Vater und ein Schnüffeln von der Mutter, überließ sie sich auch dem Schlummer und schlief eine Stunde lang. Mitten in der Nacht erwachte sie und fand das Bett der beiden Alten leer. Nachdem sie vergeblich gerufen und gesucht hatte, eilte sie in das Schloß hinauf und weckte die Ihren. Sie begaben sich wieder den Weg zum Waldhäusel hinauf und waren noch nicht lange gegangen, als sie sie einholten. Der Alte lag der Länge nach quer über dem Weg, und die Frau saß am Straßenrand, seinen Kopf auf ihrem Schoß. Als sie sah, daß die Kinder wieder über ihr waren, begann sie ihren Mann zu schütteln und an ihm zu zerren, aber er erwachte nicht. Die Kinder nahmen ihn in die Mitte und trugen ihn nach Hause, die Frau folgte stumm nach. Der Körper des Alten war eiskalt, und die Kinder glaubten, er liege im Sterben. Aber nachdem sie ihn abgerieben und mit heißen Breiumschlägen erwärmt hatten, spürten sie, daß Herz und Puls normal schlugen. Ihn erwecken konnten sie jedoch nicht. Man holte einen Arzt und einen weisen Mann und eine kluge Frau und alles, was es in der Gegend an Einsicht und Verstand gab, aber ihn erwecken, das konnten sie nicht. Die beiden Schwiegersöhne mußten in ihre Städte und zu ihren Berufen zurückkehren. Die Töchter blieben da, um das Erwachen des Greises abzuwarten.

Er schlief fünf Tage und fünf Nächte hintereinander, und sein sonderbarer Zustand erregte allgemeines Staunen. Denn obgleich Herz und Lunge normal arbeiteten, schienen alle anderen Funktionen des Körpers aufgehoben zu sein. Die Töchter betrauerten ihn schon als tot, und seine Frau vergoß hier und da ein Tränlein, ohne doch jenen fassungslosen Schmerz zu zeigen, den man erwartet hatte. Das war auch ein Rätsel. Und beides fand seine Erklärung gleichzeitig in der sechsten Nacht. Die eine Tochter, die in dem Zimmer neben der Schlafkammer der Alten schlief, wurde nämlich von einem klirrenden Geräusch geweckt. Sie horchte, aber als sie keinen weiteren Lärm hörte, glaubte sie geträumt zu haben; sie stand immerhin auf und öffnete einen Türspalt. Im Bette saß der Alte kerzengerade und, nach seinem Gesicht zu urteilen, in seiner fürchterlichsten Morgenlaune; auf dem Boden lag die Alte auf den Knien und klaubte gekochte Kartoffeln und die Scherben einer Schüssel auf. Und sie flüsterte: ›Schau, schau! Laß gut sein! Morgen kommt die Frau Gräfin zurück, und dann brauchst du nicht mehr daliegen und Komödie spielen und kannst was Ordentliches zu essen kriegen.‹

Das Geheimnis war verraten, und die Falschheit des Alten und die List der Alten waren enthüllt, denn sie soll es ausgeheckt haben, daß der Alte sich scheintot stellen solle. Aber da er schließlich der mageren Kost, die sie ihm zustecken konnte, überdrüssig geworden war, hatte er ihr einen Stoß versetzt, daß ihr die Schüssel aus den Händen geflogen war. Nun wollten die Töchter sich wieder ins Mittel legen und die beiden Alten jedes in seine Stadt spedieren. Meine Tante kam jedoch am selben Tag an. Sie ließ im Hause die alte Ordnung wiederherstellen und verbot jedem, Philemon und Baucis zu beunruhigen. Kaum hatte sie dieses Verbot ausgesprochen, als der Alte auf seinen Beinen stand, frisch und munter. Doch währte die Freude nicht lange, denn schon am Tage darauf lag er in seinem Bett, und jetzt führten sich weder Herz noch Lunge so auf, wie sie sollten. Die Spannung war vorüber, der Wille war erschlafft, und der alte Körper gab nach.

Eines Tages, als es zu Ende ging, ließ er meine Tante holen. Sie saß lange und geduldig bei ihm, aber sie konnte aus ihm nicht herauslocken, was er eigentlich wünschte. Schließlich sagte er: ›Die Frau Gräfin darf nicht mich fragen, sondern die Lovisa! Denn sie führt das Regiment. Und verderben Sie sich's nur nicht mit ihr, Frau Gräfin!‹

Da ging meine Tante in die Küche hinaus, wo die Alte herumwirtschaftete, und fragte sie, was sie beide wünschten.

›Ach, ach!‹ jammerte die Alte. ›Hat er es denn noch nicht gesagt? Es ist nichts anderes, als daß die Frau Gräfin sich mit dem Begräbnis nicht beeilen möge, so daß wir alle zwei auf einmal unter die Erde kommen. Das wünschen wir, wenn die Frau Gräfin so gut sein will, nicht zu pressieren, obwohl Sommer ist. Und lange dauert es ja ohnehin nicht.‹

Meine Tante versprach alles, was gewünscht wurde, denn sie glaubte, daß der eine phantasiere und die andere an ihrem Verstand Schaden genommen habe. Aber zwei Tage, bevor der Alte starb, erkrankte die Frau an einer Lungenentzündung, und zwei Tage nach seinem Tode starb auch sie. Da nun die beiden Alten jeder das seinige getan, tat auch meine Tante das ihre und sorgte für ein anständiges und schönes Begräbnis.

Philemon und Baucis flehten um die Gnade, gleichzeitig sterben zu dürfen. Ich glaube nicht, daß es Erik und Lovisa in den Sinn gekommen wäre, eine solche Bitte zu tun. Aber als sie beide das Ende nahen fühlten, fanden sie es klug und wohlgetan, das Begräbnis so einzurichten, wie es dann geschah. Aber trotz dieser Verschiedenheit nenne ich sie Philemon und Baucis. Und damit schmeichle ich niemand und schmähe ich niemand.«

 

Während Lotte Brenner ihre Geschichte erzählte und sie mit rufzeichenförmigen Rauchwolken punktierte, stand Frau Olga von den übrigen abgewendet da und trat sachte von einem Fuß auf den anderen. Sie mußte ein Geständnis ablegen, und sie wußte, daß es mit brausender Empörung aufgenommen werden würde. Sie sagte sich selbst, daß sie ein selbständiges Wesen sei, das auf niemanden Rücksicht zu nehmen brauche, aber das half ihr herzlich wenig. Ihre Knie knickten ein; sie sank auf einen Sessel. Sie stammelte und sagte mit aufeinanderschlagenden Zähnen:

»Ju – Jungens! Ich habe euch etwas zu sagen.«

Sofort lauschte man aufmerksam, denn wenn ein Willmanmädchen die Menschheit mit dem Kollektiv Jungens anruft, dann ist ihre Mitteilung von Gewicht, und ihr seelisches Gleichgewicht ist erschüttert. Mit gefestigterer Stimme fuhr sie fort:

»Ihr werdet schreien und toben, aber das macht mir gar nichts. Das kann meinen Entschluß nicht beeinflussen. Ich bin ein selbständiges Wesen. Das gedenke ich jetzt zu zeigen. Jan-Petter hat mir nicht gestattet, an der Führung des Gutes teilzunehmen –«

»Jan-Petter«, unterbrach der Pastor, »war in mancher Hinsicht ein verständiger Mann und guter Ehegatte. Nichtsdestoweniger sagt mir meine Erfahrung als Mensch und als Seelsorger, daß die kleine Gnädige sich wieder verheiraten sollte.«

»Da hat Jan-Petter einen Riegel vorgeschoben«, bemerkte Dr. Karolina trocken. »Bei ihrer Wiederverheiratung fällt Larsbo an Ludwig. Das wäre ein großer Verlust.«

»Namentlich für die Willmänner«, höhnte Ludwig, dessen Laune infolge Britas energischem Augenflirt mit dem Pastorssohn unablässig verdüstert wurde. »Meine erste Maßregel wäre, die entsetzlichen Mädels auszumieten, mit Ausnahme von Ollo selbst, die sittlich unantastbar und ein netter Kerl ist.«

»Jan-Petters Testament«, fuhr Dr. Karolina mit Nachdruck fort, »gereicht Larsbo zum Vorteil. Solange Olga unverheiratet ist, wird sie Casimir Brut als Verwalter behalten. Und das Gut kann in keinen besseren Händen sein. Hätte Olga das Recht, wieder zu heiraten, würde sie vielleicht an irgendeinen jungen Taugenichts geraten, der Larsbo zugrunde richten würde.«

Frau Olga streckte ihre Zeigefinger in die Höhe und rief:

»Ich war doch die, die reden sollte!«

Und da niemand ihr das Recht bestritt, fuhr sie fort:

»Ich bin ein selbständiges Wesen –«

»Das haben wir gehört«, paffte Lotte. »Ich finde Jan-Petters Testament unsittlich. Erst dreißig Jahre alt sein und nicht wieder Heiraten dürfen! Man denke an die Folgen!«

»Ich bin ein selbständiges Wesen!« wiederholte Frau Olga mit erhobener Stimme und Tränen in der Kehle. Nun unterbrach sie Ludwig, sagend:

»Die große Katharina von Rußland war auch ein selbständiges Wesen und durfte auch nicht wieder heiraten, wie man mir gesagt hat. Die Folge war ein Aus- und Einlaufen von diversen Mannspersonen, ärger als in irgendeiner Magdkammer –«

Frau Olga sagte: »Wollt ihr zuhören oder nicht?«

Und da alle ihre Bereitwilligkeit beteuerten, fuhr sie fort:

»Die Familie hat mich immer als eine Null betrachtet, aber ich gedenke jedenfalls zu zeigen, was ich leisten kann. Ich gedenke das Gut selbst zu verwalten. Ich gedenke gewisse Reformen einzuführen. Die Moral in Larsbo ist derart, daß sie Anstoß erregt. Ich bin nicht engherzig, aber ich sehe ein, daß diese laxe Moral eine ernste Gefahr bedeutet. Ich will den Geist des Hauses reformieren. Das wird meine Lebensaufgabe sein.«

»Gedenkst du ein Missionshaus zu bauen?« fragte Dr. Karolina, »und mit dem Spillebodaer zusammenzuarbeiten?«

Frau Olga fauchte: »Meine Methode basiert auf psychologischen Beobachtungen. Sie wird rein wissenschaftlich sein.«

»Und was willst du erreichen?« fragte die Magenärztin.

Frau Olga erwiderte mit Nachdruck: »Erhöhte Arbeitsintensität, verringerte Betriebskosten, verdoppelten Ertrag!«

Da verneigte sich der Herr Generalagent bis zur Erde vor der tüchtigen Frau.

»Jetzt höre ich, daß die Gnädige den richtigen Weg eingeschlagen hat! Verringerte Kosten und verdoppeltes Netto ist ein sehr gesundes Prinzip.«

»Meinetwegen«, gab Dr. Karolina zu, »kannst du reformieren und experimentieren soviel du willst. Wenn du nur nicht Herrn Brut ungeduldig machst.«

»Denn dann geht alles zum Teufel«, bestätigte Ludwig. »Casimir hat dir gegenüber väterliche Nachsicht, aber ich habe eine Heidenangst, daß er dir eines schönen Tages eine herunterhaut. Nimm dich nur in acht! Ich weiß, wie das schmeckt!«

Die Warnung hatte eine sonderbare Wirkung auf das selbständige Wesen. Sie wiegte sich hin und her, so, als ob sie von Magenschmerzen gequält würde. Das Gesicht drückte das Schwindelgefühl eines jungen weiblichen Geschöpfes aus, das unwiderruflich entschlossen ist, die Zehenspitzen in kaltes Wasser zu tauchen. Und plötzlich stieß sie die schicksalsschweren Worte hervor: »Jungens! Ich habe Casimir Brut entlassen.«

Diese Mitteilung, die an das Unfaßbare grenzte, wurde mit lang anhaltendem Schweigen aufgenommen. Endlich sagte Dr. Karolina mit Ruhe und Nachdruck:

»Das würde bedeuten, daß du schwachsinnig geworden bist. Was ist deine Absicht? Erkläre dich!«

Frau Olga murmelte fast unhörbar: »Ich gedenke das Gut selbst zu verwalten.«

Betty sagte: »Begabte Personen, die so wie Olga lange von ihrer Umgebung über die Achsel angesehen wurden, fallen leicht dem Größenwahnsinn zum Opfer. Hier ist es Pflicht des Arztes, einzugreifen.«

Wieder herrschte für einen Augenblick Schweigen, worauf die Damen Willman, das Unglück in seinem ganzen Umfang plötzlich erfassend, ausriefen:

»Casimir Brut entlassen! Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich!«

»Jetzt ist es auf jeden Fall geschehen«, murmelte Frau Olga, erhob sich von dem Sessel und hielt sich an dessen Rückenlehne aufrecht. Ludwig, den Mitleid mit ihrem jammervollen Zustand ergriff, bemerkte milde und beruhigend:

»Kein Unglück ist unkurierbar, ausgenommen der Tod. Und auch der läßt sich vermeiden, wenn man rechtzeitig ein Komitee einsetzt. Laßt uns überlegen! Ollo hat Casimir beleidigt. Sie ist übrigens schon lange so aufgetreten, als ob sie und nicht er in Larsbo zu befehlen hätte. Das muß anders werden. Vor allem einmal muß sie ihn unter feierlichen Formen um Entschuldigung bitten. Vielleicht läßt er sich von ihren Tränen erweichen –«

Die Tränen der kleinen Frau hatten wirklich zu fließen begonnen, eine nach der anderen, sachte, aber stetig rannen sie die Wangen hinab. Die leichtgerührten Willmanmädchen stimmten den Ton um. Mit sanfter Stimme fragte Dr. Karolina:

»Und warum, arme Ollo, hast du Brut entlassen?«

»Weil«, antwortete Frau Olga mit plötzlicher Bestimmtheit, die Tränen verschluckend, »weil das auf die Dauer nicht geht, zwei Willen in einem Hause.«

»Und wer«, fragte Ludwig wohlwollend, aber bekümmert, »wer hat dir, arme Ollo, eingeredet, daß du einen Willen hast?«

»Und wen«, fuhr Dr. Karolina fort, »gedenkst du an seine Stelle zu setzen? Vermutlich irgendeinen jungen Menschen, der ein vorteilhafteres Exterieur aufweisen kann als Herr Brut.«

»Übertrieben schön ist er nicht«, gab Lizzy zu. »Und alles eher als liebenswürdig. Aber in einem solchen Fall wie diesem würde ich mich nur an seine Tüchtigkeit halten.«

»Ach, wir armen Mädchen!« rief Lotte. »Wie wird das gehen, wenn Ollo uns ruiniert! Mein kleines Stipendium reicht kaum für den Tabak.«

»Lauschiges Larsbo!« tremolierte Ludwig mit tiefen Brusttönen. »Stolzes, männliches, väterliches Haus, das in eines Weibes Hände gefallen! Im Geiste sehe ich deine Ruinen! Wiesen und Felder von Unkraut erstickt, unter ergrauendem Moos begraben. Vergeblich brüllen die Rinder nach Nahrung und Pflege und zerstreuen schließlich ihre Gebeine über das Moor, Scheuern und Scheunen stürzen modernd zusammen unter den dumpfen Seufzern des Windes. Und in dem dachlosen Schlosse sprießt Gras aus der Erde der faulenden Dielen. Uhu und Habicht horsten in Sälen und Prunkgemächern, der Fuchs hat seinen Bau im Keller. Aber sonst ist die Jagd kaputt, denn Hunderte von Wildschützen haben sie ruiniert. Und in den meilenweiten Wäldern gibt es kein anderes eßbares Wild als die Willmanmädchen, eine irrende, ausgehungerte Schar, die schließlich die sehnsüchtigen Blicke auf den keuschen Mann im Mond richtet. Dies, o Larsbo, ist dein Los, wenn Casimir geht.«

»Schwätze keine solchen Dummheiten!« unterbrach Dr. Karolina in schrillerem Ton. »Ich kann es nicht ertragen, über diese Sache sprechen zu hören. Junge Witwen sind ja als launisch bekannt und stellen große Ansprüche an ihre Umgebung, namentlich die männliche. Aber alles muß doch Maß und Ziel haben! Ich werde sofort mit Herrn Brut sprechen!«

Sie erhob sich, um ihren Entschluß auszuführen. Aber Frau Olga stellte sich ihr in den Weg, sie ergriff sie beim Arm und drückte ihn so hart, daß es schon mehr wie ein Zwicken aussah. Sie sagte:

»Herr Brut hat seinen Abschied bekommen, und wer sich in diese Sache zu mischen gedenkt, tut am besten daran, Larsbo zu verlassen. Ich bin ein selbständiges Wesen, und ihr dürft nicht glauben, daß es mir um eure Gesellschaft so sehr zu tun ist. Von mir aus könnt ihr abziehen! Alle miteinander! Sonst könnte es passieren, daß ich euch hinauswerfe!«

Nachdem die kleine Frau diese wunderbare Drohung hinausgeschleudert hatte, ergriff sie selbst die Flucht und verließ halb laufend das Lusthaus. Auf stürzte Tante Sara und setzte ihr nach; Dr. Karolina schnappte einen Augenblick nach Atem, aber folgte dann rasch. In ihren Fußstapfen glitt mit weich wiegendem Gang Lizzy, trippelte Betty, latschte Lotte, der das struppige Haar schlaff über Stirn und Nase hing. Brita schließlich nahm sich Zeit, einen neuen Bärenzucker in den Mund zu stecken und dem Sohn des Pastors zum Abschied einen langen Blick zu schenken.

»Hört der Herr!« sagte Ludwig zu diesem. »Die Mädeln können einen rasend machen. Hat der Herr das gemerkt? Sie sind ja ganz nett, solange es anhält, aber nachher schlägt es einem schlecht an. Denkt der Herr so wie ich, so gehen wir hinter den Stall. Jetzt ist der richtige Augenblick dafür.«

Und sie gingen zusammen hinter den Stall. Nachdem der Kutscher gerufen worden war, um als Schiedsrichter zu fungieren, bemerkte Ludwig sachlich und besonnen:

»Weiß der Herr, was ich von einer sehr glaubwürdigen Persönlichkeit gehört habe? Ich habe gehört, daß der Vater des Herrn ein urgemütlicher Pfarrer sein soll!«

»Wer sagt das?« fragte der Pastorssohn.

»Ich!« antwortete Ludwig.

»Und du«, gab der Pastorssohn zurück, »bist ein ganz unerzogener Lümmel und ein ekliger Mädel-Junge.«

»Wer sagt das?« fragte Ludwig.

»Ich!« antwortete der Pastorssohn.

Diese kurze Zeremonie gab der Schlägerei ihre moralische Berechtigung, und die beiden Recken legten nun mit Würde und ohne jede Eile ihre Röcke ab, worauf der Kutscher sich räusperte, ausspuckte und sagte, jetzt könne es losgehen.

 

Im Lusthaus blieben jedoch der Pastor, Fräulein Alexander und der Generalagent zurück. Der Pastor wanderte bedächtig umher, nahm einen Kuchen hier und einen Zwieback dort und steckte sie gedankenvoll in seine Taschen. Endlich tat er seinen Mund auf und sagte:

»Da wird hin und her geredet über Liebe und anderes, aber mir scheint, daß es hier etwas gibt, was verborgen werden soll. Irgendwo liegt ein Hund begraben, das werdet ihr schon sehen. Es geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Und was ist denn das für eine Geschichte mit dem fortgelaufenen Mädchen?«

»Ach, Herr Pastor«, erwiderte Fräulein Alexander, »das ist eine entsetzliche Geschichte! Das Mädchen soll zum Spillebodaer Brunnen geschleppt, ermordet und ins Wasser versenkt worden sein.«

»Wer hat Ihnen denn das aufgebunden, Fräuleinchen?« fragte der Pastor und riß die Augen auf.

Fräulein Alexander lächelte.

»Ich habe das so an mir«, sagte sie, »daß die Leute sich mir gerne anvertrauen, wenn sie etwas Trauriges oder Schreckliches auf dem Herzen haben. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber so ist es. Und diesen traurigen Vorfall hörte ich schon auf dem Hinweg von einer alten Frau, der ich begegnete, und sie hatte es von ein paar Burschen gehört, und die hatten es wiederum von dem Häusler in Spilleboda. Es soll große Unruhe unter den Arbeitern herrschen, und man muß auf alles mögliche gefaßt sein, wenn der Schuldige nicht gesteht und der Strafe zugeführt wird. Aber wer dieser Schuldige ist, das könnte ich dem Herrn Pfarrer auch sagen, wenn ich es mir nicht zum Prinzip gemacht hätte, solche Dinge nie weiterzutragen.«

»Geschätztes Fräulein!« erwiderte der Pastor. »Wenn Sie für eine glaubwürdige Person gelten wollen, dann wiederholen Sie nie, was Sie in Larsbo sagen hören. Unter so vielen Frauenzimmern gedeiht der Geist der Lüge üppig, und ich übrigens, weiß Gott, auch. Immerhin halte ich es nicht für unmöglich, daß etwas Schauriges vorgefallen ist, und in diesem Falle habe ich eine ganz nette Entdeckung gemacht. Heute früh, als ich mich mit meinen Kindern dem Gute näherte, machten wir auf dem Hügel bei Spilleboda halt. Denn die Stunde war früh, und man wird von Müßiggängern nicht gut empfangen, wenn man sie in ihrem Morgenschlaf stört. Darum schickte ich meine Kinder aus, um im Walde Beeren zu pflücken. Und einige von ihnen kamen zurück und erzählten, sie hätten die Kammerjungfer der gnädigen Frau im Gehölz gesehen, von einem Mannsbild festgehalten und mit ihm kämpfend, worauf sie sich schließlich losgerissen hätte. Schreiend sei sie davongelaufen und er ihr nach. Und dieses Mannsbild sei kein anderer gewesen als der Verwalter Casimir Brut. Aber ich, mein geschätztes Fräulein, gehe jetzt und strecke meine alten Knochen auf einer Wiese aus und mache vor dem Mittagessen ein Schläfchen.«

Damit ging der Pastor. Allein mit dem Generalagenten, bemerkte Fräulein Alexander:

»Ich habe eine ziemlich gute Beobachtungsgabe, und mir entgeht kaum etwas. Ich könnte allerlei erzählen, was den Herrn Generalagenten baß erstaunen würde.«

Aber der Generalagent erwiderte:

»Meine Liebe, ich bin nicht neugierig. Fremder Leute Sorgen kümmern mich nicht, und ich meinesteils gedenke vergnügt zu sein, solange ich kann und noch ein bißchen länger. In meiner Jugend und meinem Mannesalter führte ich ein mühseliges und unruhiges Leben, war bald da, bald dort und legte mich tüchtig ins Zeug, wie man so sagt. Ich hatte eine Masse Agenturen, große Artikel, gute Artikel. Aber jetzt bin ich nur ein angenehmer Gesellschafter, der seine Stunden in Ruhe genießt. Liebesangelegenheiten und Geldangelegenheiten sind für mich ein Ding und machen mir nicht kalt und nicht warm. Ich habe mich zurückgezogen und bin jetzt nur noch Generalagent für künstliche Vögel. Das ist ein kleiner Artikel, aber fein und angenehm.«

Er öffnete mit liebevoller Sorgfalt die Dose, und der Käfig mit dem Vogel kam zum Vorschein. Er drehte eine Scheibe, und das niedliche Tier verneigte sich artig, schlug mit den Flügeln und klatschte mit dem Schwanz.

Der Generalagent lächelte zärtlich und beseligt:

»Meine Liebe«, sagte er, »wir sind beide in das Alter gekommen, wo man so ziemlich das meiste mit Ruhe hinnehmen kann. Das Wetter ist schön, das Plätzchen lauschig. Was fehlt uns? Ja, ein wenig Vogelgezwitscher! Horchen Sie auf, so hören Sie eine Nachtigall, die nie heiser wird! Das ist Kunst, die selbst die Natur übertrifft! Und der Preis ist phantastisch billig! Horchen Sie auf, gleich werden Sie hören! Ohne Kaufzwang! Nur um den Reiz des Ortes und der Stunde zu erhöhen!«

Er drückte auf einen Knopf, und sofort begann der Vogel wohllautend zu singen.

 

So wie eine Henne, wenn sie ihr Ei in Frieden legen will, suchend bald hin, bald her huscht, um ein Versteck vor der übrigen Schar zu finden, so lief Frau Olga, unruhig und verwirrt, bald im Park herum, bald im Hof, und schließlich durch die Säle und Zimmer des Hauses. Hinter ihr drein Dr. Karolina und Lizzy, Betty, Brita und Lotte, während Tante Sara abschwenkte und atemlos aus dem Spiel austrat. Hie und da riefen die Damen, eine nach der anderen: »Was ist geschehen? Was ist geschehen?« Aber bekamen keine Antwort. Endlich, in einem Zimmer mit nur einem Ausgang konnte Frau Olga den Verfolgern nicht länger entgehen. Der Raum war klein, intim, kokett in seinem nachgeahmten Rokoko. Einstmals ein Aufenthalt für Jan-Petters Auswahl schlüpfriger Bilder, zeigten die Wände jetzt nichts Unanständiges, wenn man nicht ein Porträt Jan-Petters dazu rechnen will. Der Mäzen hält eine kleine appetitliche Gruppe in der Hand, »Leda mit dem Schwan«, und scheint in eine gut wiedergegebene ungeheuchelte Bewunderung versunken. Hier war Frau Olga gefangen, und hier keuchten die Damen im Chor:

»Aber Ollo! Was ist geschehen?«

Sie betrachtete sie mit Augen, die eine heiße, funkelnde Wut rasch trocknete. Plötzlich nahm sie Jan-Petter zwischen ihre Hände und kehrte ihn rechtsum der Wand zu. Setzte sich dann starr und steif auf einen Stuhl und sagte:

»Das ist ja das Schreckliche! Daß, wenn ich von einer Idee gepackt werde, sie durchdacht, bearbeitet, gesichtet und sie euch in aller Eile skizziert habe – dann fragt ihr: ›Was ist geschehen?‹ Als ob ich unmöglich eine Idee haben könnte, ohne daß etwas geschehen ist! Nicht von selbst denken, beobachten, analysieren, synthetisieren, grübeln, erfassen, verstehen könnte! Glaubt ihr, mir muß erst ein Dachziegel auf den Schädel fallen, oder ich muß einen Magenkrampf oder andere Gebreste haben, um zu einer Weltanschauung zu gelangen?«

»Ollo!« sagte Dr. Karolina, setzte sich ihr gegenüber hin und suchte sie mit ihrem ärztlichen Blick zu bändigen. »Wir wissen, daß du von selber denken, beobachten, analysieren, synthetisieren, grübeln, erfassen und verstehen kannst. Aber du kannst uns doch immerhin sagen, was geschehen ist?«

»Nun ja«, sagte Frau Olga, »nichts ist geschehen; aber ich kann schon sagen, was mich quält. Er dort!«

Und sie deutete mit dem Daumen über die Achsel auf Jan-Petters rechtsumgedrehtes Porträt.

»Er quält mich heute den ganzen Tag und übrigens schon viele Tage und überhaupt immer. Ich bin nicht abergläubisch, ich glaube nicht an ein Leben nach diesem. Ich selbst werde sterben wie eine Blume und ihr auch! Aber für Jan-Petter mache ich eine Ausnahme. Er war zu konzentriert boshaft, um mich in Ruhe zu lassen, solange noch irgend etwas von mir übrig ist. Er geht um, und er wird weiter umgehen, bis er seinen Willen durchgesetzt hat.«

»Willen?« wiederholte Dr. Karolina. »Erkläre dich! Was wollte Jan-Petter?«

Frau Olga ließ ihre Zeigefinger einen Spitzbogen bilden, den sie betrachtete. Plötzlich lächelte sie; sie hob den Blick und ließ ihn von Dr. Karolina zu Betty wandern, von Betty zu Lizzy, von Lizzy zu Lotte. Und noch immer lächelte sie; aber die anderen lächelten nicht; sie blinzelten, verlegen und nervös, sie bissen sich auf die Lippen, sie wendeten sich ab.

»Nun ja«, antwortete Frau Olga auf die Frage. »Was er im Allerinnersten wollte, läßt sich vermutlich nicht in gemeinverständlicher Sprache ausdrücken. In den letzten Jahren konnte er ja nur stottern und lallen. Aber wir können ja sagen, daß er mich zu einem schlechten Menschen machen wollte. Er wollte mir das bißchen Glauben an die Existenz sittlicher Kräfte, das ich noch hatte, nehmen. Ich habe zehn Jahre lang, Abend für Abend, seine Geschichten angehört. Seine Seele war in Erotik ertrunken und war so aufgelöst, verfault und widerlich wie ein Körper, der monatelang im Wasser gelegen ist. Ihr könnt mir glauben, er hat mir nichts erspart, von den Phantasien der puerilen Impotenz bis zu denen der senilen. Aber wenn ich mit meiner teuer erkauften Erfahrung eine Idee aufwerfe und gewisse Reformvorschläge darlege, dann behandelt ihr mich wie ein kleines Kind, lacht mich aus und fragt mich noch dazu, was geschehen ist!«

»Das ist ungehörig«, gab Betty zu. »Und wir interessieren uns gar nicht mehr dafür, was geschehen ist. Wir haben den intensiven Wunsch, dich zu verstehen, aber wir ersuchen ergebenst um Sachlichkeit und Ruhe.«

»Ich bin immer sachlich, solange man mich nicht reizt. Aber ich habe den ganzen Tag das Gefühl gehabt, daß Jan-Petter mich auslacht. Und wie benehmt ihr euch? Schon heute früh habe ich angefangen, mit euch ernst über diese Dinge zu sprechen, aber anstatt mir eure Ansichten mitzuteilen, tischt ihr eine unanständige Anekdote und Geschichte nach der anderen auf. Ihr glaubt ganz einfach, ich hätte keine Ansichten.«

»Um dir das Gegenteil zu beweisen«, fiel Lizzy ein, »bitten wir inständigst, daß du uns deine Ansicht mitteilst. Wir glaubten, daß etwas geschehen sei, aber verstehen nun, daß das Geschehnis von seelischer Art war. Etwas Neues ist in dir geboren, und aus gewissen Äußerungen zu schließen, ist dieses Neue eine Ansicht. Wir warten gespannt auf deine Eröffnungen.«

»So ist es!« stimmten sämtliche Willmanmädchen ein.

Frau Olga betrachtete sie mißtrauisch und scheu.

»Macht ihr euch jetzt wieder lustig?«

Aber sie machten sich nicht lustig.

»Meine Ansicht«, fuhr Frau Olga fort, ermuntert durch ihren imposanten Ernst, der sogar Brita bewog, ihren Bärenzucker aus dem Mund zu nehmen, »meine Ansicht ist die, daß unsere sogenannt erotische Kultur die Menschheit zugrunde zu richten droht. Das Neue an meiner Ansicht ist, daß ich Unsittlichkeit und dergleichen gar kein Gewicht beilege. Das ist mir eigentlich tief gleichgültig. Ich richte meinen Angriff gegen die Liebe selbst. Die ist ebenso schädlich innerhalb wie außerhalb der Ehe, vielleicht innerhalb derselben noch schädlicher. Wo immer sie zu finden ist, ist auch die Versuchung vorhanden, ihr ein Übermaß an Zeit, Kräften, Gedanken und Phantasien zu widmen. Man behauptet, daß die Liebe eine notwendige Voraussetzung für die Fortpflanzung der Gattung ist. Das ist falsch. Das Menschengeschlecht kann und wird zeigen, daß es sich ohne Mystik und Aberglauben, ohne Liebe also, fortpflanzen kann, sachlich und ruhig.«

»Herrjegerle!« flüsterte Brita Lotte zu. »Wenn Ludwig das hört, wird er aufrichtig betrübt sein.«

Aber Frau Olga fuhr immer inspirierter fort:

»Der Mensch muß enterotisiert werden. Ich möchte die Sache besser formulieren, aber das kommt später ganz von selbst. Unser Intellekt muß von den erotischen Schlacken befreit werden. Ich möchte alle erotische Kunst und Literatur verbieten. Und damit meine ich nicht die sogenannte Schmutzliteratur. Die ist mir tief gleichgültig. Sondern gerade die große Kunst und Literatur sind in dem Maße verderblich, in dem sie erotische Motive behandeln. Die Liebe zwischen zwei Individuen verschiedenen Geschlechts wird als das Schönste, Wichtigste, Edelste im Leben ausposaunt. Das ist ja geradezu widerwärtig! Die Liebe zu der Gattin wird über die Liebe zur Menschheit, zum Fortschritt, zur Wissenschaft gestellt! Das ist direkt wahnsinnig, denn die Gattin kann auch ohne Liebe Kinder zur Welt bringen, aber der Fortschritt bedarf unserer ungeteilten Liebe, um überhaupt weiterzukommen.«

»Ach!« rief die gute Lotte bekümmert, »wie leid mir das tut! Kann denn niemand herausbringen, was ihr fehlt?«

Und Lizzi sagte: »Wir möchten dir so gerne helfen, arme Ollo! Können wir denn gar nichts für dich tun?«

»Ich glaube«, fiel Dr. Karolina ein, »wir sollten ihre Grübeleien nicht mit Scherzen abtun. Natürlich kommt ein kluger Mensch nicht mit solchen Tollheiten, ohne einen ernsten Grund zu haben. Entweder ist sie krank, und damit ist nicht zu spaßen. Oder aber sie hat irgendeine Absicht, die wir nicht kennen.«

Doch Frau Olga hörte sie nicht. Ihre Wangen wurden lebhaft rot, ihre Augen begannen zu funkeln, und sie sog die Luft gierig durch geblähte Nüstern ein. Plötzlich sagte sie rasch und lebendig:

»Jungens! Ich möchte eine Bewegung inaugurieren!«

Sie spitzten die Ohren.

»Eine Bewegung?« wiederholte Dr. Karolina und hob hastig die schleppenden Augenlider. Auch Lizzy, Betty, Lotte und Brita wiederholten das Wort, alle mit demselben Interesse, derselben Achtung. Dieses Interesse war tatsächlich ein Salut für das Andenken des Oberhauptes der Willmanschen Familie, der Frau Professor Anna-Lisa. Diese kraftvolle Frau hatte nämlich während ihrer ein halbes Säkulum währenden Glanzperiode jährlich drei bis vier mächtige und bedeutungsvolle Bewegungen auf verschiedenen Gebieten und nach verschiedenen Richtungen entfesselt. Ein Verzeichnis dieser Bewegungen würde länger sein als die Dauer der Mehrzahl derselben, aber alle hatten sie von sich reden gemacht. Das Wort Bewegung, in diesem Sinne genommen, hatte also einen eigenen vertrauten Klang für die Willmanmädchen. Und trotz des Leichtsinns, der manchmal ihrem Benehmen, ihren Reden und ihrer Lebensanschauung aufgeprägt sein konnte, würde sich keine von ihnen geweigert haben, ihre Kräfte einer frischen, ernsten Bewegung zu weihen, ob es sich nun um reformierte Sitten handelte oder um Hüte oder Korsetts oder Essen und Trinken oder Gefängniswesen oder Krankenpflege oder Kindererziehung oder Bekehrung von Dirnen oder Verwertung von Vagabunden oder Bekämpfung der Klatschsucht oder Ausrottung der Ratten oder Hebung des Musiklebens oder Abschaffung des Kaffees oder Verbreitung der Bildung oder Förderung der Kaninchenzucht oder Vereinfachung der Geselligkeit oder Entwicklung der Körperkultur oder irgend etwas anderes, das sich überhaupt reformieren, aufrichten, verwerten, bekämpfen, ausrotten, heben, abschaffen, verbreiten, fördern, vereinfachen oder entwickeln ließ.

Aber trotz Verwandtenliebe und aufrichtiger Freundschaft hegten sie gegen Ollo ein Mißtrauen, das in Dr. Karolinas Worten zum Ausdruck kam:

»Eine wirkliche Bewegung? Traust du dir das zu?«

»Warum sollte ich weniger fähig dazu sein wie irgend ein anderer? Ich habe allerdings keine Examina oder andere Qualifikationen in dieser Richtung, aber ich habe Energie! Und das ist die Hauptsache. Im übrigen würde es mich amüsieren, oder richtiger gesagt, interessieren. Mein Leben würde einen Inhalt bekommen.«

»Das ist wahr«, räumte Dr. Karolina ein. »Und ich würde dir natürlich meine Unterstützung angedeihen lassen. Aber was sollte das für eine Bewegung sein?«

Frau Olga erwiderte: »Man kann sie natürlich nennen, wie man will, aber sie braucht ein einigendes Schlagwort, und ich würde proponieren: Los von der Erotik! Was, wie ich glaube, ganz famos und direkt niederschmetternd für die Spötter wäre, ist, daß ich die Sache ausschließlich vom ökonomischen Gesichtspunkt aus behandle. Das ist reell. Ich habe eine Masse Broschüren im Kopf, und eine habe ich schon geschrieben: Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben?«

Dr. Karolina sprach den Wunsch aus, dieses Opus sofort zu lesen, aber Frau Olga erinnerte sich, daß gewisse Ziffern noch korrigiert werden mußten. Sie fuhr fort:

»Ich habe auch an die Möglichkeit gedacht, eine literarische Zeitschrift zu gründen. Sie würde die Liebe auf ihren rechten Platz verweisen, der überhaupt kein Platz ist. Kann der Mensch ohne Erotik fertig werden, so kann es natürlich die schöne Literatur erst recht.«

»Ollo!« rief Lizzy. »Wenn du eine Zeitschrift zu gründen gedenkst, dann stelle ich meine Kräfte der Bewegung zur Verfügung. Ich habe immer davon geträumt, eine Zeitschrift zu redigieren, aber bin nie dazugekommen. Wogegen ich nie davon geträumt habe, zu flirten, aber immer dazugekommen bin.«

Jetzt wedelte Brita eifrig mit der Hand und sagte:

»Darf ich fragen? Sollen alle jungen Bengels abgeschafft werden? Oder wie soll es sonst gehen? Solange Ludwig am Leben ist, kann ich nicht mit einem ungeteilt keuschen und ökonomischen Dasein rechnen.«

»Du bist nicht so dumm, wie du dich stellst!« schnauzte sie Dr. Karolina an. »Es ist gar kein Grund, Ollo zu verhöhnen, weil sie sich ein bißchen unpräzise ausdrückt. Ihr Gedanke ist auf jeden Fall ein Gedanke und als Ansporn für eine sittlich erziehliche Bewegung gar nicht übel. Wir gedenken weder Geschlecht, noch Geschlechtseigenschaften, noch Geschlechtshandlungen abzuschaffen. Bewahre! Aber wir gedenken, den erotischen Einschlag in unserem Gefühlsleben auf das zu reduzieren, was er sein soll: eine quantité négligeable. Unser intellektuelles Ich soll von erotischen Distraktionen befreit werden. Darin liegt immerhin ein Stück Zukunftsprogramm.«

Frau Olga errötete vor Freude.

»Du fängst an, mich zu verstehen«, sagte sie. »Ich glaube, es könnte eine kräftige, aufrüttelnde Bewegung werden.«

»Ich fange auch an, zu verstehen«, versicherte Lotte, »wenn auch nur langsam. Persönlich bin ich nicht gewillt, von einem zärtlichen und schwärmerischen Umgang mit jüngeren Mannspersonen abzustehen, wenn ein solcher sich mir wirklich bietet. Aber falls die geplante Bewegung ›Los von der Erotik‹ künftigen Mädchen mit roten Haaren, Augengläsern und Kartoffelnase zugute kommen und sie stoisch und kühl gegenüber dem männlichen Geschlecht machen kann, so ist es meine sonnenklare Pflicht, die Bewegung zu unterstützen. Wenn das der Fall ist, werde ich mit Vergnügen an Demonstrationen teilnehmen, und Fahnen mit Inschriften bei windigem Wetter zu tragen, gehört zu dem Lustigsten, was ich kenne. Ich werde auch gegen angemessene Vergütung Vorträge über den Gegenstand halten. Aber weiterzugehen, gestattet mir mein Gewissen nicht.«

»Und ich«, sagte Betty, »schließe mich auch der neuen Heilsarmee an, unter der Voraussetzung, daß sie eine kleidsame Uniform kriegt. Ich glaube nicht sehr an die Sache, aber dadurch, daß ich andere überzeuge, werde ich schließlich mich selbst überzeugen. Im übrigen ist es wahnsinnig spannend, etwas zu starten, was die Leute für verrückt erklären. Aber um einen Aufschluß möchte ich gebeten haben: in welchem Zusammenhang steht die Bewegung mit Casimir Brut und seiner Entlassung?«

Frau Olgas Antwort erfolgte augenblicklich und mit außerordentlicher Schärfe:

»Wer das nicht kapiert, ist ein Esel oder ein heuchlerisches Individuum. Herr Brut muß fort, weil er mich hindert, Larsbo zu einem sittlich-ökonomischen Mustergut zu machen. Es ist meine Absicht, Larsbo zu dem Brennpunkt der Bewegung zu machen, wo es sich zeigen soll, daß die beiden Geschlechter Seite an Seite arbeiten können, ohne Zeit und Kräfte an das Erotische zu vergeuden.«

»Und was«, fragte Dr. Karolina, »hat Brut dagegen einzuwenden? Sollte er selbst ein leichtsinniger Mensch sein?«

»Casimir!« schrie Brita. »Nein, das geht zu weit! Er ist doch der sittlich-ökonomischste Brummbär, den es gibt. Sind wir nicht alle Zeuge gewesen, wie die arme Lizzy den ganzen Sommer ihr Feuer verpufft hat, ohne ihn auch nur ein klein bißchen erwärmen zu können? Einen solchen Mann will die Bewegung abschaffen, aber Ludwig darf bleiben, der allen Mädeln wie eine Boa um den Hals hängt, wenn er nicht gar an Ollo selber baumelt. So was nennt man Gerechtigkeit!«

Frau Olga errötete wieder, aber vor Zorn. Sie sagte:

»Ludwig ist ein Kind. Er kann gemodelt und gebildet werden. Ich sehe ein, daß die Erotik durch etwas anderes ersetzt werden muß. Ich will, daß Arbeit und bildende Zerstreuungen einander nach einem vernünftigen Schema ablösen.«

»Oj, oj«, ächzte Brita. »Ich will gerne Mist aufladen, wenn mir nur die bildenden Zerstreuungen geschenkt werden!«

Aber die einstimmige Mißbilligung der Damen Willman ließ sie verstummen. Frau Olga improvisierte rasch ein Schema, das durch seine Reichhaltigkeit überraschte. Die Stunden des Tages sollten in Wahrheit wohl ausgenützt werden. Das harmlose Larsbo wurde zu einem Neuen Jerusalem, einem Mekka. Das Glück der Improvisation berauschte die kleine Frau; sie vergaß ihre Sorgen und ließ ihrer Phantasie die Zügel schießen. Frauen und Männer von makelloser kühler Reinheit erfüllten die Wölbungen des lauschigen Parks mit einem Raunen von vernünftigen und einsichtsvollen Gesprächen. Der große Saal bekam einen Anstrich der Schule von Athen. Alles war weißgekleidet, rein, arbeitsam, ökonomisch und vernünftig. Plötzlich unterbrach sie sich in ihrer Schilderung, indem sie rief:

»Begreift ihr jetzt, daß dieser Mensch da fort muß? Er paßt nicht in mein Programm. Wir scheiden im guten, und er ist sehr einverstanden damit, Larsbo zu verlassen. Er hat natürlich für seine Person andere Pläne

Sie schluckte ein paarmal, aber die Stimme war dumpf und unklar, als sie fortfuhr:

»Übrigens gedenke ich noch andere zu entlassen. Ich habe sie alle miteinander übersatt. Ich gedenke reinen Tisch zu machen. So daß ich mich endlich als ordentlicher und anständiger Mensch fühlen kann. Ich gedenke alles zu entfernen, was mich an Jan-Petter erinnert. Brut war sein Augapfel, und das verzeihe ich ihm nie. Ich kann ihn nie sehen, ohne an etwas zu denken, was Jan-Petter zu mir sagte, bevor er starb. Infam! Er hat nicht das Recht, als ein Gespenst herumzugeistern und mich auszulachen. Ich habe mit mir selbst gekämpft, mehr als solche Gänse wie ihr ahnen könnt. Ich habe eine zehnjährige Erfahrung der Bitterkeit und Schmach. Ich will Genugtuung haben, ich will etwas leisten. Aber wenn ich meinen Entschluß gefaßt und einen Plan entwickelt habe, der doch immerhin recht großzügig ist, dann kommt ihr Gänse und sagt: ›Was ist geschehen?‹«

Sie erhob sich und ging. Durch ein Rauschen von »Liebe Ollo!« und »Gute Ollo!« und »Arme Ollo!« schritt sie dahin, ausgestreckten Händen geschmeidig ausweichend, und entschwand. Der Ausbruch hatte die Damen Willman in dem Grade erschreckt und überrascht, daß sie längere Zeit vollständig stumm dasaßen.

Endlich rief Dr. Karolina: »Aber gibt es denn keinen Menschen, der uns sagen kann, was geschehen ist!«

 

Doch, einen! Fräulein Alexander hatte gesehen, begriffen und ihre Schlußfolgerungen gezogen. Nachdem sie geduldig dem singenden Vogel des Generalagenten gelauscht und alle Vorschläge, einen solchen, sei es bar, sei es gegen Ratenzahlung, anzukaufen, mit Entschiedenheit abgewiesen hatte, bemerkte sie:

»Herr Generalagent! Ich habe eine Eigenheit an mir, die Sie unheimlich finden werden. Ich selbst bin nie irgendwelchen Unglücksfällen ausgesetzt, aber ich kann keinen meiner Freunde besuchen, ohne daß ihnen etwas Trauriges zustößt. Das ist natürlich nicht meine Schuld, und das sehen sie auch ein. Aber sobald sie mich erblicken, rufen sie: ›Da kommt Fräulein Alexander! Schließt alle Türen und Fenster und hängt das Telephon aus!‹ Ganz wie bei einem Gewitter. Was sagen Sie dazu?«

»Ich sage«, erwiderte der Generalagent, »daß ältere Damen abergläubisch sind, aber daß Sie sich auf jeden Fall lieber daheim halten sollten.«

»Nennen Sie es Aberglaube, daß ich Unglück bringe, so werden Sie es vermutlich noch vor dem Abend bereuen. Sie müssen doch wohl zugeben, daß unsere liebe Gastgeberin bereits alles eher als glücklich ist? Von dem armen Herrn Brut zu schweigen!«

Der Generalagent legte die Spieldose in die Schachtel; er dachte: wenn das Glück mir hold ist, und die Alte, wie ich glaube, den Wein liebt, kann ich vielleicht nach dem Mittagessen einen kleinen Vogel verkaufen.

Aber laut sagte er: »Das Glück, meine Liebe, ist ein Vogel, den alle hören und keiner sieht. Er fliegt von Zweig zu Zweig und von Baum zu Baum, und darum ist unsere Wanderung geschlängelt und ohne Ziel. Aber nicht ohne Sinn, denn wir sehen uns um und lernen allerlei, das für eine spätere Gelegenheit gut zu wissen sein kann.«

»Ach ja! Wie wahr und wie schön!« seufzte Fräulein Alexander. »Wir sind alle Kinder, und das Leben ist nichts anderes als eine Tanzschule, wo wir ein passendes Auftreten lernen. Aber einige lernen für den Himmel, andere für die Hölle. Ich war einmal in einer Gesellschaft bei liebenswürdigen Menschen, Mann, Frau und Tochter, ein entzückendes Mädchen, schön und unschuldig, weich und träumerisch. Die Eltern waren reiche Leute, prächtige Leute, angesehene Leute. Aber beim Mittagtisch gerieten sie in Zwist. Wer hätte das gedacht? Der Zwist wurde zum Zank, und es wurden Dinge geäußert, die über alle Grenzen gingen. Die verlegenen Gäste suchten das Ganze zu bagatellisieren, aber das hätten sie nicht sollen, denn die beiden Gatten wurden davon nur noch angefeuert. Namentlich sprühte die Frau vor Hohn und Haß und schleuderte eine Beschuldigung ärger als die andere hinaus. Plötzlich stand der Mann auf und verließ das Zimmer. Die Gäste saßen stumm und verlegen da; die Frau sagte auch nichts und schien ganz abwesend. Aber das junge Mädchen plauderte und lachte und suchte die Konversation aufrechtzuerhalten. Nach einer Weile erhob sich auch die Frau und verließ den Saal. Gleich darauf kam ein Dienstmädchen hereingestürzt und rief: ›Zu Hilfe, zu Hilfe! Der Herr hat sich erhängt!‹ Die Gäste sprangen auf und folgten ihr. Sie führte sie in eine große Garderobe; von der Decke hing ein abgeschnittener Strick und unter dem Strick lag der große, feine, gute, reiche, angesehene Herr unversehrt, wenn auch ohnmächtig. In den Armen seiner Frau kehrte er bald wieder zum Leben zurück. Und nun, Herr Generalagent, bekamen die Gäste so zärtliche Worte und heiße Liebeserklärungen zu hören, wie sie sie vielleicht noch nie vernommen hatten. Wären sie nicht bei dem Vorangegangenen dabei gewesen, sie hätten wahrlich glauben können, einem Stelldichein zwischen zwei jungen Liebenden beizuwohnen. Verlegen zogen sie sich wieder in den Saal zurück und wußten weder aus noch ein. Aber das junge Mädchen, die Tochter des Paares, sagte: ›Ach, laßt sie nur in Frieden und kümmert euch nicht um die Sache! Es ist nicht das erstemal, daß das geschieht, und wird wohl auch nicht das letztemal sein!‹ Was sagen Sie dazu, Herr Generalagent?«

»Ich sage«, erwiderte der Generalagent, »daß das Mädchen ein Monstrum war.«

»Gerade kein Kompliment für mich«, sagte Fräulein Alexander und lächelte wehmütig. »Ich kann jedoch versichern, daß meine armen Eltern sich innig liebten. Daß sie sich zuweilen so zyklonartig haßten, war wohl nur eine Art, einander näherzukommen und sich inniger zu vereinen, als die Liebe zu bewirken vermag. Denn die Liebe ist nichts anderes als ein hoffnungsloser Versuch, von sich selbst loszukommen.

Aber dort drüben«, fuhr Fräulein Alexander fort, »kommt jemand, der mir wirklich leid tut!«

Sie reckte den Hals und rief: »Herr Brut! Herr Brut! Haben Sie sie gefunden?«

Casimir Brut kam vom Feld und ging quer durch den Park. Bei Fräulein Alexanders Anruf zuckte er zusammen, blieb einen Augenblick stehen, schüttelte den Kopf und ging in beschleunigtem Tempo weiter. Fräulein Alexander folgte ihm mit den Blicken, solange er in Sehweite war. Und sie wendete sich an den Generalagenten und sagte:

»Geben Sie zu, daß das Gewissen eine sonderbare Einrichtung ist? Einige sind der Ansicht, daß das Gewissen Angst vor der Strafe ist, aber das glaube ich nicht recht. Eher ist es Angst, der Entdeckung zu entgehen. Der Glaube an die Heiligkeit der Wahrheit ist der unausrottbarste Glaube oder Aberglaube, den der Mensch hat. Wenn er sich nicht richtig betragen hat und genötigt ist, mit dem Munde zu lügen, dann versucht er mit den Augen oder der Gesichtsfarbe die Wahrheit zu sprechen, oder er gesteht sie in verblümten Redewendungen oder findet eine Zeichensprache. Denn heraus muß sie, und das Gewissen ist nichts anderes, als die Angst, daß sie nicht herauskommen könnte. Wenn Sie sich über diese Sache klar wären, Herr Generalagent, hätten Sie heute hier viele Geständnisse hören und sehen können. Aber Herrn Bruts Geständnis kommt schon noch im Laufe des Tages, und dann müssen Sie aufpassen!«

»Was ist denn geschehen?« schrie der Generalagent und riß die Augen auf, ganz so wie die Willmanmädchen.

»Soweit ich verstehen kann«, erwiderte Fräulein Alexander, »hat Herr Brut das arme Mädchen erschlagen. Im Jähzorn natürlich. Ich nehme an, daß er sie leidenschaftlich geliebt hat. Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen und ein bißchen mit ihren Kameradinnen geplaudert, und da erfuhr ich, daß sie sich in letzter Zeit einen Bräutigam zugelegt hat, einen der Torfausstecher. Vermutlich hat sie ihn heute morgens getroffen, und vermutlich hat der Verwalter sie im Walde überrascht. Der Bräutigam ergriff die Flucht und ließ das Mädchen mit dem rasenden Menschen allein. Die Pastorskinder sahen sie miteinander ringen. Ob er sie dann erschossen oder in anderer Weise umgebracht hat, das wage ich nicht zu sagen. Aber es wird schon bald an den Tag kommen. Und was sagen Sie jetzt, Herr Generalagent?«

»Ich sage«, erwiderte der Generalagent, »daß Sie eine schreckliche Person sind! Woher wissen Sie das alles?«

Fräulein Alexander lächelte wehmütig:

»Gewisse Menschen haben einen scharfen Blick und eine rasche Auffassung, was Unglücksfälle betrifft. Sie üben sich schon in der Kindheit. Und nun hoffe ich, wird der Herr Generalagent mich nicht mehr der Abergläubischkeit beschuldigen, wenn ich sage, daß ich Unglück bringe?«

Aber der erregte alte Mann erwiderte:

»Sie sind eine Närrin! Ich sage das aus aufrichtigem Herzen! Sie sind eine gräßliche alte Närrin! Ich glaube nicht ein Wort von all dem, was Sie gesagt haben! Mich schrecken Sie mit Ihrem Aberglauben nicht!«

»Wie es Ihnen beliebt!« sagte Fräulein Alexander. »Ich hoffe innig, daß ich Ihnen kein Unglück bringen werde! Jetzt gehe ich und plaudre ein bißchen mit den Mädchen in der Küche und schaue zu dem Großknecht hinein, und höre hier und dort herum, dann erfahre ich vielleicht etwas Näheres. Aber ich sage nur eines: Armer Herr Brut, der selbst den Suchgang nach seinem eigenen Opfer leiten muß! Und man kann sich ja denken, wie er geleitet werden wird! Und das arme kleine Opfer! Und die arme gnädige Frau, wenn sie erfährt, was geschehen ist! Und auch Sie, armer Herr Generalagent!«

Sie stand auf, aber hatte noch nicht viele Schritte auf die Türe des Lusthauses zu gemacht, als sie zufällig auf eine morsche Planke trat, die sich aus den Fugen gelöst hatte. Die Planke schnellte in die Höhe und warf ein kleines Tischchen um, auf das der Generalagent die Schachtel mit dem singenden Vogel gestellt hatte.

»Ach!« rief Fräulein Alexander. »Wenn nur der schöne Vogel keinen Schaden genommen hat!«

Damit ging sie.

Der Generalagent jedoch hob mit zitternden Händen die Schachtel auf, öffnete vorsichtig den Deckel und fand, daß sein Lieblingsvogel vom Pflöckchen gefallen war. Da lag er auf dem Boden des Käfigs, mit gebrochenem Hals, die goldenen Flügelchen ausgebreitet, so tot und hin, als ein singender künstlicher Vogel nur sein kann.

 

Fräulein Alexander plauderte mit den Mädchen in der Küche, schaute zum Großknecht hinein, und hörte hier und dort herum. Sie ging auch auf die große Landstraße hinaus und traf eine Anzahl von Personen, mit denen sie interessante Gespräche anknüpfte. Keiner dieser guten Leute wußte mehr als sie, und die meisten wußten weniger. Anstatt Aufschlüsse einzuholen, wurde es eher ihr Los, solche mitzuteilen. Und das tat sie gerne. Sie sagte auch, sie glaube, daß der Verwalter noch vor dem Abend gestehen werde. Wo sie dahinging, ruhig und milde, ließ sie bestürzte und erstaunte Menschen zurück. Sie ging wie die Fama.

Ihr Weg und ihre Wanderung führte sie auch am Stallhügel vorbei. Auf dem Staket saßen drei Mannsleute und rauchten Zigaretten. Der eine war der Kutscher, der andere war der Sohn des Pastors und der dritte war Ludwig. Die jungen Herren hatten sich in vier Gängen geschlagen und ruhten sich jetzt vor dem fünften aus. Der Sohn des Pastors war arg zugerichtet, Ludwig hingegen ganz heil, aber verdrießlich, weil die Sache ewig kein Ende nahm. Denn sobald er den armen Pastorsjungen untergekriegt und ihn tüchtig zerbleut hatte, stieß der Geschlagene zwischen Schnauben und Keuchen hervor: »Willst du jetzt zugestehen, daß du ein Lügner bist?«

»Und das kann ich doch nicht«, sagte Ludwig zu dem Kutscher. »Ich bin aus zwei allgemeinen höheren Lehranstalten auf Grund meiner Wahrheitsliebe relegiert worden, wie kann ich da leugnen, daß sein Vater ein urgemütlicher Pfarrer ist?«

»Nein, das geht freilich nicht«, gab der Kutscher zu. »Das beweist, daß du noch mehr Keile kriegen mußt«, keuchte der Sohn des Pastors.

So stand die Sache, als Fräulein Alexander eintraf. Sie blieb vor ihnen stehen und sagte:

»Könnten die jungen Herren nicht etwas Nützlicheres und Ehrenwerteres vornehmen, als sich zu raufen?«

»Der dort«, erwiderte Ludwig zornig, »rauft sich für die Ehre seines Vaters und ich für meine eigene. Wissen Fräulein etwas Nützlicheres und Ehrenwerteres, dann bitte nur heraus damit!«

»Die jungen Herren«, fuhr Fräulein Alexander fort, ohne sich an seine Unwirschheit zu kehren, »könnten sich zum Beispiel an dem Suchgang nach dem unglücklichen Mädchen beteiligen. Eine Kette geht durch den Wald, hat man mir gesagt, und eine andere über das Moor.«

»Herrjegerle!« schrie Ludwig. »Suchen sie die Bolla, und ich bin nicht mit dabei!

Was meint der Herr«, sagte er zu dem Sohn des Pastors, »sollen wir nicht ein bissel nach dem Mädel suchen? Inzwischen kann der Herr auch wieder in bessere Form kommen.«

Der Vorschlag wurde angenommen, und die beiden Kämpfer sprengten über die Wiese und am Rain des Weizenfeldes vorbei, auf das Moor zu. Aus der Ferne hörte man schon die Rufe der noch unsichtbaren Kette, die sich näherte.

»Und was glaubt der Herr Kutscher?« fragte Fräulein Alexander.

Der Kutscher sah Fräulein Alexander an, und er sah zum Wald hinüber, und er sah zum Schloß auf und über das Moor hin. Schließlich sagte er:

»Was ich glaube? Ich glaube, ich halte den Mund.«

Fräulein Alexander tat ihm dann zu wissen, was sie glaubte.

Und während all dessen schlugen die Uhren von Larsbo ihre Schläge und gaben ihre Ansicht über die Zeit kund, während die Sonnenuhr eine andere hatte und der Magen des Pastors eine dritte. Was ihn betraf, so lag er ausgestreckt auf der Rasenböschung unterhalb des Hofes. Die Gänse weideten rings um ihn. Ludwigs Jagdhund hatte ihm das Gesicht abgeschleckt und teilte nun sein Lager, den Kopf auf seiner Brust. Das Haus war still, der Tag war warm, das Gras war weich, der Pastor schlief ungestört zwei volle Stunden. Schließlich erwachte er, setzte sich auf, streckte sich, gähnte und sagte:

»Es bullert so schön in meinem Magen. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so soll das bedeuten, daß die gesegnete Stunde geschlagen hat und der Tisch auf Larsbo gedeckt ist.«

Leider hatte der Herr Pfarrer in seinen Berechnungen gewisse psychologische Faktoren außer acht gelassen, die, wie es sich zeigen sollte, großen Einfluß in retardierender Richtung hatten. Das Essen war bereitet, das berichtete schon die Luft, die von herrlichen Duften geschwängert war. Der Tisch im großen Speisesaal stand gedeckt, reich an Silber und Kristall, Blumen und Karaffen, einladend und schön. Die Gäste des Hauses, der Pfarrer, der Generalagent und Fräulein Alexander hielten sich in seiner unmittelbaren Nähe auf, und Tante Sara strich hie und da stumm durch das Gemach, änderte und ordnete. Aber die Herrin des Hauses, die allein das erlösende Wort aussprechen und dem peinvollen Warten ein Ende machen konnte, fand sich nicht ein, und ebensowenig ihre Freundinnen. Schließlich nahm der Herr Pfarrer Fräulein Schönthal unter den Arm und bemerkte höflich, aber bestimmt:

»Bestes Fräulein Sara, fertiges Essen verliert mit jeder Minute an Saft und Aroma. Man begeht ein Unrecht gegen sich selbst, wenn man es nicht verzehrt, solange es am leckersten ist.«

»Ach ja, ich weiß!« murmelte die unglückliche alte Dame und eilte fort, wie um irgendeine Anordnung zu treffen. Tatsächlich fehlte ihr jeder Einfluß, und sie konnte nichts in der Sache machen.

Die psychologischen Faktoren, die der Pastor bei seiner Berechnung der Mahlzeitstunde außer acht gelassen hatte, waren Frau Olgas labiler Seelenzustand. Die Ereignisse des langen Sommertages hatten ihre Kräfte überanstrengt. Nach einer ziemlich unruhigen Nacht war sie ums Morgengrauen aufgestanden, erfüllt von einer gewissen flackernden Energie, die ihren ersten Ausdruck in der Entsendung der Kammerjungfer gefunden hatte. Das Mädchen war gleich Noahs dritter Taube nicht zurückgekehrt, und obgleich die kleine Gnädige durchaus nicht den divinatorischen Genius eines Fräulein Alexander besaß, mußte sie doch ein Unglück ahnen. Und die Verdrießlichkeiten waren einander Schlag auf Schlag gefolgt! Sie hatte eine Uhr zum Fenster hinausgeworfen und das ganze Haus zur Unzeit geweckt. Sie hatte Jan-Petters kostbarsten Kunstschatz, die Vase mit dem Eros, zerschlagen und sich mit Ludwig verschworen, die Spuren dieses Unglücks zu beseitigen. Dabei war sie von dem Verwalter überrascht worden, und die erregte Gemütsstimmung hatte einen Zwist hervorgerufen, der im Laufe des Tages zum vollständigen Bruch geführt hatte. Herr Brut, der durch fünfzehn Jahre das ausgedehnte Larsbo tadellos verwaltet hatte, war von ihr entlassen worden! Und der Mensch hatte sein Urteil mit übertriebener, ganz unerwarteter Befriedigung aufgenommen; er hatte sich ausgebeten, das Haus sofort verlassen zu dürfen; er packte vielleicht schon seine Koffer. Da stand sie mit ihrem Gut, mehr oder weniger hilflos.

Aber aus diesen Unglücksfällen, Beleidigungen und Verfolgungen hatte ihre Seele eine ungeahnte Stärke geschöpft. Frau Olga hatte sich tatsächlich mit verblüffender Schnelligkeit entwickelt. Um sechs Uhr morgens war sie noch Jan-Petters reiche, anmutige, aber recht unbedeutende Witwe gewesen. Gegen vier Uhr nachmittags hatte selbst Dr. Karolina zugeben müssen, daß dieses unbedeutende Persönchen vielleicht Möglichkeiten zu einer großen neuen Bewegung im Geiste der Zeit entdeckt hatte. Los von der Erotik! Eine neue Maxime, gesund und ökonomisch, frei und streng; eine Bewegung, die weitverzweigte Verbindungen mit allen möglichen Wissenschaften anknüpfen und in alle menschlichen Gebiete eindringen konnte. Das waren doch auf jeden Fall keine Kleinigkeiten! Und diese Bewegung war zwischen sechs Uhr früh und vier Uhr nachmittags aus ihrer Seele entsprungen – in Wahrheit eine leichte Entbindung. Natürlich lag sie noch in ihren Windeln, ihr Charakter war ein wenig unbestimmt, ihre Züge verschwommen – man darf nicht zuviel verlangen – aber da war sie! Und sie hatte mit einem Schlag ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Sie sah in dunklem, aber lockendem Schein eine Perspektive von Zeitungsartikeln, Broschüren, Interviews, Kongressen in Larsbo, Agitationsreisen rund um die Erde, Verfolgung und Ruhm, fanatische Feinde und fanatische Freunde. Sie wäre nicht Frau Professor Anna-Lisas Tochter gewesen, wenn sie diese Zukunft nicht anregend und entzückend gefunden hätte. Wer oder was hatte diese plötzliche Verwandlung bewirkt? Niemand, nichts. Die Natur selbst hatte sie in ihren rechten Zusammenhang mit der Menschheit wiedereingesetzt. Einmal war sie das Opfer der großen, wissenschaftlichen Willmanschen Familie auf dem Altar des schnöden Mammons gewesen. Sie war verkauft worden, wie im Morgenland junge Mädchen an die Harems reicher Wollüstlinge verkauft werden. Aber sie hatte sich aus dem erotischen Schlamm emporgearbeitet, ihr Intellekt hatte triumphiert, ihr Kopf hatte über ihr Herz gesiegt. Sie hatte sich selbst befreit, und sie würde andere befreien. Los von der Erotik! Was es nun war, aber Kleinigkeiten waren es jedenfalls nicht.

Unter solchen Betrachtungen und in einer bald angstvollen, bald freudebebenden Gemütsstimmung ging Frau Olga daran, ihre Mittagstoilette zu bestimmen. Ihre erste Absicht war, keinerlei Änderungen an dem schwarzen und beinahe düsteren Kleid, das sie trug, vorzunehmen. Aber nach einem Blick in den Spiegel fiel es ihr ein, daß ihre Gleichgültigkeit gegen äußeren Tand als eine Unfreundlichkeit gegen das Namenstagskind, Tante Sara, und als eine Unhöflichkeit gegen die weitgereisten Gäste aufgefaßt werden konnte. Mit einem leichten Seufzer begab sie sich in die Garderobe. Während sie nachdenklich von Kleid zu Kleid ging, fast alle schwarz oder zumindest dunkel, entdeckte sie, in eine Ecke weggehängt, ein ganz weißes Kleidchen. Sie nahm es hervor und betrachtete es mit einem wehmütigen Lächeln. Es war ihr letztes Ballkleid als Mädchen, nur ein einziges Mal getragen. Es war natürlich unmodern, sehr einfach und unerheblich dekolletiert, aber, abgesehen von einigen blödsinnigen rosa Bändchen, ganz niedlich. Und das einzig Weiße in der Garderobe. Frau Olga sagte zu sich selbst:

Es ist wahnsinnig, aber ich ziehe es an, weil es mir Spaß macht, es anzuziehen. Ich bin, seit ich mich verheiratet habe, wie eine alte Schachtel herumgegangen. Es ist zwar äußerst kurzärmelig für ein solches Mittagessen, aber wenn ich es nicht wage, einem so lächerlichen Vorurteil zu trotzen, so kann ich gleich einpacken! Und »Los von der Erotik« mit mir! Ich nehme es, wenn es mir nicht zu knapp um die Brust und zu eng um die Hüften ist.

Sie zog sich um und stellte sich vor den Spiegel. Es zeigte sich, daß sie ihre Mädchenfigur so ziemlich beibehalten hatte; nur wenige ganz kleine Änderungen waren nötig. Hatte sie Zeit dazu? Sie sah auf ihre Uhr; sie stand noch immer und gab ihr keine exakten Aufschlüsse, wohl aber den allgemeinen Eindruck, daß es nicht so arg spät sein konnte. Sie ging rasch ans Werk, nahm Schere und Messer zum Trennen zur Hand, und stampfte kräftig auf den Boden, um Lotte Brenner zu rufen, die im Zimmer unter ihr wohnte. Lotte kam im Unterrock und mit zwei kleinen hängenden roten Zöpfchen, die um den kugelrunden Kopf baumelten. Sie betrachtete das Kleid; es wurde nochmals probiert, und Lotte sagte: »Es ist am besten, ich rufe die Willmänner her!« Sie begann also im Hause herumzuirren und kam auch dem Pastor unter die Augen, der sich mit Abscheu abwendete. Endlich fand sie die Willmanmädchen in Lizzys Zimmer versammelt, wo sie noch immer die Ereignisse des Tages diskutierten.

»Wißt ihr was!« schrie sie. »Ollo gedenkt sich weiß anzuziehen!«

All das Seltsame, das der Tag gebracht hatte, schien in diesem Ausruf zu kulminieren! Die Willmanmädchen sanken zusammen, ihre Münder öffneten sich zu einem Ausdruck stumpfen Staunens. Betty erholte sich zuerst, sie steckte die sokratische Nase in die Luft und bemerkte:

»So, weiß! Zweifelt jetzt noch jemand daran, daß sie in Casimir Brut verliebt ist?«

Eine Frage, die eben diskutiert worden war.

Dr. Karolina sagte: »Sie ist nicht verliebt. Da hätte ich etwas bemerkt, und ich habe nichts gemerkt, obwohl ich sie gut im Auge gehabt habe.«

»Sie ist nicht verliebt«, bestätigte Lizzy. »Aber sie ist wütend. Er hat sie irgendwie beleidigt, und sie will ihm zeigen, in was für ein Wespennest er gestochen hat.«

»Wir wollen ihr helfen!« rief die gutherzige Brita. Sie lief voraus, und die anderen folgten ihr, sich in allen Türen drängend und stoßend. Aber als sie in die Nähe der Garderobe kamen, blieben sie stehen und lauschten mit angehaltenem Atem. Frau Olga sang! Sie hatte als Mädchen gesungen, aber nie seit der Hochzeit und auch nicht seit dem Begräbnis. Nun sang sie in ihrer Einsamkeit! Sie sang die Pagenarie aus Figaros Hochzeit; musikalisch nicht einwandfrei, aber mit Gefühl und hörbarem Vergnügen. Die Willmanmädchen traten leise in die Garderobe. Da saß Frau Olga am Nähtisch und trennte die rosa Bänder ab. Ihr Gesicht hatte eine lebhafte Farbe, ihre Augen einen warmen Glanz. Dr. Karolina, als ausgesprochene Gegnerin der Liebeshypothese, befürchtete ein körperliches Leiden.

»Hast du Fieber?« fragte sie.

»Nein«, erwiderte Frau Olga ruhig. »Warum sollte ich Fieber haben? Ich stehe an einem Wendepunkt meines Lebens und fühle mich ein wenig sonderbar. Ich gedenke diesen lieben alten Fetzen anzuziehen. Was sagt ihr dazu?«

»Und du fühlst dich in keiner Weise unwohl?« setzte die Doktorin ihr Verhör fort, aber Lizzy sagte:

»Wir müssen sehen, ob das Ding dir steht.«

Zum drittenmal wurde das halb aufgetrennte Kleid angezogen. Frau Olga drehte sich langsam ringsherum und ließ sich beschauen. Lotte setzte ihr Pincenez rittlings auf den fleischigen Nasenrücken und brummte einen leisen Fluch; Betty stützte das Kinn in die Hand und versank in kritische Bewunderung; Lizzy steckte sich den Mund voll Stecknadeln und begann Falten zu ordnen; Dr. Karolina, noch immer unruhig, ließ ihre Hand an Frau Olgas Rücken hinabgleiten, um zu fühlen, ob er sehr heiß sei; Brita sagte:

»In diesem Kleid sieht sie wie ein Mädelchen aus, das wird die Geschichte zum Klappen bringen.«

»Wieso zum Klappen?« fragte Frau Olga und fügte mit Schärfe hinzu: »Wenn ich fragen darf!«

»Was weiß ich«, murmelte Brita, von der Glut in Frau Olgas Blick und der Majestät ihrer Haltung gebändigt.

Die anderen setzten in Ruhe, aber mit steigendem Interesse ihre Prüfung fort. Betty sagte:

»Ich hoffe, du siehst ein, daß deine Frisur radikal umgestaltet werden muß?«

»Das sehe ich vollkommen ein«, erwiderte Frau Olga. »Ich muß etwas ganz Neues ausfindig machen, und ich glaube beinahe, ich habe eine Idee. Aber wer wird mir dabei helfen?«

»Wir!« riefen die Willmanmädchen, und Lizzy fuhr fort:

»Ich habe Ollos Aussehen eigentlich noch nie nähere Beachtung geschenkt. Faktum ist, daß sie nahezu schön ist und mit kleinen einfachen Mitteln zu einer blendenden Beauté gemacht werden kann. Ich hoffe, Jungens, daß wir alle einen honetten Ehrgeiz haben und in einem Fall, wie diesem, unsere Pflicht kennen?«

So begaben sich alle mit frohem Mut, entschlossen, eifrig, beherzt, kundig, ideenreich, wohl geschult und vorbereitet in Frau Olgas Toilettezimmer. Einige widmeten sich ihr, andere dem Kleid, und alle gaben schöne Proben von Eifer, Geschmack und Verstand. Nach einer Stunde anhaltender stummer Arbeit konnten sie die kleine Frau vor den Spiegel stellen und sagen:

»Nuuun? Was meinst du?«

Sie sah, und sie lächelte, teils vor Freude an dem schönen Bild, teils um die verschiedene Wirkung von einem halben Dutzend Lächeln auszuprobieren. Sie sagte: »Zauberhaft!«

Aber wurde im Nu wieder ernst und ängstlich und rief aus:

»Hat jemand eine Ahnung, wieviel Uhr es ist? Ich glaube, es muß Essenszeit sein. Der Pastor wird untraitabel, wenn er eine halbe Minute warten muß! Gehen wir gleich!«

Darauf riefen die Willmanmädchen aus einem Munde: »Fünf Minuten, wenn wir bitten dürfen! Nur fünf Minuten!«

Und sie stürzten fort – jede in ihr Zimmer und an ihren Toilettentisch. Minuten verrannen Halbdutzend-, dutzend- und schockweise, denn der honette Ehrgeiz der Mädchen war geweckt und stand in voller Blüte und verlangte seine Zeit. Während der Generalagent mit seinem verstummten Vogel aus einer Ecke in die andre wankte, ängstlich dem unglückbringenden Fräulein Alexander ausweichend; während der Magen des Pastors dumpf gurrte, wie die Tauben des Waldes, und seine Zunge die rastlos umherirrende Sara mit verdrießlichen Zurufen quälte; während Casimir in die Gutsrechnungen vertieft dasaß, und einmal ums andere aufsprang, um einen düsteren, unruhigen Blick über das Moor zu werfen; während die Teilnehmer der beiden Rettungsexpeditionen sich einer nach dem anderen in Spilleboda versammelten, um mit Ludwig an der Spitze einen letzten Versuch zu machen, das verschwundene Mädchen, tot oder lebendig, wiederzufinden – arbeiteten die fünf Mädchen munter und flink an fünf Toilettentischen, unbekümmert um Zeit und Geschehnisse. Frau Olga, in ihrem umgewandelten Kleid vom letzten Mädchenball unbeschreiblich zierlich und fein, eilte von der einen zu der anderen, stets bereit, mit Rat und Tat zu helfen, und dabei nie verabsäumend, ihre eigene Person in den verschiedenen Spiegeln mit Wohlgefallen zu betrachten. Nach allem zu schließen, hatte sie für den Augenblick die Sorgen, die erschütternden Ereignisse und großen Gedanken des Tages vergessen.

 

Aber als das Resultat all dieser gewissenhaften Arbeit, dieser Phantasie, dieses Ideenreichtums und Geschmacks sich endlich in gesammeltem Trupp im Speisesaal einfand, konnten die Willmanmädchen nicht umhin, tiefe Enttäuschung zu empfinden. Sie hatten ja keinen Publikumssuccès erwartet, wohl wissend, daß es in Larsbo kein Publikum, das der Rede wert war, gab. Und dennoch hatte das Tete-a-tete mit dem stetig, Minute für Minute immer schöneren Spiegelbild ihnen die vage Hoffnung eingeflößt, mit entzückten Ausrufen, Komplimenten, bewundernden Blicken begrüßt zu werden. Das war nicht der Fall. Der Pastor war zum Platzen wütend, der Generalagent traurig und verstimmt, Fräulein Alexander verdrossen und beleidigt durch den Vergleich zwischen ihrer eigenen grauen Unansehnlichkeit und diesen Prachtblumen, Tante Sara scheu und niedergeschlagen. Casimir Brut, Ludwig und der Pastorssohn fehlten. Das kolossale Mißverhältnis zwischen Absicht und Wirkung mußte eine gewisse Verstimmung, selbst bei diesen gutmütigen, munteren Mädchen hervorrufen, die wirklich keine Mühe scheuten und selbst mit der Bewunderung eines Kuhhirten vorlieb genommen hätten, wenn sie aufrichtig gewesen wäre. Frau Olga allein schien ganz unberührt von dem kühlen Empfang und ging in naiver Selbstbewunderung so weit, daß sie den gereizten Pastor fragte, ob Weiß ihr nicht gut stehe. Glücklicherweise ließ er sich vom Essen den Mund verstopfen; und Frau Olga wendete sich nun an den Generalagenten und ließ die sechs sorgsam ausprobierten Lächeln einander in rascher und graziöser Folge ablösen. Und obwohl nicht einmal dies ein nennenswertes Resultat ergab, schien sie doch froh und zufrieden. Aber als Casimir Brut erst nach der Suppe seinen Einzug hielt, runzelte sie die Stirn und bemerkte schroff:

»Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Elternhaus Brauch gewesen ist, Herr Brut! Aber in meinem mußte man die Mahlzeiten einhalten, oder wenigstens um Entschuldigung bitten, wenn man zu spät kam.«

Brut antwortete ruhig: »Ich habe kein Elternhaus gehabt und bin ein ganz unerzogener Mensch. Aber natürlich bitte ich um Entschuldigung.«

Er nahm neben dem Pastor Platz, der sich ihm zuwendete, indem er sagte:

»Frauenzimmer Pünktlichkeit loben zu hören, ist ebenso rührend, als hörte man den Teufel das Evangelium preisen. Was mich betrifft, so habe ich eine sorgfältige Erziehung genossen, und darum sage ich, daß dieser Braten gut ist, aber sicherlich vor zwei Stunden verdaulicher und schmackhafter gewesen wäre.«

Da er den Braten neben sich hatte, untersuchte er ihn genau, schnitt mit Sorgfalt einige Scheiben ab und aß. Frau Olga nahm ihre Zuflucht wieder zu dem Generalagenten, schenkte fleißig in sein Glas ein und machte ihre Blicke und ihr Lächeln so sinnbetörend als möglich. Schließlich begann der traurige alte Mann Feuer zu fangen, er fächelte mit den Händen, ganz wie der zerbrochene kleine Vogel mit den Flügeln gefächelt hatte, er schaukelte sich auf seinem Stuhl, ganz wie der Vogel aus seinem Pflöckchen, und sein Falsett trillerte und tremolierte.

»Da schau her!« flüsterte Brita Betty zu. »Meiner Seel', schlägt sie nicht Funken aus dem Generalagenten!«

Plötzlich unterbrach Frau Olga das Spiel; sie zuckte zusammen, und mit aufgerissenen Augen fragte sie:

»Wo ist Ludwig?«

»Ja, wo ist Ludwig?« wiederholten die Willmanmädchen.

Fräulein Alexander lächelte überlegen und mitleidig.

»Die Beobachtungsgabe der Damen«, sagte sie, »ist offenbar nicht besonders ausgebildet. Ich kann jedoch mitteilen, daß Herr Ludwig und der Herr Sohn des Herrn Pfarrers an dem Suchgang nach dem ermordeten Mädchen teilnehmen.«

Eine Pause von einer Viertelminute entstand, worauf die sechs Damen vereint aufschrieen: »Dem ermordeten Mädchen? Dem ermordeten Mädchen?« Sechs Soprane, ein Falsett und Fräulein Alexanders Alt ergossen sich nun in einen wirren Strom von Ausrufen, Fragen ohne Antworten und Antworten ohne Fragen. Bis plötzlich Casimir Bruts Stimme den schrillen Lärm durchbrach, dunkel und schmetternd wie ein Donnerschlag.

»Ich möchte doch bitten, keine solchen Dummheiten daherzureden!«

Etwas gedämpfter fügte er hinzu:

»Das Mädchen ist nicht ermordet.«

»So? Nicht ermordet?« wiederholte Fräulein Alexander nach einem Augenblick. Und mit einem vielsagenden Lächeln fuhr sie fort:

»Vielleicht weiß der Herr Verwalter, wo sie sich befindet?«

»Nein«, antwortete er kurz angebunden. »Aber ich nehme an, sie wird schon wieder zum Vorschein kommen. Auf jeden Fall ist es unnötig, jetzt über die Sache zu sprechen.«

»Sooo!« fiel Frau Olga ein. »Warum sollte man nicht über die Sache sprechen dürfen?«

Er sah auf seinen Teller herab, er sah wieder auf, und er sah ihr für eine Sekunde gerade in die Augen. Dann antwortete er mit milder Ruhe und Sanftmut, die sonderbar von dem schroffen Inhalt des Satzes abstach:

»Weil ich es nicht will.«

Frau Olga schwieg, und das Schweigen wurde allgemein. Bis der Pfarrer so viel gegessen hatte, daß der Magen verstummt war und er selbst zu sprechen beginnen konnte.

»Nun, Herr Brut«, sagte er, »was für ein Gefühl ist es, Larsbo zu verlassen?«

Casimir Brut warf einen großäugigen Blick auf Frau Olga, die errötend und ungeduldig ausrief:

»Warum sehen Sie mich so an? Ich habe meinen Freunden erzählt, daß Sie uns verlassen werden.«

Brut nickte, und an den Pastor gewendet, erwiderte er:

»Was für ein Gefühl es ist? Ein schweres Gefühl. Ich habe hier fünfzehn Jahre gearbeitet, ich habe meine beste Zeit hier gehabt. So etwas empfindet man schwer.«

»Warum in Gottes Namen gehen Sie dann?« fragte der Pastor.

Er antwortete: »Man pflegt zu gehen, wenn man hinausgeworfen wird.«

Frau Olga stieß einen Ausruf aus, aber Dr. Karolina schnitt ihr mit einem barschen: »Still, du!« das Wort ab. Und sie sagte:

»Was soll das heißen? Hinausgeworfen? Ollo hat uns gesagt, daß Sie mehr als bereitwillig Larsbo verlassen.«

»Hat sie das gesagt«, gab Brut ruhig zurück, »dann hat sie gelogen.«

»Gelogen!« keuchte Frau Olga.

Aber er bekümmerte sich nicht um ihre Erregung, sondern fuhr fort:

»Wenn ein Mensch zu hören bekommt, daß er überflüssig ist, und daß man ihn los sein will, so kann er natürlich nicht bleiben. Aber er geht dann nicht bereitwillig. Wenn es auch angenehmer klingt, so zu sagen. Frauenzimmer mögen das, was angenehm klingt.«

»Das ist wahr!« gab Lizzy zu. »Ich für meine Person ziehe das, was angenehm klingt, dem vor, was unangenehm klingt. Ganz wie ich das Schöne dem Häßlichen und das Behagliche dem Unbehaglichen vorziehe.«

»Und die Wahrheit?« fiel Brut ein.

Lizzy warf die Lippen auf und senkte die Augenlider in vornehmer Gleichgültigkeit. Betty sagte:

»Es ist leichter, das Angenehme von dem Unangenehmen zu unterscheiden, als das Wahre von dem Unwahren. Darum ist es am klügsten, sich an das Angenehme zu halten. Das Risiko, gefährliche Irrtümer zu begehen, ist wesentlich geringer.«

»Nein«, sagte Brut und senkte den Kopf, so daß der schwarze Bart sich über das Tuch ausbreitete. »Auf das Risiko kommt es nicht an. Frauen fürchten sich nicht vor dem Risiko, das kann man ihnen nicht nachsagen. Aber sie mögen die Wahrheit nicht, sie verstehen sich nicht auf sie und wissen nicht, was sie mit ihr anfangen sollen. Sich an die Wahrheit halten, das heißt ja, einzig und allein Rücksicht auf Tatsachen nehmen und sie gelten lassen, ob sie nun angenehm oder unangenehm sind. Frauen nehmen nur Rücksicht darauf, wie die Sachen und Dinge nach ihrem Geschmack sein sollten. Wenn ein Mann eine bucklige Frau hat, so findet er, daß sie häßlich ist, was das Äußere betrifft. Wenn eine Frau einen buckligen Mann hat, so findet sie, daß er ungewöhnlich gerade gewachsen ist. Was natürlich nicht hindert, daß sie andere und größere Fehler an ihm findet. Aber solche, die er nicht hat. Es gibt nichts, was sie nicht hinzu- oder weglügen können. Männer können auch lügen, wenn sie dazu gezwungen sind. Aber die Wahrheit ist für sie Granit; sie müssen sie fortsprengen. Frauen wedeln sie mit dem Taschentuch weg.«

»Der Herr ist bitter«, fiel der Pfarrer ein, »und das wäre ich auch, wenn ich von dem einen oder anderen kleinen Zierpüppchen hinausgeworfen wurde. Und damit spiele ich nicht speziell auf die Gnädige an, sondern auf junge Frauenzimmer im allgemeinen, die, wenn sie in ein gewisses Alter gekommen sind, die süßen Liebesworte durch allerhand Redensarten ersetzen. Wenn eine Frau sagt: ›Ich liebe dich!‹, so meint sie, daß der Betreffende sie in die Arme nehmen soll. Aber wenn sie sagt: ›Rette die Menschheit!‹, so meint sie akkurat dasselbe.«

»Und wie ist es mit den Männern?« fragte Betty. »Wenn ein Mann zu seiner Frau sagt: ›Wie schön du bist!‹, so meint er: Bin ich nicht ein stattlicher Kerl? Und sagt er: ›Rette die Menschheit!‹, so meint er akkurat dasselbe. Es gibt vielleicht einen Unterschied, aber der ist kaum zu finden.«

»Ich möchte bitten!« schmetterte plötzlich Dr. Karolinas Stimme scharf und unheilverkündend. »Ich möchte doch bitten, daß Herr Brut sich erklärt! Herrn Bruts traurige Erfahrungen mit der weiblichen Lügenhaftigkeit sind wahrhaftig nicht besonders schmeichelhaft für uns Damen in Larsbo. Wir gedenken uns nicht mit irgendwelchen dunklen Andeutungen zufrieden zu geben. Bitte sehr!«

Brut antwortete langsam: »Ich brauche meine Erfahrungen ja nicht in Larsbo gemacht zu haben. Ich habe sie schon aus meiner Kindheit. Mein Vater und meine Mutter waren nicht verheiratet, wohl aber heiratete meine Mutter, kurz nachdem ich geboren wurde, einen anderen Mann. Das wollte meine Mutter nicht wahr haben. Sie wollte nicht, daß es so sein sollte. Und obwohl das ganze Dorf wußte, daß ich der Sohn eines Knechts und nicht eines Bauern war, zwang sie meinen alten Stiefvater, so zu tun, als wenn ich sein Sohn wäre. Ich hätte weniger Sticheleien einstecken müssen und wäre besser behandelt worden, wenn sie mir ein Plakat mit der genauen Angabe meiner Geburt umgehängt hätte. Aber wenn eine Frau mit einem halben Pfund Wahrheit auskommen kann, so verwendet sie lieber zehn Pfund Lüge. Hat sie ein Loch in ein Tuch gebrannt, so hat der Blitz eingeschlagen. Hat sie einen Teller zerbrochen, so war's ein Erdbeben. Hat sie das begangen, was man einen Fehltritt nennt, so muß sofort die ganze Menschheit gerettet werden. Denn wie hätte sie einen Fehltritt begehen können, wenn die Menschheit nicht in Grund und Boden verderbt wäre? Alles wird so groß und unverhältnismäßig, infolge ihrer starken Phantasie und ihrer Geringschätzung für kleine einfache Tatsachen. Sind diese noch dazu unerquicklich, so dürfen sie absolut nicht existieren. Ihre Phantasie dichtet den unbedeutendsten Vorgängen die gräßlichsten, unmöglichsten Konsequenzen an. Wenn ihr allergeringstes Geheimnis verraten wird, steht sofort die Welt in Brand. Und das schlimmste ist, daß diese ihre Phantasie suggestiv ist und die ganz besondere Gabe hat, andere Leute in Bewegung zu setzen und sie dazu zu bringen, Dummheiten anzustellen. Nehmen wir ein Beispiel. Sagen wir, daß einer Frau ein verhältnismäßig unbedeutendes Malheur passiert ist. Sie hat einen wertvollen Gegenstand zerschlagen, zum Beispiel eine kostbare Vase –«

Gerade in diesem Augenblick ereignete sich ein ähnliches Unglück: Frau Olga stieß ein Blumenglas um, das vor ihr stand. Das war ein eigentümliches Zusammentreffen, aber es erregte an und für sich weniger Erstaunen als Frau Olgas erschrockener Ausruf:

»Casimir!«

Die Willmanmädchen, trotz ihres Leichtsinns durch eine ungewöhnliche Selbstbeherrschung bekannt, schnellten von ihren Stühlen in die Höhe; der Pastor räusperte sich dumpf; Fräulein Alexander öffnete den Mund weit, als hätte sie sagen wollen: Aha! Der Generalagent rückte hastig ab, denn in Frau Olgas Stimme lag eine energiegeladene Drohung. Aber Casimir Brut bemerkte ruhig:

»Ich meinesteils ziehe die Wahrheit vor, angenehm oder unangenehm. Die unangenehmste Wahrheit macht noch immer weniger Scherereien als die angenehmste Luge.«

Nun brachten die drei niedlichen Mädchen den Kaffee, die Liköre, die Zigaretten herein. Während diese Gottesgaben verteilt wurden und die ersten Rauchwolken sich über dem Tische kreuzten, herrschte ein gedankenvolles Schweigen. Die heftig erregten Willmanmädchen begannen einander bedeutungsvolle Blicke zuzuwerfen, verbunden mit gewissen geheimnisvollen Grimassen, die die Zeichensprache der Familie bildeten. Frau Olga saß ganz still da und sah gerade vor sich hin; in dem weißen, etwas jugendlichen Kleidchen sah sie wie ein Mädelchen aus, das zum erstenmal unter großen Leuten sein darf.

Das Schweigen wurde von dem Pastor gebrochen, der sagte:

»Ein gutes Wort ist dieses: Was du sagst, sei wahr, aber sage nicht alles, was wahr ist. Ich sage gerne die Wahrheit, aber ich tue es in manierlicher Weise und verletze niemanden. Das ist meine Methode. Aber der Herr dürfte nicht im Besitz von sehr viel Lebensart sein.«

»Das bin ich wohl nicht«, gab Brut zu. »Ich habe in dieser Richtung nicht viel gelernt.«

»Die Kindheit des Herrn«, fuhr der Pastor fort, »scheint auch von betrüblicher Art gewesen zu sein. Der Stiefsohn eines Bauern und der uneheliche Sohn eines Knechts zu sein, das ist ein übler Anfang. Ich nehme an, daß der richtige Vater des Herrn sich nicht viel um ihn gekümmert hat?«

»Das konnte er nicht«, antwortete Brut. »Er kam ins Gefängnis, als ich ein paar Jahre alt war, und er starb im Gefängnis.«

»Das wird ja immer schöner!« sagte der Pastor. »Darf man fragen, warum er ins Gefängnis kam?«

»Wegen Mord«, antwortete Brut.

»Ich muß sagen«, fuhr der Pastor nach einem nachdenklichen Schweigen fort, »ich muß sagen, daß solche Prämissen zu einer schlechteren Konklusion hätten führen können, als sie der Herr darstellt. Aber jetzt muß uns der Herr ein bißchen von all dem erzählen!«

»Nun ja«, sagte Casimir Brut und strich den Bart vom Tisch. »Wenn jemand etwas daraus lernen kann, so kann ich es schon erzählen.«

Hie und da von den Fragen des Pastors und den Einwürfen der Damen unterbrochen, erzählte er die Geschichte ungefähr wie folgt:

 


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