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Frau Olga Janselius saß an ihrem halboffenen Schlafzimmerfenster und betrachtete etwas, das Anlaß zu verschiedenen Gesprächen, noch mehr Geschichten und allerlei Verwicklungen geben sollte. Die Morgentoilette der jungen Frau war nicht abgeschlossen. Sie trug einen Frisiermantel, und das schwarze Haar hing in einem ziemlich dicken Zopf über den Rücken. Gerade als dieser Zopf gelöst werden sollte, hatte die Kammerjungfer an dem Halse ihrer Herrin, gleich unter dem rechten Ohr, einen kleinen Ausschlag, einen sogenannten »roten Wurm« entdeckt. Dieses Übel wird nach Ansicht der Kammerjungfer durch einen kleinen, aber energischen Wurm verursacht, der sich in die menschliche Haut einbohrt, wobei er eine ausgesprochene Vorliebe für junge und zarte Haut zeigt. Er ist mehr lästig als gefährlich, aber muß auf jeden Fall ausgerottet werden, und dafür haben die Weisen ein ausgezeichnetes Mittel im »Kuckucksspeichel« gefunden. Der Kuckuck lebt nämlich von Würmern, und sein Speichel, den man überall auf Gräsern und Kräutern findet, ist für den Wurm ein tödliches Gift. So weit die Kammerjungfer. Frau Janselius benützte die Gelegenheit, ein wenig Aufklärung zu verbreiten. Der sogenannte Kuckucksspeichel hat nichts mit dem Kuckuck zu tun, sondern ist eine schleimige Flüssigkeit, mit der die Larve der Schaumzikade – Aphrophora spumaria – sich umgibt. Worauf Bolla, die Kammerjungfer, erwiderte, daß, ob das Zeug nun von einem Kuckuck oder einer Larve ausgespien sei, sie jedenfalls den elenden Wurm damit vertreiben werde. Und sie begab sich in fliegender Eile von dannen, ein herzzerreißendes Liedchen von einer sehr unglücklichen Liebe trällernd. Soweit war alles gut und schön.
Aber als das Mädchen über den Hof gelaufen war und gerade um die Ecke des Flügels biegen wollte, begegnete sie einem jungen Burschen. Und diese Begegnung machte ihrer eiligen Geschäftigkeit ein Ende. Frau Janselius kannte den Burschen nicht, aber sie nahm an, daß er ein Saisonarbeiter sei, zum Torfausstechen aufgenommen. Ferner nahm sie an, daß Bolla stehengeblieben war, um irgendwelche Aufschlüsse bezüglich des Kuckucksspeichels einzuholen. Die erstere Annahme war richtig, die letztere dagegen nicht. Gewisse herausfordernde Bewegungen von seiten des jungen Mannes, gewisse weiche Schlängelungen des Mädchens überzeugten sie, daß das Gespräch eine galante Wendung genommen hatte. Frau Janselius seufzte. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund und bestrich den roten Wurm mit ihrem eigenen Speichel – denn auch das soll gut sein –, worauf sie ihren Zopf auflöste, ihr Haar kämmte und es aufsteckte. Sie seufzte noch einmal und kehrte zum Fenster zurück. Das Paar war verschwunden, aber ein Zipfel von Bollas blaugestreiftem Rock lugte hinter der Hausecke hervor, und ab und zu kam ein kräftiger, gebräunter Ellbogen zum Vorschein. Die Unterredung dauerte also fort.
Wäre Frau Janselius eine tatkräftig eingestellte Natur gewesen, so hätte sie natürlich das Fenster weit aufgerissen und die Säumige mit wenigen kräftigen Worten zurechtgewiesen. Leider war sie eine Person von mehr wissenschaftlicher Veranlagung. Als einer leidenschaftlichen Statistikerin fiel ihr sofort ein, daß hier ein großes Feld für wissenschaftliche Untersuchungen brachlag. Wieviel Zeit opfert der Mensch seinem Liebesleben? Rasch teilte sie das Arbeitsgebiet in drei Felder: 1. Zeit für Liebeshandlungen (Tanz, Liebkosungen, Paarung); 2. Zeit für Liebesreflexionen und Vorbereitungen (Ausschmückung, »Träumereien«, erotische Bücher und Theaterstücke); 3. Liebesgespräche (»Flirt«, bis zur Grenze des Heiratsantrags, wo man bereits auf soziales Gebiet gerät). Frau Janselius beschloß, sofort eine erste Furche auf dem dritten Felde des großen Gebiets zu pflügen. Sie eilte zum Nachtkästchen und riß die kleine Damenuhr aus ihrem Lederetui. Die kleine Damenuhr stand. Sie blickte zu der großen Uhr auf dem Türsims auf. Stand. Sie wandte sich der Minervauhr zu, einer Konsoluhr von Per Henrik Beurling. Minerva stand. Frau Janselius hatte einen allgemeinen Eindruck von mangelhafter Genauigkeit, von Schlamperei, von Leichtsinn – dem heimtückischsten Feind der Wissenschaft. Dann erinnerte sie sich der Weckeruhr. Auch sie stand, aber sie konnte im Nu aufgezogen werden. Mit diesem bescheidenen, aber nützlichen Instrument in der Hand, nahm sie wieder am Fenster Platz.
Frau Olga Janselius, Tochter der bekannten Professorin Anna-Lisa Willman und ihres Gatten, des Professors, Schwester der Frau Doktor Karolina Willman und der Schriftstellerin Anna-Lisa Djurling, Kusine der Dozentinnen Betty Willman und Lotte Brenner, sowie der Bibliothekarin Lizzy Willman, war selbst, wie schon erwähnt, von wissenschaftlicher Veranlagung und war auch nicht ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz gewesen. Aber eine in mehr als einer Hinsicht unglückliche Ehe hatte diesen Ehrgeiz in Launen und Einfälle aufgelöst, die manchmal ein gewisses Cachet von Verrücktheit annehmen konnten, das der Wissenschaft so fremd ist. Und dennoch hatte ihre Ehe, wenn nicht der Wissenschaft direkt, so doch wenigstens einigen ihrer Jünger Nutzen gebracht. Zu einem Zeitpunkt, wo die großen Repräsentationskosten der Frau Professor Willman die gar nicht so unbedeutenden Einkünfte des Herrn Professor-Chirurgen zu übersteigen drohten, war ein gewisser Jan-Petter Janselius unter das Messer des Professors geraten und nach einer gelungenen Gallenstein- oder Nierensteinoperation in den Verkehrskreis der Frau Professor einbezogen worden. Seine Geschichte kann nicht alltäglich genannt werden.
Er war der jüngste Sohn eines vermögenden Bergwerksbesitzers, des Oberschöffen Erik Jansson auf Lilla Klockeberga. Einige Mitglieder dieser Familie hatten sich Janselius geschrieben, und da Jan-Petter für das gelehrte Studium bestimmt war, nahm er den gelehrten Namen an. Nach einjährigem Aufenthalt an der Universität fuhr Jan-Petter nach Paris. Der Vater war gestorben und hatte ein bedeutendes Vermögen hinterlassen, das sich auf vier Kinder verteilte. Jan-Petter nahm seinen Anteil in Bargeld, und als acht Jahre ins Land gegangen waren, hatte dieses Bargeld sein Ende erreicht. Er kehrte in die Heimat zurück, verwandelt. Als ein rothaariger, sommersprossiger, stumpfnasiger Bauernbursch war er ausgezogen, als ein blasierter, magerer, ältlicher Herr, mit einem kohlschwarzen Haarkranz um den kahlen Schädel, kohlschwarzen Brauen, gebogener Nase, kohlschwarzem Schnurrbart und ebensolchem Spitzbart kehrte er zurück. Eine noch größere Verwandlung stand bevor. In der Nähe von Lilla Klockeberga liegt das Brennersche Gut Larsbo. Das gehörte der kinderlosen Witwe des Grafen Henrik Brenner, einer Dame in Schwarz. Die letzten Jahre ihres Lebens widmete sie mit heiligem Eifer der Religion und errichtete in einem der Flügel des Schlosses eine Missionsschule. Eine Scheune wurde für die Bekehrungsversammlungen eingeräumt. Der beschäftigungslose, gelangweilte Viveur, der bei seinem ältesten Bruder das Gnadenbrot aß, erschien bei diesen Zusammenkünften zuerst als Zuhörer, dann als Bekehrter und Glaubenszeuge, dann als Redner. Schließlich wurde er der Leiter der Missionsschule. Die Gräfinwitwe begegnete allen Einwänden gegen diese Ernennung mit den Worten: »Er ist ein Mann, der viel geliebt und viel gelitten hat.« Auf ihrem Totenbett ließ sie sich mit Jan-Petter Janselius trauen und überließ das Gut und die Schule seiner Obhut. Die Schule verschwand noch vor Ablauf des Trauerjahres. Jan-Petter hatte sich wiederum verwandelt. Seine Religiosität war nun hochkirchlich.
Außerdem war er Genealoge geworden und stellte mit Hilfe einiger Berufsgenealogen den Stammbaum der Familie Janselius fest, wobei er auf den eigentümlichen Umstand hinwies, daß das Familienoberhaupt in jeder zweiten Generation den Namen Erik geführt hatte, was auf eine Abstammung von dem Erikschen Königsgeschlechte hindeuten konnte. Eine Hypothese, die er jedoch nicht verfechten, sondern nur aufwerfen wollte. Im übrigen war sein Hauptinteresse in diesen Jahren die Kunst. Sein Geschmack war nicht schlecht, und er hatte sich in bezug auf Kuriositäten eine gewisse Sachkenntnis erworben. Er sammelte und sah bei seiner Wahl mehr auf den Inhalt als auf die Form. Das erotische Motiv war sein Leitstern, und der strahlte ebenso klar aus einer griechischen Vase wie aus einem Lautrecschen Blatt.
Mit einigen fünfzig Jahren verheiratete er sich mit der zwanzigjährigen Olga Willman. Er war verliebt. Das Mädchen war mager, aber ziemlich kräftig gebaut, sie hatte große Hände und Füße, das Gesichtsoval war vollendet, die Nase schön gebogen, die Augen dunkel und schillernd, ein klein bißchen blinzelnd, die Stirn ziemlich niedrig, aber mit einer sehr ungebärdigen, lustigen dunklen Locke geschmückt. Die großen Hände, die schlenkernden kantigen Bewegungen, die schillernden Augen und vor allem die ungebärdige Locke gaben ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Knaben, und Jan-Petter, der des reingezüchtet Weiblichen müde zu werden begann, fand sie anziehend. Aber er wollte sie unter keiner Bedingung heiraten. Ebensowenig wollte sie ihn heiraten. Die Professorin, die die Partie wünschte, brauchte jedoch weder einen Machtspruch noch Überredungskünste anzuwenden. Um ihre Taktik recht zu verstehen, muß man Mutter sein, und wir begnügen uns damit, die Tatsache zu konstatieren: die jüngste Willman verheiratete sich mit Jan-Petter Janselius auf Schloß Larsbo.
Vor Schließung der Ehe setzte Jan-Petter einen Schenkungsbrief auf, der das Eigentumsrecht an Schloß Larsbo auf den Neffen seiner ersten Frau, der verwitweten Gräfin Brenner, den damals kaum zehnjährigen Grafen Ludwig Battwyhl übertrug. Das Erträgnis und das Nutznießungsrecht behielt sich Jan-Petter für Lebenszeit vor, und es sollte nach seinem Tode auf seine Witwe übergehen, solange diese keine neue Ehe schloß. Dagegen erhob die Frau Professor Einwände, erhielt aber eine Erklärung von so zynischer Offenherzigkeit, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben einen ausgesprochen ungeordneten Rückzug antrat. Nichtsdestoweniger hatte die Willmansche Familie keinen Grund, diese Heirat zu bedauern. Larsbo war einträglich, der Verwalter, Casimir Brut, ein tüchtiger Mann, und Jan-Petter selbst allerdings geizig, aber nachgiebig. Diese Nachgiebigkeit war ganz und gar das Verdienst der Frau Professor. Schwiegermutter und Schwiegersohn brachten einander eine schwärmerische, etwas süßliche Zuneigung entgegen. Sie fanden sich in vollkommener Sympathie, sie hegten beide dieselbe Neigung für alles, was offiziellen Glanz besaß oder Aussicht hatte, einmal diesen Glanz zu erlangen. Sie hatten beide die großen Fragen des Lebens gelöst und konnten sich nun in Ruhe den kleineren widmen; sie waren beide zahnlos und geschlechtslos und brauchten nichts voreinander zu verbergen; sie bekannten sich zu denselben ethischen und ästhetischen Ansichten, außer in bezug auf Weine, worin Jan-Petter einen verfeinerteren Geschmack zeigte; sie liebten beide das Schöne und Gute, namentlich in seinen pikanten Formen; sie schwärmten beide für genialische und wohlgestaltete Jugend beiderlei Geschlechts. Studenten und Studentinnen, junge Künstler und Literaten, die dem Willmanschen Familien- oder Freundeskreise angehörten, brauchten nicht mehr auf öffentliche Mäzene Rücksicht zu nehmen. Die Professorin, die gerne ein bißchen frondierte, belohnte im Gegenteil die jugendliche Oppositionslust, namentlich wenn sie zu einem kleinen Skandal führte. Sie hatte ein entzückend heiteres Temperament. Durch ein Dezennium konnte Larsbo als eine Stiftung zu Nutz und Frommen der Wissenschaft gelten und außerdem als ein Erholungsheim für junge Wissenschaftler. Man hat also Anlaß, zu vermuten, daß die Janselius-Willmansche Ehe die freie Forschung in unserem Lande wesentlich gefördert hat.
Die junge oder noch junge Frau, die jetzt mit dem Wecker in der Hand die Normalzeit für ein Liebesgespräch zu bestimmen suchte, mochte hingegen weniger Grund gehabt haben, diese Verbindung zu preisen. Jan-Petter war, rein herausgesagt, ein schlechter Ehemann. Die Pflichten, die in das Gebiet des intimen Zusammenlebens fallen, sollen hier nicht berührt werden, namentlich da Jan-Petter schon vor der Hochzeit seine Ungeneigtheit in besagter Hinsicht ausdrücklich betonte. Aber ein Mangel in einer Richtung kann ja in gewissem Maße durch den Überschuß in einer anderen wettgemacht werden. Die Herrin auf Larsbo hatte sich Rechnung auf ein komfortables Leben, Vergnügungen, Schmuck, Reisen machen können. Ihre Ansprüche – wenn sie sie vorbrachte – wurden nicht erfüllt. Seiner Frau gegenüber kam Jan-Petters natürlicher Geiz zu seinem Recht. Sie wollte nicht um Geld und Kleider betteln und bekam auch keine. Die armen jungen Leuchten der Wissenschaft, die im Sommer ihre Gäste waren, prunkten in der schönsten Sommerherrlichkeit, bestritten von Larsboer Geld, aber die Herrin von Larsbo selbst trug ihre verblaßten, abgetragenen, unzählige Male gewaschenen Baumwollfähnchen. Im Winter, den das Ehepaar meist allein verbrachte, war sogar das Essen knapp. Jan-Petters zarte Gesundheit verlangte eine besondere Diät, und die eßlustige junge Frau mußte an den Hungerpfoten saugen. Auch blieb sie mager und eckig bis zu dem Tod des Mannes, um dann während des Trauerjahres in beinahe beunruhigender Weise zuzunehmen. Und daß sie noch zwei Jahre nach dem Tode des Mannes Schwarz trug, war weniger der Pietät als dem Umstand zuzuschreiben, daß die Trauergarderobe die erste war, die sie sich auf eigene Hand und aus eigener Börse angeschafft hatte. Sie war auch außerordentlich schön und reichhaltig ausgefallen und so gut wie unverwüstlich.
Ein eigentümlicher Zufall oder vielleicht ein höherer Ratschluß fügte es so, daß Jan-Petter und seine Schwiegermutter an einem und demselben Tage das Zeitliche segneten, es lagen nur ein paar Stunden dazwischen. Man kann vielleicht wagen, anzunehmen, daß das Band, das diese beiden Seelen vereint hatte, stark genug gewesen war, um dem trennenden Hieb des großen Zerstörers zu trotzen. Wie dem auch sei, Frau Olga war mit einem Schlage einer doppelten Vormundschaft los und ledig geworden. Die Trauer machte sie nicht blind gegen diesen Vorteil, und sie sagte sich selbst, daß sie nun ein neues Leben, erfüllt von großen und starken Interessen, beginnen werde. Aber sie fand sich in der neuen Freiheit schlecht zurecht. Ihre Liebe zu Büchern war Jan-Petter ein Dorn im Auge gewesen, und um ihre Selbständigkeit irgendwie zu bekunden, hatte sie studiert wie ein Prüfling: Nächte hindurch war sie bäuchlings dagelegen, den Kopf zwischen die Hände gepreßt, das Buch unter der Nase, und hatte gebüffelt. Jetzt erschien ihr das Lesen zwecklos. Das Schicksal hatte sie zur Herrin eines großen Gutes gemacht, und sie wollte sich ganz seiner Bewirtschaftung widmen. Eine vielseitige und verantwortungsvolle Arbeit. Aber halt! Da stand Casimir Brut, der Gutsverwalter, auf dem Posten.
Er war ein Mann, über den man sich möglicherweise hinwegsetzen, aber an dem man schwerlich vorbeikommen konnte. Seine Schulterbreite war verblüffend, beinahe mißgestaltet, die Größe weniger imponierend, die Schwere ansehnlich. Die Stirn war nicht besonders hoch, aber breit und glatt wie eine gehobelte Planke. Die Augen hatten einen starken und meist zornigen Blick, gemildert durch ein beständiges Zwinkern, das zu sagen schien: Na, ich bin ja nicht so schlimm – aber nehmt euch in acht! Der Bart war ein Prachtstück. Dunkelbraun, von Armeslänge, schwellend und wohlgepflegt. Manchmal tunkte er ihn in die Suppe und wand ihn dann langsam und sorgfältig aus, wobei er genau aufpaßte, daß die Tropfen wieder in den Teller zurückfielen. Sonst war er ein gesitteter Mann, und wenn Frau Olga ihm mit ihren verschiedenen Vorschlägen und Reformen kam, hörte er zu. Die junge Frau entwickelte ihre Vorschläge mit einer Klarheit, die in einer breiten, gesunden, klaren und geschulten Logik wurzelte. Aber daß sie unruhig und eifrig war, konnte man daran sehen, daß sie beide Zeigefinger in die Höhe gestreckt hielt, ganz wie eine Geisha in einer Operette. Wenn sie fertig war, blinzelten sie einander gut eine Minute zu – aber nicht verständnisinnig.
Casimir Brut sagte:
»Meinetwegen. Aber dann gehe ich.«
Und das konnte ja nicht in Frage kommen.
Frau Olga mußte etwas anderes ausfindig machen. Der Tag wurde leer. Jan-Petter hatte immer irgendein kleines Ärgernis in der rückwärtigen Rocktasche gehabt, gewöhnlich mit einem gewissen Quantum Spannung und einem gewissen Quantum Überraschung versetzt. Kaum einen Abend ihrer zehnjährigen Ehe war sie zu Bett gegangen, ohne zu ihrem Spiegelbild zu sagen: Nein, so was! Und dieses kleine Nein, so was! war doch eine Würze gewesen. Der Tag wurde fade. Die letzte Bosheit, die Jan-Petter ihr angetan, war diese gewesen:
Wie schon erwähnt, hatte Jan-Petter in der letzten Periode seines Lebens Kunstwerke gesammelt, die ihn durch ihre Motive an die erste Periode erinnern konnten. Die Sammlung bestand hauptsächlich aus Kupferstichen, Holzschnitten, Mezzotinten, Radierungen, Zeichnungen, alles in allem über dreihundert Nummern. Sie nahmen einen bedeutenden Teil der Wandflächen der Zimmer ein. Ungefähr die Hälfte war von der Art, daß sie sich trotz des mehr oder weniger lasziven Motivs immerhin sehen lassen konnte. Bei der anderen Hälfte überschritt – wenn der Ausdruck gestattet ist – das Unanständige die Grenzen der Anständigkeit. Jan-Petter verteidigte seinen Schatz mit dem Bibelwort, das das Laster gerne im Munde führt: Dem Reinen ist alles rein. Leider mußte Olga gestehen, daß ihre Reinheit die Probe keineswegs bestand. Sie verabscheute diese ganze Schaustellung, und da Jan-Petter vergessen hatte, in seinem Testament – das im übrigen mit ärgerniserregenden Punkten und Klauseln gespickt war – den teuren Schatz zu schirmen, beschloß sie, ihn aus dem Hause zu schaffen. Ihn verbrennen konnte sie nicht mit gutem Gewissen, dazu war sein materieller Wert zu groß. Aber sie konnte ihn dem Nationalmuseum stiften, in dessen geschlossenen Mappen er den armen Forschern zugute kommen konnte, die ihre kunsthistorische Pflicht zwang, im Schmutz zu waten. Folglich nahm sie mit fröhlichem und rachgierigem Sinn eine Sichtung vor, trennte die Schafe von den Böcken, die Unanständigen von den Unanständigsten, nahm die letzteren von den Wänden, löste die Blätter aus den Rahmen, schichtete sie auf und – machte eine Entdeckung. Auf die Rückseite dieser Laszivitäten hatte Jan-Petter mit zittriger, aber leserlicher Schrift geschrieben: »Meiner geliebten Frau, Olga Janselius, geb. Willman.« Hie und da mit einem Zusatz: »An ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag.« »An ihrem Namenstag usw.« Eine Radierung, deren Dunkel vergeblich ein noch dunkleres Laster zu verbergen suchte, trug die Aufschrift: »Zur Erinnerung an unsere Hochzeitsnacht!«
Wann hatte der schnurrige Herr ihr diesen Schabernack gespielt? Wer weiß! Vielleicht nach seinem Tode. Ein Versuch, die Widmungen auszuradieren, mißlang, und die Blätter wurden in einer Bodenkammer verstaut. Frau Janselius hatte nicht den Mut, durch ein Brandopfer der kunsthistorischen Forschung einen, sei es auch geringfügigen Verlust zuzufügen. Die Nachwelt würde eine sonderbare Vorstellung von dem Geschmack der jungen Frau erhalten, darein mußte sie sich eben finden. Leider sollte schon das Urteil der Mitwelt durch Jan-Petters satanischen Einfall irregeführt werden. Eines Tages entdeckte Ludwig Battwyhl den Schlupfwinkel und unterzog die Blätter einer genauen Prüfung. Er hatte sie noch nie gesehen oder wenigstens noch nie bemerkt. Denn wer bemerkt das, was an den Wänden hängt? Er zeigte sie seinem Freund Casimir Brut. Dann fiel ihm ein, daß Lotte Brenner sie sehen müsse. Trotz ihrer Dozentur und obwohl sie immer mit einem anatomischen Handatlas unter dem Kopfkissen schlief, hielt er sie für außergewöhnlich unwissend und dabei dumm. Er schleppte das dicke Mädchen in die Dachkammer hinauf, setzte sie auf den staubigen Boden und umgab sie mit einhundertfünfzig erotischen Akten. Es zeigte sich, daß sie tatsächlich unwissend war, aber wißbegierig. Ludwig dozierte. Nach einer knappen Stunde des Unterrichts wurden Lehrer und Schülerin von Frau Olga überrascht. Sie sah ihr Geheimnis verraten, ihr Herz stockte, ihre Pulse hörten auf zu schlagen, ihre Zeigefinger erhoben sich und wiesen himmelwärts. Sie wollte sich lautlos zurückziehen, aber ihre Gemütserregung entlud sich in einer ganzen Serie kräftiger Nieser. Da stürzte sie in die Kammer hinein, packte Ludwig beim Schopf, schleppte ihn auf den Dachboden hinaus und ohrfeigte ihn.
Später nahm sie ihn ins Verhör. Hatte er die Blätter noch jemandem, außer Lotte, gezeigt? Ja, dem Verwalter Casimir. Da fing sie zu weinen an, ging zu Bett und zeigte sich an diesem Tage nicht mehr. Aber am folgenden nahm sie ihn wieder ins Verhör. Ludwig bekannte noch ein Verbrechen: er hatte die Blätter Brita Djurling gezeigt. Brita Djurling – einem siebzehnjährigen Mädchen! Warum hatte er das getan? Darüber konnte er keine klare Auskunft geben, aber er meinte, er hätte es getan, um das Mädchen, das von Natur etwas schläfrig war, ein bißchen aufzupulvern. Bei diesem Geständnis drehte sich Frau Olga plötzlich um, nicht aus Scham, sondern weil sie ganz deutlich Jan-Petters kicherndes Lachen hinter ihrem Rücken gehört hatte. Eine Gehörstäuschung. Noch immer mit abgewandtem Gesicht fragte sie, ob er ihnen auch die Widmungen gezeigt hatte.
Was für Widmungen?
Die Widmungen auf der Rückseite.
Nein, die Rückseite hatte er gar nicht angesehen. Er machte einen Schritt auf die Türe zu, vermutlich um hinaufzugehen und das nachzuholen, aber Frau Olga hielt ihn zurück. Sie nahm ihn in die Arme und küßte ihn auf die Wange. Er war neunzehn Jahre und ein großer Nichtsnutz, der dreimal bei der Matura durchgefallen war. Aber er hatte einen Vorzug: er war unglaublich wahrheitsliebend. In der Schule hatte er durch seine Aufrichtigkeit eine herostratische Berühmtheit erlangt, und das Lehrerkollegium hatte bei ein paar causes célèbres ernstlich die Frage erwogen, ob der Knabe nicht in eine Anstalt für Schwachsinnige gebracht werden sollte. Diese unbestechliche Wahrheitsliebe war für den Augenblick und für Frau Olga von großem moralischem Wert. Der Junge hatte die Widmungen nicht gesehen, und folglich wagte sie zu hoffen, daß auch die anderen sie nicht gesehen hatten. Gewißheit war jedoch nicht zu erlangen, und von diesem Tage an wurde sie noch empfindlicher gegen alle Anspielungen und Zweideutigkeiten, die sich möglicherweise auf ihre Sittlichkeit beziehen konnten. Oder richtiger gesagt – noch geneigter, in den unschuldigsten Worten Anspielungen und Zweideutigkeiten zu finden.
Hinter dieser Empfindlichkeit und Argwöhnischkeit, die ein bißchen lächerlich erscheinen konnte, steckte ein zehnjähriges Leiden, ein gut verborgenes, aber lebhaftes Gefühl der Scham. Die Frau eines Libertins ist oft dem Mitleid ausgesetzt, immer dem Verdacht. Die Willmansche Familie, die zum nicht geringen Teil von Frau Olgas Ehe lebte, würde ihre eigene moralische Grundanschauung verleugnet haben, wenn sie diese Ehe gebilligt hätte. Ein laut ausgesprochenes Verdammungsurteil wäre eine Unverschämtheit gewesen, aber das moralische Gewissen ist beim Menschen (und bei wohlerzogenen Hunden) so stark, daß es sich aus Rücksicht auf materielle Vorteile nie gänzlich unterdrücken läßt. Wo die Opposition gegen das Unmoralische keine groben Ausdrucksformen annimmt, nimmt sie eben feine an. Um Frau Olgas Leben zwischen Jan-Petters Hochzeit und seinem Begräbnis recht zu schildern, um ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung und ihren Seelenzustand erschöpfend zu erklären, müßte man einige hundert pikante Situationen wiedergeben, einige tausend Wortspiele, witzige Einfälle, zum Lachen reizende Bemerkungen zitieren. Es lag sicherlich keinerlei Bitterkeit oder Bosheit in diesen Neckereien. Die Familie hatte nun einmal die moralische Mesalliance mit allen ihren Konsequenzen geschluckt und konstatierte nur mit lächelnder Wehmut, daß es einem ihrer Mitglieder an höherem, sittlichem Gehalt gebrach.
Dieser lächelnden Wehmut stellte Frau Olga eigensinnige und erbitterte Versuche entgegen, als eine fanatisch strenge und genaue Hausfrau der alten Schule aufzutreten. Diese Versuche mißlangen jämmerlich. Sie konnte nicht die allerbescheidenste kleinste Rüge erteilen, ohne zu stammeln, zu erröten, zurückzunehmen. Und ihre Genauigkeit nahm nicht selten ebenso lächerliche Ausdrucksformen an, wie jetzt, wo sie mit der Weckeruhr in der Hand auf ihre Kammerjungfer lauerte. Dieser Wecker hatte übrigens noch eine Aufgabe: er war ein Symbol der Wissenschaft. Die Geringschätzung der Familie für ihre kleine Person gründete sich nicht nur auf eine Unterschätzung ihrer Moral, sondern vielleicht in noch höherem Grade auf eine Verkennung ihrer wissenschaftlichen Veranlagung. Damit beging man sicherlich ein großes Unrecht. Sie hatte schon, und zwar mit einem gewissen Glanz, ihr cand. phil. abgelegt, als der befürchtete Ruin des Willmanschen Hauses und Jan-Petters Erscheinen auf der Bildfläche die Professorin bewog, in ihrer Eigenschaft als Oberhaupt der Familie ein aufsehenerregendes Dekret zu erlassen: die jüngste Tochter hatte keinen Kopf zum Lernen. Die Bestürzung war außerordentlich groß. Das Kalb mit den zwei Köpfen ist ein weniger seltsames Spiel der Natur als eine Willman ohne Kopf zum Lernen. Naive Mitglieder der Familie fühlten sich skandalisiert und protestierten. Die Professorin antwortete mit einem geheimnisvollen und zärtlichen Lächeln:
»Olga hat etwas, das besser ist als ein guter Kopf!«
Was in drei Teufels Namen! Besser als ein guter Kopf? Man grübelte.
Plötzlich ging ihnen ein Licht auf.
Ein gutes Herz! Ein gutes Herz ist besser als ein guter Kopf. Wenigstens für die Umgebung.
Das wurde die Losung und die wissenschaftliche Erklärung des etwas rätselhaften und genanten Falles Olga Janselius geb. Willman. Sie hatte ein gutes Herz. Wie immer, wenn eine große Entdeckung gemacht wird, stellten sich die Beweise von selbst und zu Dutzenden ein. 1. In zartem Alter hatte sie, obwohl ein Flaschenkind, nie geschrien, sondern wie ein Engel Gottes geschlafen (was allerdings daher kam, daß die stets in Anspruch genommene Professorin ein paar Tropfen Schnaps in die Milch gegossen hatte). 2. Als Minderjährige hatte sie a) eine kranke junge Krähe zärtlich gepflegt, b) aus freien Stücken Tante Sara vorgelesen, c) am Weihnachtsabend geweint und sich die längste Zeit geweigert, ihre Geschenke entgegenzunehmen, weil sie auf der Straße einem armen Kind begegnet war. 3. Als junges Mädchen hatte sie, trotz ihres schwachen Kopfes, sich dazu durchgerungen, ihre Prüfungen zu bestehen (als ob jemand gewagt hätte, Anna-Lisa Willmans Tochter durchfallen zu lassen!), nur um ihren Eltern eine Freude zu machen. 4. Als Jungfrau hatte sie ihre Liebe einem kranken, unglücklichen (?) Manne geschenkt. 5. Als Gutsherrin bewies sie ihrer Dienerschaft nur allzuviel Nachsicht (wahr! aber das hinderte nicht, daß sie ihnen täglich Zahnweh und anderes Ungemach wünschte). 6. Auch gegen arme Verwandte bewies sie einige Güte (in runder Zahl dreißigtausend schwedische Kronen jährlich!). 7. Sie schenkte dem unglücklichen, elternlosen Jüngling Ludwig von Battwyhl die zärtlichste Fürsorge.
Der letzte Punkt war wortwörtlich wahr, bis auf eines. Ludwig Battwyhl war keineswegs unglücklich; im Gegenteil, man konnte ihn als den Urtypus eines glücklichen Jungen betrachten. Kein Vater hatte ihn unterdrückt, keine Mutter hatte ihm den Magen oder die Seelenruhe verdorben. Er hatte den größten Teil seines Lebens in einer Schulgemeinde verbracht, die er durch seine Talente, seine Fauststärke und seinen Charme vollständig beherrschte. Er flößte seinen Kameraden eine schreckvermischte Bewunderung und seinen Lehrern ein Grauen ein, das sich bisweilen zur Panik steigerte. Er war aus zwei Lehranstalten relegiert worden und hatte in diversen Sportzweigen eine Unmenge Meisterschaften erzielt. Im Alter von siebzehn Jahren war er ein im ganzen Lande bekannter Fußballspieler, verließ aber in der Blüte seines Ruhms den Fußballplatz zufolge eines komplizierten Beinbruchs, der ihn ein klein bißchen lahm und höchst interessant machte. Er war vielleicht übersättigt an Ruhm, aber keineswegs an Speise und Trank, und Gaumen und Magen bereiteten ihm täglich neue Genüsse. Er hatte den feinsten Pointer des Landes mit meterlangem Stammbaum und überdies einen wohlversehenen Stall – der allerdings nicht ihm gehörte. Wie man überhaupt sagen konnte, daß ihm alles gehörte, was nicht sein war, und darin lag der Grund seiner unglaublichen Sorglosigkeit und seiner großartigen Freigebigkeit. Aus seinen Westen- und Hosentaschen rollten beständig Münzen, über deren Herkunft kein Teufel etwas wußte. Sein Charakter galt für gut, aber verkannt, und darum doppelt gut. Seine unbestechliche Wahrheitsliebe wurde schon berührt. Seine Zwanglosigkeit grenzte an Unartigkeit und seine Artigkeit an Dreistigkeit – wie es sich eben fügte. Endlich hatte er eine starke und selten abgewiesene Neigung, die Arme eng um den einen oder andern Damenhals geschlungen, herumzuspazieren. Die Willmansche Familie mit ihren tiefen, psychologischen Erkenntnissen deutete diese Neigung als ein Symptom kindlicher Sehnsucht nach Mutterliebe. Das mag wahr sein, aber in diesem Falle zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe für junge Mütter, auch solche, die jünger waren als er selbst. Seine Pflegemutter, die gute Frau Janselius, vergötterte er mit einer Leidenschaft, die an die Leidenschaft der Katze für die Maus erinnerte. Ihre wohlgeformte, kleine Person wurde in den langen Knabenarmen förmlich erdrückt, bis sie nach Atem schnappte. Jan-Petter hatte bei Lebzeiten diese Zärtlichkeitsanfälle mit kicherndem Wohlbehagen mitangesehen. Die Damen Willman wischten sich dabei gern eine Träne aus dem Augenwinkel. Frau Olga schüttelte sich und plusterte sich auf wie eine Henne beim Regen. Sie verwöhnte ihn wirklich, aber das kam weniger von ihrem guten Herzen als von der vollkommenen Unfähigkeit, sich ihn vom Leibe zu halten.
Jedenfalls stand es fest, daß sie ein gutes Herz hatte oder – deutlicher formuliert – daß ihr Herz besser war als ihr Kopf. Ferner: daß man von ihr, Jan-Petters Witwe, keine ernste Anschauung des Lebens, namentlich seiner erotischen Seite, erwarten konnte. Kurz gesagt: sie war liebenswürdig, aber ein bißchen minderwertig. Diese Auffassung irritierte sie unerhört, und sie beschloß, sie zu desavouieren. Sie wollte zeigen, daß die Erotik für sie eine Lebensäußerung von untergeordneter Bedeutung war, während sie für die meisten Menschen das Zentrale im Leben ist. Sie wollte nachweisen, welchen unverhältnismäßig großen Raum die sogenannte Liebe nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch in dem der Gesellschaft einnehme. Sie wollte diesen sozialen Parasiten unter das Mikroskop legen, seine Lebensbedingungen entdecken, die verheerten Gebiete kartographieren, die Grenze zwischen sozial berechtigter und unberechtigter Erotik ziehen – in kurzen Worten: sie wollte eine neue pragmatische Wissenschaft begründen. Das Willmansche Blut war erwacht und rief nach Ziffern, Beobachtungen, Hypothesen, Statistik, vor allem Statistik. Monate hindurch hatte sie versucht, diesen Ausbruch erblicher Belastung zu bekämpfen. Sie hatte Angst. Sie war sich völlig bewußt, daß ein Mensch, der eine neue Wissenschaft begründen will, ein lächerlicher Mensch ist. Sie erwartete sich weder Lorbeeren noch Rosen, sie erwartete Dornen und Disteln. Und da saß sie nun mit ihrer Weckeruhr.
Das Gespräch der Kammerjungfer mit dem Torfausstecher dauerte 38 Min., 14 Sek. Da für den Anfang nur von approximativen Berechnungen die Rede sein konnte, strich sie sofort die Sekunden und rundete nach kurzem Nachdenken die Minutenziffer auf vierzig auf, was ein überaus bequemer Multiplikationsfaktor ist. Sie stellte die Uhr auf das Fensterbrett und griff zu Papier und Feder. Das Haupthaus Larsbo hatte sechsundzwanzig weibliche Bedienstete, von denen sieben außerhalb der Altersgrenze fielen, die sie etwas willkürlich bei den klimakterischen Jahren zog. Von den übrigen waren neun verheiratet. Als eine erste Arbeitsprämisse nahm sie an, daß eine verheiratete Frau ein halb so großes Bedürfnis nach erotischen Gesprächen wie eine unverheiratete hat. Ihr Arbeitsmittel war also 14½ oder 29/2 Fraueneinheiten.
Langjährige Beobachtungen hatten sie gelehrt, daß eine mittelstark erotisch betonte arbeitende Frau sich in der Regel mit einem längeren erotischen Gespräch (vulgär: Stelldichein, Rendezvous, Tete-a-tete) am Tage begnügt. Eine einfache Multiplikation ergab also, daß die weiblichen Bediensteten Larsbos täglich 9 Std. 40 Min. Arbeitszeit zu erotischen Zwecken vergeudeten, was einem materiellen Wert von ca. 4 Kr. 85 entsprach. Ein solches Stelldichein erfordert jedoch auch einen männlichen Partner. Dieser kann allerdings ein nicht zum Hause gehöriger Arbeiter sein; aber da Import und Export zwischen den verschiedenen Gütern sich dabei ausgleichen dürfte, glaubte sie mit Männereinheiten rechnen zu können, wobei sie sich natürlich vorbehielt, später noch eine besondere Berechnung bezüglich der überzähligen Männer des Gutes aufzustellen. Die verplauderte männliche Arbeitszeit repräsentierte, nach dem Durchschnittsstundenlohn berechnet, 12 Kr. 55. Summa männliche und weibliche Arbeitskraft 17 Kr. 40 pro Tag oder ca. 5220 Kr. pro Jahr!
Natürlich mußte diese Ziffer noch überprüft und vielleicht im Hinblick auf verschiedene Fehlerquellen erheblich korrigiert werden: die Einwirkung der Jahreszeit auf das erotische Leben (die Stichprobe wurde am Saratag, also mitten im Hochsommer, gemacht); der größere oder geringere Zustrom von Saisonarbeitern; die moralische Atmosphäre des Hauses (ein nicht unwesentlicher Umstand, was Larsbo betrifft), und zuletzt, aber nicht zum geringsten, die etwas erregte Gemütsstimmung des Experimentators. Die letztgenannte Fehlerquelle hatte ihren Grund in einem Gespräch zwischen dem Experimentator und Casimir Brut. Der Verwalter hatte ihr am vorigen Abend in ziemlich ungehobelter Weise Vorwürfe gemacht, indem er sagte: »Es ist nicht möglich, in diesem Hause die Disziplin aufrechtzuerhalten. Die gnädige Frau hält ihre Mädchen zuviel im Hause. Meine Burschen wollen am Abend mit den Mädchen der gnädigen Frau sprechen, aber die gnädige Frau hält sie im Flügel und läßt sie lesen und singen wie im Himmel. Da gehen meine Burschen anderswohin, und am Morgen kann ich herumlaufen und sie aus Scheunen und Heuschobern herausziehen. Wie kann da Disziplin sein?«
Diese Darstellung war nicht nur zynisch, sondern auch sachlich unrichtig. Einen ersten Beweis dafür hatte sie schon in der Hand, und sie war fest entschlossen, ihre Forschungen fortzusetzen. Die Willmansche Zunge hatte Blut geleckt, sie empfand ein ererbtes, sozusagen wissenschaftliches Glück. 5220 Kr. im Jahre! Allein im Haupthaus Larsbo! Wieviel entsprechende Güter hatte Schweden? Wie viele weibliche Bedienstete überhaupt? Wie viele arbeitende Frauen? Wie viele Frauen? Die Statistik würde diese Fragen beantworten, die Statistik würde sie mit Ziffern ad libitum versehen. Sie würde aus der lauen, faden, süßlichen Atmosphäre, die Jan-Petter Janselius' Witwe umgab, heraustreten und sich in dem mathematisch kühlen Tempel der Wissenschaft niederlassen. Sie sah vor sich Reihen von Bücherregalen, Lesepulten, Bibliothekstischen, Folianten, Bibliothekaren, Professoren, Studenten. Sie erinnerte sich eines jungen Mannes, der ihr früher einmal eine gewisse Verehrung entgegengebracht hatte. Er war Amanuensis in der Reichsbibliothek und würde sehr erstaunt sein, sie zu sehen; noch mehr, wenn er von ihren Absichten und Plänen erfuhr. Sie sagte sich, daß sie immer ein ganz einfaches schwarzes Kleid tragen werde; das werde sowohl ihre Anspruchslosigkeit wie ihren Ernst betonen. Das war nur ein kleiner Nebengedanke, der rasch verblich. Vor ihr lag ein Arbeitsfeld, dessen Umfang und Bedeutung gar nicht hoch genug angeschlagen werden konnte. Sie beschloß, die Richtlinien ihrer Erstlingsarbeit zu ziehen, und begann mit dem Titel. Ein gut gewählter Titel wirkt zugleich inspirierend und konzentrierend. »Das erotische Leben in sozialer Beleuchtung«. Ein gediegener, prunkloser Titel, aber vielleicht allzu phantasiearm. Die Phantasie spielt im wissenschaftlichen Denken eine größere Rolle, als man im allgemeinen annimmt. »Die Ökonomie der Liebe«? Besser, viel besser! Ernst und dabei ein klein bißchen pikant – für jene, die durchaus etwas Pikantes an diesem Gegenstand finden wollen. Als Buchtitel ausgezeichnet, aber vielleicht geeigneter für eine Arbeit Nr. 2, ein Standardwerk in zwei bis drei Teilen. Die Broschüre ist ein geschmeidigeres Werkzeug für die junge Wissenschaft, die sich nicht vornehm abweisend gegen alle Popularitätsforderungen verhalten kann. Ein kräftiger, aktueller, ernster Titel, eher fragend als beantwortend, wie ein Sprengkeil gegen den Kern des Problems gerichtet.
Jetzt hatte sie es!
»Hat der moderne Mensch ein soziales Recht auf die Liebe?«
Nein, nein, das war nicht gut. Nicht Recht, nein! Das ist ein langweiliges, banalisiertes, deklassiertes Wort und im Grunde eigentlich tief unwissenschaftlich.
Aber so:
»Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben?« Ausgezeichnet!
Sie blickte von dem Papier mit den 29/2 Fraueneinheiten und den 5220 Kronen auf und sah sich dabei rein zufällig im Spiegel. Es kam ihr vor, als hätte dieses gedankenvolle, schwermütige, vom Leben gezeichnete, aber durchaus nicht unschöne Gesicht ein besonderes Recht, eine Frage wie diese hinauszuschleudern: Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? Sie lächelte, um zu sehen, ob der gedankenvolle, schwermütige Zug sich verflüchtigen würde; aber nein, er vertiefte sich eher noch, und über der vielleicht etwas jugendlichen Klarheit der Stirn ringelte sich die schwarze Locke wie ein Fragezeichen. Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? Sie mußte daran denken, daß, wenn ihre Arbeiten einmal in einer Gesamtausgabe herausgegeben wurden, das Porträt der Verfasserin gerade so sein mußte, wie das Spiegelbild jetzt: der Kopf leicht geneigt, die Lippen von einem fast unmerklichen, schwermütigen Lächeln gekräuselt, der Blick durch die Wimpern gesiebt, die Locke an ihrem Platz. Außerdem mußte sie ihren Mädchennamen Olga Willman wieder annehmen oder noch besser: Olga Willman-Janselius – in Wahrheit eine symbolische Konstellation über den Worten: Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? War es vielleicht ein Zufall, daß gerade sie für die Menschheit einen der Pfade durch den erotischen Urwald bahnen sollte? Ein zehnjähriges Leiden ist kein Zufall, es ist ein Schicksal. Sie stand vor Eros, geschützt vom Panzer der Erfahrung, fühllos, gerecht, wissenschaftlich. Sie fühlte sich siegesgewiß, sie fühlte, daß sie dem fatalen Gott eine Niederlage zufügen, ihm eine Provinz rauben werde. Sie konnte sich noch keine klare Vorstellung davon machen, wie das zugehen werde, aber ihr Herz erzitterte vor freudigem Ernst, denn sie ahnte etwas Großes. Tanten, Schwestern, Kusinen und der Amanuensis in der Reichsbibliothek wurden einsehen lernen, daß sie nicht das kleine Heiratstierchen war, für das sie sie hielten; der Kuhhandel zwischen der Professorin und Jan-Petter würde gerächt werden. Während sie ihre Erfahrungen sichtete und systematisierte, würde sie gleichzeitig mit Ludwig ihre mathematischen Kenntnisse auffrischen, denn Ziffern und abermals Ziffern, das ist der Sprengstoff, der die abgelagerten Vorurteile von Jahrtausenden aus dem Weg räumt. Und Casimir Brut würde eine wohlverdiente Lektion bekommen! Kalt und nüchtern schritt sie ans Werk, bereit, alle Konsequenzen ihrer Forschungen auf sich zu nehmen, auch die umwälzendsten, auch die zerstörendsten – vielleicht vor allem diese. Sie schenkte ihrem Spiegelbild noch einen Blick und entdeckte einen neuen, bleichen, kühlen Glanz, an den des Marmors gemahnend und recht kleidsam. Aber sie hielt sich bei derlei nicht auf, sondern riß mit einem raschen Griff den ersten, schon bekritzelten Bogen aus dem Notizblock und schrieb auf das blanke Blatt in perlrunden Buchstaben die Worte:
Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben?
Im selben Augenblick läutete die Weckeruhr. Sie funktionierte ausgezeichnet wie diese Weckeruhren zu 5,50 gewöhnlich. Ihr Schlagwerk war auf sieben gestellt, ihr Zeiger wies auf sieben, und die Sonnenuhr im Hofe war ungefähr derselben Auffassung. Alles war in bester Ordnung. Frau Olga hatte im Schreibkabinett neben dem Schlafzimmer Platz genommen; etwa zehn Meter trennten sie von der Uhr. Sie war ebenso schlaftrunken und bestürzt, als wäre sie aus dem süßesten Schlummer gerissen worden. Blind griff sie um sich und bekam einen kerzentragenden, tanzenden, silbernen Faun in die Hand, dessen Kerze sie knickte. Sie sprang auf, drehte sich im Kreise und stieß an etwas; sie lief ins Schlafzimmer hinaus und vernahm hinter sich einen Krach und ein weiches wehmütiges Klirren. Aber vor ihr arbeitete der Wecker schrill und unverdrossen; mit ausgestreckten Händen stürzte sie zum Fenster hin und wollte das Ding eben packen, als ihre Zeigefinger plötzlich aufschnellten wie Taschenmesserklingen und der Uhr einen gemeinsamen Puff gaben. Sie schwankte, sie fiel, ihr Glas zerschmetterte auf dem Sande, das glänzende Nickelgehäuse barst, aber das Schlagwerk funktionierte tadellos. Frau Olga schrie auf und beugte sich zum Fenster hinaus. Der Wecker lag im Sande und läutete. Beflügeltes Getier umkreiste summend die Linde; Schwalben durchschnitten die Luft und peitschten sie mit ihren Flügeln; die Kühe brüllten nach den Melkmägden, die Katze saß auf der Platte der Sonnenuhr und putzte sich nach der nächtlichen Jagd; der Hund sah zu; die Gänseschar weidete auf dem Grase des Parks. Träge und schläfrig, schwer von süßen Düften zog der Wind von Westen nach Osten, eine gemächliche weißwollige Schar vor sich hintreibend. Es war Morgen, es war Hochsommer, es war Saratag.
Und eines nach dem anderen öffneten sich die Fenster der Fassade. Zuerst eines in der untersten Reihe, das zweite von links, und heraus streckte sich ein glattgekämmter Kopf, in der Mitte gescheitelt, mit geflochtenen Schnecken über den Ohren, einem ovalen Gesicht, ovalen Augen, einem krummen Näschen, bogenförmig geschwungenen Lippen und zwischen diesen Lippen ein großes Stück Bärenzucker. Das war Brita Djurling, Frau Olgas Nichte. Dann öffnete sich ein Fenster in der zweiten Etage ganz weit rechts, öffnete sich mit einem Krach, und heraus quollen zwei kräftige Schultern, nackt, dick, braungebrannt von der Sonne; und wie der Knopf auf einer Suppenterrine, so ruhte auf diesem breiten Körper ein viel zu kleiner Kopf, pausbackig und prall, rot und von roten Zotteln umgeben. Auf dem fleischigen Rücken der Nase balancierte etwas schief ein schwankender, klappriger Kneifer mit morgendlich betauten Gläsern, und aus dem linken Mundwinkel hing ein ganz kleines Pfeifchen mit säuerlichem Tabak, nach der braunen Soße auf dem Kinn zu schließen. Das war Lotte Brenner, die Großkusine der Hausfrau mütterlicherseits und Kusine des vorletzten Besitzers von Larsbo. Sie räusperte sich dumpf und spuckte in weitem Bogen auf den Hof hinaus. Hierauf öffnete sich ein Fenster in der dritten Reihe, der höchsten, und ein schönes, seelenvolles Antlitz kam zum Vorschein, recht ähnlich dem Frau Olgas, nur verfeinerter, auch gealterter und in blasseren Farben. Die Augenlider hoben sich nie ganz, und der Mund lächelte ein verschwiegenes, gedankenvolles, mitleidiges Lächeln, so als lausche sie stets schönen, aber traurigen Dingen; aber bei ihrem Tagewerk lauschte sie sicherlich anderem, Doktor Karolina Willman, die berühmte Magenspezialistin. Hier in Larsbo wohnte sie immer ganz hoch oben unter dem Dach in einer ziemlich dürftig möblierten Kammer, denn von ihrem Fenster hatte sie den freien Blick über den Mo-See und konnte mit Hilfe des Feldstechers die Schwäne im Schilf schwimmen sehen. Noch ein Fenster tat sich auf, lautlos, aber rasch, in der Mitte des zweiten Stockwerks, ganz dicht neben dem Olgas. Mit sokratischer Nase zwischen tiefblauen kurzsichtigen Augen und rosig zarten Wangen, zeigte Betty Willman ihre niedliche Person, zog den Mund seitlich wie eine Flunder, als sie die im Kies getreulich läutende Uhr sah, sandte einen Seitenblick zum Himmel und einen anderen zu Olga, nieste, als die Sonne sie gerade in die Stupsnase stach, und verbarg ihr Gesicht in schmalen, weißen, blaugeäderten Händen. Das sechste Fenster öffnete sich in der untersten Reihe, nicht weit von dem Britas. Hier wohnte die holde Lizzy, von der es hieß, daß sie in jeder Fakultät einen verlobten Bräutigam gehabt hatte und in der philosophischen zwei. Verleumdung selbstverständlich, aber würdig der schwärzesten, reichsten, geringeltsten Locken, die je große, tiefe Kenntnisse in altnordischen Sprachen bedeckt haben. Sie grüßte den Tag mit einem rauschenden Gähnen, gefolgt von einem dumpfgrollenden Laut, nicht unähnlich dem Donner; sie streckte die vollen Arme in einer Geste à la Müllers System, aber unterbrach ihre Übung, um sich heftig um Augen und Nase zu kratzen und hier und dort an ihrem halbnackten Körper. Schließlich schrie sie ein kräftiges Gu'n Morgen und nickte fröhlich nach rechts und links schlaftrunkenen Freunden zu. Aber über dem linken Ohr schwebte leicht wie ein Schmetterling, wenn auch in das Haar verwickelt, eine vergessene Papillote, bunt und aus einem Modejournal ausgeschnitten. Schließlich, um die Siebenzahl vollzumachen, wurde langsam und vorsichtig, mit etwas zitternden Händen, das kleine viereckige Fenster gerade über dem Portal geöffnet. Und sie, die nun zum Vorschein kam, war, wenn nicht der Genius des Hauses, so doch der des Tages: Fräulein Sara Schönthal, eine arme Jüdin, die zum Unterschied von allen anderen nicht die geringsten Blutsbande mit der Gutsherrin verbanden. Ob sie als Gouvernante oder Gesellschafterin oder Haushälterin in die Familie gekommen war, weiß niemand mehr. Sicher ist, daß sie mit den Mädchengeheimnissen der seligen Frau Professor vertraut gewesen war, und daß seither etwa zwanzig Jungfrauen zweier Generationen Tante Sara alles anvertraut hatten, was ein Herz vor Freude oder Schmerz zum Brechen bringen kann, und noch etwas dazu. Nichtsdestoweniger war sie dünn und trocken und leer wie ein unbeschriebenes Pergament, vergilbt und geschwärzt, verrunzelt und zersprungen bis zur Unleserlichkeit, noch bevor es beschrieben worden war. Die Nase erhob sich wie ein schwerer, brüchiger, morscher Bugspriet, getakelt von kräftigen Runzeln, die quer über die Wangen liefen und ihren Stützpunkt bei der Basis der Ohren hatten; aber die Ohren selbst hingen wie schlaffe Segel herab. Die Augen waren von schwellenden, schwarzblauen Kissen bedeckt, gefüllt mit alten verdunkelten Tränen, konnte man meinen. Das Gesicht war starr wie Holz, beweglich waren nur die lederartigen Lippen, die bald eingesogen, bald aufgeblasen wurden, sich dann wieder auseinanderzogen und eine gleichmäßige, blendende Zahnreihe im Oberkiefer entblößten und drei gelbe Hauer im unteren. Das war Tante Sara. Aber ihre Güte, Bescheidenheit, Zärtlichkeit, Rücksicht kann niemand würdig beschreiben. Und als nun die Alte, von der Sonne geblendet und nichts von der Anwesenheit all der anderen ahnend, sich hinausreckte, um einen meterlangen Zopf auszuschütteln – aus ein halbes Jahrhundert hindurch ausgekämmten Haaren geflochten, schwarzen, ergrauten und weißen – und ihn zu einem prachtvollen Korb und sehr nötigen Schutz für den Scheitel zusammenrollte, riefen alle: »Hurra! Es lebe Tante Sara!« Doch nicht auf einmal und taktfest, sondern die Rufe stiegen bald hier, bald dort auf und kollerten kreuz und quer über die Fassade. Es klang so, wie wenn Elstern in verschiedenen Nestern zanken und schnattern; aber die Alte verlor die Haltung nicht; sittsam und würdig knixte sie zum Dank für jedes neue Hurra und steckte unterdessen ihren Zopf auf.
Endlich verstummte die Weckeruhr im Kies.
Und endlich öffnete sich das achte Fenster, gerade über dem Frau Olgas gelegen. Ludwig von Battwyhl, gehüllt in einen kanariengelben Morgenrock mit schwarzen Aufschlägen und ebensolchen Patten, bog sich hinaus und machte einen unwillkürlichen Bückling, so daß ihm das zerraufte Haar in die Stirn klatschte. Das Fensterbrett traf ihn unsanft in den Magen. Herrgott, dachte er, das muß anders werden! Er drückte die Knöchel mit Kraft in die Augenwinkel und bohrte langsam den Schlaf heraus; er gähnte gewaltig, aber lautlos, überlegte es sich dann, gähnte noch einmal, und jetzt mit einem zornigen Brüllen. Er züchtigte seinen Mund mit einem harten Schlag. Wie roh ich bin! dachte er. Das muß anders werden! Eine Stimme rief:
»Ludwig! Gratuliere Tante Sara! Heut' ist ihr Namenstag.«
Er riß die Augen auf, und indem er den Fensterpfeiler mit festem Griff umklammerte, sprang er auf das Fensterbrett und trat auf das Blech hinaus. Sechs Damen schrien auf, aber die siebente, Tante Sara, stand parat, die Gratulation entgegenzunehmen. Und er sagte:
»Liebe Tante Sara! Heute ist dein Namenstag, und du bist so reizend. Ja, das ist meine aufrichtige Meinung, wenn dich auch andere häßlich finden. Wäre ich in der Lage dazu, ich würde dir falsche Zähne für den Unterkiefer schenken. Aber ich bin ein armer Junge, und so wünsche ich dir Glück und Segen. Mit Ausnahme einer reichlichen Nachkommenschaft.«
»Ludwig!« schrie Lizzy.
»Lizzy?« parierte er prompt und dienstfertig. Und bekümmert fügte er hinzu: »War das plump gesagt? Mir ist nämlich die Bibel eingefallen und das Risiko, das bejahrten Saras anhaftet. Andere sind in diesem Alter verschont. Aber das muß anders werden. Gu'n Morgen, Lizzy, gu'n Morgen, Betty, gu'n Morgen, Tante Karoline. Ich hoffe, du hast gut geschlafen? Gu'n Morgen, Lotte! Gu'n Morgen, süße kleine Brita! Und danke noch für heute nacht! Ich habe geträumt, daß wir in einem Geschwisterbett lägen –«
»Ludwig!« schrie Frau Olga.
Er fuhr so heftig zusammen, daß das Blech knackte, und starrte erschrocken auf sie hinunter.
»Ach so, das bist du, Ollo«, sagte er. »Gu'n Morgen.«
Ollo war ihr Kosename, ein Einfall von Jan-Petter.
»Du bist roh!« sagte Frau Olga.
»Ja«, gab er zu, »das bin ich. Aber das muß anders werden. Ich habe einen hundsgemeinen Traum gehabt –«
Er starrte zu Boden, runzelte die Stirn und machte ein Gesicht, als ob er Rizinusöl geschluckt hätte.
»Von mir?« fragte Brita und nahm den Bärenzucker aus dem Mund.
»Nein, nicht von dir, das hab' ich nur aus Spaß gesagt. Mir hat von einem anderen Weibsbild geträumt. Keine von euch. Ich glaube nicht, daß ich sie gekannt habe. Wir gingen über das Moor und kamen zum Spillebodaer Brunnen. Wir standen dicht am Schilfrand und neckten uns ein bißchen. Und plötzlich wollte sie mich in den Brunnen stoßen. Ach so, sagte ich, nahm sie beim Haar und bog sie zurück. Ich dachte, ich würde sie auf den Hals küssen; aber statt dessen zog ich mein Jagdmesser und schnitt ihr die Kehle durch –«
»Ah, hu!« schrien die Damen. »Ah, hu! Wie roh du bist!«
Er hörte sie kaum; der Traum lag ihm noch in den Gliedern. Er kniff die Augen fest ein, und sein ganzer Körper zitterte vor Ekel. Er murmelte:
»Ganz blutig bin ich geworden. Bis ins Gesicht hinauf.«
Plötzlich rief Brita: »Da kommt Casimir Brut!« Ludwig sprang ins Zimmer zurück. In Casimir Bruts Gegenwart benahm er sich immer wie ein junger Gentleman und erlaubte sich keinerlei Lausbübereien. Er hegte eine fanatische Zuneigung zu dem Verwalter, teilweise auf den Umstand zurückzuführen, daß Casimir der einzige war, der ihn gründlich durchgebläut hatte.
Der Verwalter kam aus dem Park und ging quer über den Hof auf den rechten Flügel zu. In der einen Hand hielt er seinen Reitstock, in der anderen etwas, das wie ein rotgetupftes Schnupftuch aussah. Als nun die Damen und Ludwig im Chorus riefen: »Gu'n Morgen, Casimir! Gu'n Morgen, Brut! Gu'n Morgen, Herr Verwalter!« knüllte er hastig das Sacktuch zusammen und steckte es in die Tasche. Dann lüpfte er die Mütze ein wenig und setzte seinen Weg fort. Frau Olga hielt ihn an.
»Brut!« rief sie. »Haben Sie die Bolla gesehen?«
Er blieb stehen, aber drehte sich nicht um.
Frau Olga fuhr fort: »Ich habe sie etwas besorgen geschickt, und wips, kam einer von Ihren Torfausstechern daher und legte Beschlag auf sie. Da sehen Sie es!«
Er drehte sich langsam um, machte ein paar Schritte auf das Hauptgebäude zu und blieb dann stehen.
»Woher wissen Gnädigste, daß es ein Torfausstecher war?«
»Das weiß ich nicht«, replizierte Frau Olga. »Aber ich nehme es an. Auf jeden Fall war es keiner von den Gutsleuten.«
»Um wieviel Uhr war das ungefähr?« fragte der Verwalter.
Frau Olga lächelte. Ungefähr! Sie erwiderte: »Die Zusammenkunft fand dort drüben an der Hausecke statt. Sie begann sechs Uhr dreiundvierzig Minuten und dauerte achtunddreißig Minuten, vierzehn Sekunden.«
Der Verwalter zog hastig seine Uhr.
Ludwig schrie: »Herrjegerle! Hast du die Zeit kontrolliert?«
»Ich habe die Zeit kontrolliert«, gab Frau Olga zurück. Und sie dachte: Es ist ganz gut, daß ich sie vorbereite.
»Ich habe die Zeit kontrolliert«, wiederholte sie und wies auf die zerschmetterte Weckeruhr. »Und ich gedenke von nun an die Zeit immer zu kontrollieren, sooft ich Gelegenheit dazu habe. Es scheint mir nämlich von großem Interesse, zu konstatieren, wieviel bezahlte Arbeitszeit verschwätzt wird –«
»Wohin sind sie gegangen?« fragte der Verwalter.
Das wußte sie nicht so genau. Der Bursch war möglicherweise in den Park hinuntergegangen, das Mädchen war ganz einfach verschwunden. Übrigens entbehrte die Frage jeder Bedeutung. Und sie fuhr fort: »Ich glaube, daß ich mit ein bißchen Aufmerksamkeit und Genauigkeit zu einer allerdings nur approximativen, aber doch recht zuverlässigen Schätzung der vergeudeten Zeit und ihrer ökonomischen Bedeutung gelangen kann. Die Forschungen« (sie lutschte an dem Wort), »die ich schon angestellt habe, haben verblüffende Resultate ergeben –«
Sie suchte vergebens nach irgendwelcher Verblüffung in den Gesichtern der Zuhörer. Die Gleichgültigkeit der Wissenschaftler gegen Forschungen auf anderen Gebieten als ihrem eigenen ist unglaublich. Und der vollständig unwissenschaftliche Casimir Brut sagte:
»Gnä' Frau hätten klüger getan, das Mädel zurückzurufen.«
Das kurze »gnä' Frau« zeigte, daß er böse war. Er drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte in das Flügelgebäude. Er war ja auch nicht derjenige, dem sie ihre Pläne zu enthüllen gedachte. Er konnte ihrethalben ruhig seiner Wege gehen. Sie fragte sich, wie sie ihre Worte wählen sollte. Es ist nicht so leicht, die Geburt einer neuen Wissenschaft in vertrauenerweckender und nicht zum Lachen reizender Art anzukündigen.
Unterdessen versank die Fassade und ihre Köpfe in eine morgenselige Kontemplation. Dr. Karolina hob den Feldstecher, folgte mit bewaffnetem Auge dem Gleiten der Schwäne durch das Schilf und lächelte. Lotte, das Pfeifchen in einem Mundwinkel, pustete aus dem anderen Rauch, regelmäßig wie ein Motor. Lizzy gab verstohlen ihren üppigen Busen der Sonne preis. Brita warf einen langen tückischen Blick zu Ludwig hinauf und steckte ein neues Stück Bärenzucker in den Mund. Tante Sara zählte sich irgend etwas an den Fingern ab. Betty saß zusammengekauert, das Kinn in die Hand gestützt, den Mund schief gezogen, guckte kreuzweise über die Nasenspitze und sah alles doppelt.
Und Frau Olga hustete leicht; sie richtete sich auf, sie umklammerte mit beiden Händen das Fensterbrett und stand da wie ein Vortragender auf dem Katheder. Das Blut stieg ihr plötzlich zu Kopf, ließ ihre Wangen erglühen und machte sie schöner und jünger, als sie in diesem Augenblick zu sein wünschte. Aber sie machte ihre Kehle frei und sagte mit gedämpfter, ernster, beherrschter Stimme: »Mädels! Wißt ihr was! Ich muß euch was sagen!«
Im selben Augenblick rief Ludwig: »Ollo! Sei so gut und beuge dich ein bißchen mehr zurück!«
Sie gehorchte unwillkürlich.
»So, jetzt steh ganz still!« befahl er. Und sie stand ganz still, aber schielte zu ihm hinauf, halb erschrocken. Er nickte und lächelte und strahlte vor unschuldiger Freude.
Er sagte: »Wie du jetzt dastehst, sehe ich deinen ganzen weißen Rücken bis hinunter zum –«
Die Willmänner brachen in Lachen aus.
Frau Olga brach in Tränen aus, zog sich hastig zurück und warf das Fenster klirrend zu.
Ludwig ging hinunter, um Verzeihung bitten. Frau Olga saß am Fenster und schluchzte. Aber sie war nicht böse. Sie sagte:
»Du bist ein Tolpatsch. Aber ich weine nicht deinetwegen. Hier ist ein Unglück passiert.«
Ihre Stimme sank um eine Oktave, indem sie das Unglück verkündete.
»Der Eros ist zerschlagen.«
Und sie schneuzte sich kräftig, um die Tränen aufzuhalten.
»Herrjegerle!« rief Ludwig. »War's die Bolla?«
Sie überlegte einen Augenblick, stürzte sich dann entschlossen mitten in das Elend hinein und sagte:
»Nein, ich. Aber sei so gut und mach kein Geschrei! Ich bin ohnehin schon so traurig. Ich wußte die ganze Zeit, daß ein Unglück geschehen ist. Ich fühlte mich so beklommen. Aber ich wußte nicht, was es war. Bis ich dann in das Schreibzimmer zurückkam.«
Ludwig ging auf die Türe des Schreibkabinetts zu; Frau Olga erhob sich hastig und folgte ihm. Die Zerstörung war vollständig. Der ganze Boden war mit kleinen seinen Tonsplittern besät. Sie wieder zusammenzufügen, war ein Ding der Unmöglichkeit.
»Herrjegerle«, wiederholte Ludwig, hockte sich auf dem Boden nieder und rührte in den Scherben um.
»Wie ist denn das passiert?«
Sie erklärte: »Ich saß da am Schreibtisch und dachte an etwas Ernstes. Da begann die Weckeruhr zu klingeln. Das machte mich gräßlich nervös, ich sprang auf und stürzte ins Schlafzimmer. Ich hörte, daß hinter mir etwas fiel und zusammenkrachte, und ich hatte das Gefühl, daß ein Malheur geschehen sei. Aber ich dachte mit keinem Gedanken an den Eros.«
»Herrjegerle!« wiederholte Ludwig zum dritten Male und fügte dann hinzu: »Das hätte Jan-Petter sehen sollen!«
Und biß sich in die Zunge, denn Frau Olga brach wieder in Tränen aus.
Eros war oder war einmal eine griechische Vase, ein weißer Lekythos gewesen. Jan-Petter hatte ihn einem Pariser Antiquitätenhändler für zehntausend Franken abgekauft. Kenner, die Larsbo besuchten, hatten ihn einzig in seiner Art genannt, denn auf diesen Graburnen pflegt Eros sonst nicht vorzukommen. Außerdem war sie signiert, wenn auch mit unleserlichen Buchstaben. Jan-Petter behauptete jedoch, deutlich den Namen Hieron unterscheiden zu können, und es stand auch sehr richtig Hieron da, wenn man annahm, daß es lateinische Buchstaben waren, was jedoch wieder nicht recht zu dem angegebenen Fundort, Kreta, stimmte. Wie dem auch sei, es war eine eigenartige und wertvolle Vase, und sie hatte zehntausend Franken gekostet. Jan-Petter postierte das schöne Stück in das Schreibkabinett seiner Gattin, und zwar gerade vor die Türe, die in sein eigenes Schlafzimmer führte. Ein eigentümlicher Platz, könnte man meinen, aber Jan-Petter wollte vielleicht damit betonen, daß diese Türe die einzige Türe im Hause war, die nie geöffnet wurde. Sie war verriegelt und hinter einer Draperie verborgen. Die Vase hatte also da in Frieden gestanden, und nichts Böses war ihr widerfahren. Aber jetzt war sie zerschmettert.
Und Frau Olga weinte.
Ludwig sagte: »Es war ja ein kostbares Stück, aber ich kann nicht begreifen, warum du es dir so zu Herzen nimmst.«
»Nein«, antwortete sie, »das verstehst du nicht, weil du ein dummer Lausbub bist. Wenn du eine Hausfrau wärst, würdest du mich schon verstehen. Erst gestern oder vorgestern sagte ich zur Bolla: An dem Tag, an dem du die Vase 'runterschmeißt, kannst du gehen. Und jetzt habe ich es selbst getan.«
»Ja, ja«, sagte Ludwig, »man muß sich hüten, den Mund zu voll zu nehmen. Übrigens verstehe ich nicht, wie du das angestellt hast. Du wolltest doch ins Schlafzimmer laufen. Und da rennst du zuerst zu Jan-Petters Tür? Das ist doch idiotisch.«
Er ging auf Jan-Petters Türe zu, aber Olga stellte sich ihm plötzlich in den Weg; sie legte ihm die Hände auf die Schultern und starrte ihm nachdenklich in die Augen.
»Mir fällt etwas ein«, sagte sie. »Das ist vielleicht die Erklärung. Wahrscheinlich hat die Bolla schon angefangen, im Schreibzimmer aufzuräumen, und hat den Eros weggestellt. Ja, jetzt erinnere ich mich, er stand schräg hinter dem Schreibtischsessel. Obwohl ich damals nicht darauf geachtet habe.«
»Also ist die Bolla schuld«, dekretierte Ludwig.
Frau Olga grübelte nach.
Sie sagte: »Es ist darum nicht weniger ärgerlich. Ich möchte am liebsten, daß sie es gar nicht erfährt. Ich könnte natürlich sagen, daß ich die Vase weggestellt habe. Aber die Scherben!«
»Die Scherben?« wiederholte Ludwig. »Das ist das Allergeringste. Die nehme ich und vergrabe sie. In einer dunklen Nacht.«
»So daß niemand es sieht?«
»So daß niemand es sieht!«
»Und du klatschest nicht?«
»Na, sei so gut!« sagte Ludwig.
Da bekam er zwei Küsse. Und hiervon ermuntert, warf er den Pyjamarock ab, breitete ihn auf dem Boden aus und begann ihn mit den Scherben zu füllen.
Im selben Augenblick klopfte es an die Schlafzimmertüre.
»Ach, Herrgott!« flüsterte Frau Olga. »Das ist die Bolla!«
Sie fragte: »Wer da?«
Eine rauhe Stimme antwortete kurz angebunden: »Der Verwalter.«
Sie drehte sich hastig um. Ludwig sah auf und fragte: »Was ist denn mit dir?«
Sie antwortete: »Nichts. Aber du kannst jetzt die Scherben nicht mitnehmen. Ich lege sie dort unten in den Schrank, da kannst du sie dir gelegentlich holen.«
Plötzlich und dem Anschein nach ziemlich unmotiviert, stampfte sie wütend auf den Boden und zischte: »So zieh dir doch wenigstens den Rock an, du Tölpel!« Ludwig erhob sich, machte große Augen und nahm seinen Rock.
Sie fuhr flüsternd fort: »Übrigens brauchst du nicht durch das Schlafzimmer zu gehen; du kannst ebensogut durch Jan-Petters Zimmer gehen. Eil dich!«
Und gegen das Schlafzimmer gewendet, rief sie: »Ich komme schon. Ich muß mir nur den Schuh binden –«
»Gott, bist du komisch!« sagte Ludwig und warf ihr einen empörten und bekümmerten Blick zu. »Lügen! Pfui Teufel!«
Aber sie war schon in das Schlafzimmer gegangen und hatte die Türe geschlossen. Ludwig schnitt eine Grimasse und gehorchte. Erst als er Jan-Petters Zimmer passiert hatte und in den großen Saal gekommen war, blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen. Die Türe zwischen dem Schreibkabinett und Jan-Petters Zimmer war ausnahmsweise und vielleicht zum ersten Male seit einem Dezennium unverriegelt gewesen.
Im Laufe des Vormittags trafen Tante Saras Gäste ein. Zuerst kamen in einem gemieteten Stadtlandauer die Damen Theander, drei Schwestern und Kompagnoninnen. Tante Saras Beziehung zu diesen Damen bestand nur darin, daß sie zwei- oder dreimal im Jahre einige kleine Einkäufe in ihrem Kurzwarengeschäft machte. Aber alte Frauenzimmer verstehen es, einander zu schätzen, sie scharen sich gerne zusammen und sagen sich kindliche Artigkeiten oder Bosheiten, geben einander Kose- und Spitznamen. Sie schneiden lustige und unartige Gesichter, kichern über ein Nichts, geraten zuweilen in Streit und weinen dann bitterlich. Man sagt, daß sie aufs neue Kinder geworden sind; ach, so gut ist es nicht. Aber sie wünschen, daß sie Kinder wären und daß jemand sehr, sehr Alter und Großer und Milder und Verständiger käme und sich ihrer annähme. Denn sie fühlen sich müde und verdrießlich.
Die Damen Theander brachten Geschenke mit; die eine eine Parfümflasche, die zweite ein Paar Seidenhalbhandschuhe, die dritte eine Krause. Sie waren nicht reich, aber sie fanden die Freundschaft schön und wollten sie sich gerne etwas kosten lassen. Der Landauer war der feinste Mietlandauer in der Stadt, der Kutscher trug Livree, einen hohen Zylinder mit Kokarde, gelbe Handschuhe und eine rosa Rose im Knopfloch. Rote, gelbe und blaue Papierblumen waren in den Mähnen der Pferde, im Zaumzeug und hier und dort in dem Wagen angebracht. Das Ganze wirkte festlich. Als die Willmanmädchen der Damen Theander ansichtig wurden, fühlten sie sich plötzlich niedergedrückt und verstimmt; sie schlichen sich in den Park hinaus und versteckten sich. Aber die Damen Theander stiegen aus dem Wagen, stellten sich in einer Reihe auf und marschierten mit taktfesten Schritten auf die Vortreppe los, indem sie eins, zwei, eins, zwei zählten. Das war nicht ihre gewöhnliche Art aufzutreten, aber sie waren übereingekommen, einmal ein bißchen über die Schnur zu hauen, sich und anderen Spaß zu machen. Und sie konnten es sich nicht anders denken, als daß sämtliche Schloßbewohner zusähen, sich vor Lachen die Seiten hielten und einander zuflüsterten: »Schaut euch doch nur die Damen Theander an! Das sind doch lustige alte Damen!«
Aber niemand sah sie und niemand empfing sie, und an der Treppe angelangt, wurden sie plötzlich befangen und hatten das Gefühl, sich dumm benommen zu haben. Mitten unter ihnen tauchte nun, wie aus den Wolken gefallen oder der Erde entstiegen, ein kleiner alter Herr auf, mit langem weißem Bocksbart und großen, schwärmerisch leuchtenden, schwarzen Augen. Auf dem Kopfe trug er einen grauen Zylinder, und der schmächtige kleine Körper war in einen zu weiten schwarzen Schlußrock gehüllt, der ihm fast bis zu den Füßen reichte. Das war der Generalagent Herr Moritz Schönthal, ein Verwandter, und ein Mann, der Geld zu unmäßigen Zinsen auslieh. Da er ein Wucherer war, stand er in dem Rufe, ein großes Vermögen zu besitzen; aber tatsächlich hätte er von seinem Kapital nicht leben können, wenn er mäßige Zinsen genommen hätte. Er lebte sparsam, aber hatte eine kostspielige Passion: mechanische Spielsachen, namentlich Spieldosen und insonderheit künstliche singende Vögel. Den kostbarsten der ganzen Sammlung, eine goldene Nachtigall in einem silbernen kleinen Käfig, brachte er Kusine Sara mit, natürlich nicht als Geschenk. So töricht war er nicht. Aber sie sollte seinem Gesange lauschen, und die übrigen geehrten Herrschaften sollten lauschen, und der Generalagent würde so wesentlich dazu beitragen, die Stimmung zu erhöhen, ohne dabei selbst einen Verlust zu erleiden. Er war überzeugt, willkommen zu sein, und seines Erfolges sicher, und übrigens nicht so dumm, sich von irgendeinem Menschen seine gute Laune verderben zu lassen. Er schloß sich den wartenden drei Damen an, unterhielt sie auf das beste und lüpfte den Deckel der Pappschachtel ein wenig, so daß immer eine von ihnen einen Blick auf den wunderbaren Vogel werfen konnte.
Zu diesen vieren gesellte sich nun eine fünfte. Ein gewisses Fräulein Alexander, die immer zu Fuß ging, weil es zuträglicher für sie war. Sie trug eine große Torte und war nach dem eine halbe Meile langen Weg stark erhitzt. Von diesem Fräulein weiß man eigentlich nur, daß sie einen großen Freundeskreis besaß. Vor etwa zwanzig Jahren hatte sie Tante Sara auf einer Eisenbahnstation getroffen und ihr geholfen, ein Gepäckstück über das Geleise zu tragen, mitten vor der Nase einer allerdings stillstehenden, aber rasend schnaubenden Lokomotive. Dieses abenteuerliche Ereignis hatten die beiden Damen nie vergessen können, und da sie sich nur einmal im Jahre trafen, nämlich gerade am Saratag, wurde es nie erschöpfend erörtert und hatte noch nach Verlauf von zwanzig Jahren einen ungeschwächten Zauber von Kühnheit, Spannung und Grauen.
Nachdem sich ihre Freunde so versammelt und eine Weile am Fuße der Treppe gewartet hatten, trat Tante Sara heraus, ziemlich hastig, um die Wahrheit zu sagen, hinausgepufft. Ludwig, der die unglaubliche Schüchternheit der alten Dame kannte und sie ängstlich lauschend an der Türe fand, hatte kurzen Prozeß gemacht, und indem er sagte: »Da hilft nichts! An seinem Namenstag ist selbst der Teufel höflich!« öffnete er die Türe und schob die Alte hinaus. Tante Sara knickste stumm und feierlich nach rechts und nach links, worauf sie nach dem Park hinunterdeutete. Die kleine Gruppe, gefolgt von Tante Sara, setzte sich daraufhin in Bewegung. Die Gratulanten behielten bis auf weiteres ihre Geschenke bei sich, wohl wissend, daß Tante Sara sie erst nach beharrlichem Nötigen annehmen würde. Außerdem wurden sie von ihrer düsteren Feierlichkeit in dem Grade angesteckt, daß, sie es nicht wagten, nebeneinander über den geharkten Kiesplatz zu gehen, sondern eins in den Fußstapfen des anderen einherschlichen, der kleine Generalagent an der Tete.
Kaum hatten sie den Rücken gedreht, als Ludwig und Brita Djurling herausschlichen, sich auf die Stufen setzten, ihre Knie mit den Armen umschlangen und kicherten – das unvermeidliche Grinsen der Jugend hinter dem Rücken des Alters. Aber die Allee herauf kam ein festlich laubgeschmückter Leiterwagen, vollbesetzt mit Kindern, Mädchen und Jünglingen. Der Fuhrmann, ein glattrasierter, grobschlächtiger Mann, saß weich und bequem in einem Heuhaufen. Bei der Abzweigung zu den Stallungen hielt er an und sagte:
»Steigt aus, liebe Kinder, und seht euch um. Dies ist ein prächtiges, wohlverwaltetes Gut, und ihr könnt da immer etwas lernen.«
Sofort schnellten alle Kinder auf wie Fische, wenn man einen Stein ins Schilf wirft, und kugelten und kollerten über den Rand des Leiterwagens. Einige kamen auf die Füße, andere auf die Hände, andere auf den Kopf oder das Hinterteil. Aber im Nu waren sie alle auf den Beinen, huschten stumm und behend nach verschiedenen Richtungen fort und zerstreuten sich über das Gut. Bald strichen sie durch die Himbeersträucher, bald blieben sie an den Stachelbeerbüschen hängen, bald kletterten sie in den Kirschbäumen, bald stürzten sie sich über die süßen Erbsen, bald huschten sie in die Meierei und schlabberten aus den Milchfässern, bald wagten sie sich bis in die Küche. Der Mann mit dem glattrasierten Antlitz lächelte milde und befriedigt.
»Da weidet meine Herde«, sagte er. Aber Ludwig sagte zu Brita:
»Hier sitzen wir und lachen, als ob kein Unglück passiert wäre. Aber wenn ich sehe, was ich sehe, und höre, was ich höre, so schwant mir, daß Pastors gekommen sind.«
Und der Pastor und sein ältester Sohn, der schon ein baumlanger Bengel und stud. jur. war, spannten die Pferde von dem Leiterwagen, führten sie in den Stall und versorgten sie reichlich mit dem prächtigen Larsboer Hafer. Dann klopfte der Sohn die Spreu von dem Rock des Vaters, kämmte ihm mit den Fingern das Haar, richtete seinen Kragen, knöpfte ihm einen Hosenknopf zu, putzte ihm die Nägel und musterte ihn schließlich mit berechtigtem Stolz.
»Weißt du was?« sagte er. »Wenn du rein und ganz bist, dann braucht man sich wirklich deiner nicht zu schämen. Komm, gehen wir hinauf zu der Alten!« Der Pastor lächelte noch vergnügter, legte einen Finger auf den Mund und flüsterte: »Pressiert nicht, mein Junge. Laß die Herde weiden. Früh genug wird sie entdeckt.«
Er schmunzelte wohlgefällig und freute sich der vielen Münder und Mägen, die nun in eifriger Tätigkeit waren. Aber daß er so viele Kinder in seinem Hause hatte, kam nicht von tadelnswertem Leichtsinn, sondern ganz einfach daher, daß er dreimal verheiratet gewesen war, und zwar jedesmal mit einer kinderreichen Witwe. Von der ganzen Brut waren nur sieben oder acht richtige Geschwister, der Rest Halbgeschwister und zusammengebrachte Kinder. Er machte keinerlei Unterschied zwischen seinen eigenen und den Stiefkindern und konnte, nach Ludwigs Beobachtungen, kaum zwischen den verschiedenen Würfen unterscheiden, und, was die jüngeren Sprößlinge betraf, nicht einmal zwischen den verschiedenen Individuen, sondern rief alle männlichen Lasse und alle weiblichen Lisa. Bezüglich ihrer Anzahl fehlen exakte Angaben. Ludwig hatte sie bei verschiedenen Anlässen gezählt und war jedesmal zu verschiedenen Resultaten gelangt, zwischen siebzehn Stück und fünf bis sechs Dutzend variierend – letztere Angabe eine offenkundige Übertreibung. Er sagte jedenfalls zu Brita Djurling:
»Laß uns Ollo warnen. Bielleicht ist noch etwas zu retten.«
Frau Janselius hatte andere Sorgen. Es war elf Uhr, und die Kammerjungfer, die um sechs Uhr dreiundvierzig Minuten zu einer kurzfristigen Besorgung entsandt worden war, hatte noch nichts von sich hören lassen. Das war an und für sich seltsam, und diese Seltsamkeit wurde noch durch das eigentümliche Benehmen des Verwalters unterstrichen. Er war offensichtlich besorgt, und ebenso offensichtlich war es, daß er die Sache zu bagatellisieren versuchte. Er erklärte, das Mädchen werde sich vermutlich nach Spilleboda begeben haben. Befragt, welchen Grund er habe, dies zu glauben, antwortete er höchst ausweichend. Jemand hatte sie auf dem Wege dorthin gesehen, aber er konnte seinen Gewährsmann nicht angeben. Das sah Casimir Brut so gar nicht ähnlich. Übrigens – wenn das Mädchen sich wirklich nach Spilleboda begeben hatte, so war das unangenehm und ernst genug.
Spilleboda war ein Lehen, welches zu Larsbo gehörte, aber schon seit langer Zeit von allen Verpflichtungen gegen den Gutshof befreit war. Der Häusler, ein siebzigjähriger Greis, genoß überdies einen verhältnismäßig großen Unterhaltsbeitrag von Larsbo in Geld und Naturalien. Die Ursache dieser Begünstigungen war die, daß der Alte seinerzeit zu den hervorragendsten Aposteln der Missionsschule und Gebetsscheune gehört hatte. Eben seine Beredsamkeit hatte Jan-Petter bekehrt, allerdings nur für einige wenige Jahre. Der Gutsherr war dann zu einer zahmeren und weltlicheren Religiosität übergegangen, seine Untergebenen folgten so allmählich seinem Beispiel; die kleine Sekte schmolz rasch zusammen und umfaßte schließlich nur noch den Spillebodaer, seine Frau und noch vier oder fünf Greise sowie einen Buben, der etwas schwachsinnig war. Dieser kleine Sauerteig war immerhin vorhanden, und bei mehreren Gelegenheiten hatte er ganz plötzlich die ganze Gemeinde durchsäuert. Dann gingen Greise und Greisinnen, Jünglinge und Mädchen, Männer und Frauen, einer nach dem anderen den schmalen Pfad über das Moor nach Spilleboda. Hier lagerten sie sich um die Hütte und warteten geduldig, bis der Prediger heraustrat. Manchmal steckte seine Alte den Kopf heraus und rief:
»Schert euch fort, ihr Biester und Schweine, ihr Heidengezücht, ihr Untertanen des Larsboer Teufels, schaut, daß ihr weiterkommt! Mein Kalle sitzt drinnen mit der Bibel in der Hand, aber die Seele ist bei Gott. Ewig, ewig, ewig, halleluja!«
»Halleluja!« gab die Volksmenge zurück. Die Kühnsten schlichen sich zum Fenster vor und guckten nach dem heiligen Manne aus, der ganz richtig mit der Bibel auf dem Schoße dasaß, aber den Blick starr vor sich hin gerichtet. Manchmal wiederum kam der schwachsinnige Junge herausgestürzt, mit hochgezücktem Besen oder Schürhaken, und ging aus die Gemeinde los, die ehrfurchtsvoll zurückwich oder sich schlagen ließ. Endlich, wenn das Warten bereits eine angstvolle Spannung hervorgerufen hatte, öffnete sich die Türe, und die Stimme des Kleinhäuslers ließ sich hören, ohne daß er selbst zum Vorschein kam. Er las oder predigte in einem eintönig singenden Tonfall und mit einer überaus langsamen, aber stetigen Steigerung des Rhythmus und der Stimmstärke. Diese Steigerung wirkte aufreizend wie arabische Musik. Die Frauen begannen sich vor und zurück zu biegen, die Männer folgten nach. Plötzlich stand der Prediger mitten unter ihnen; der weitgeöffnete Mund gab einen tosenden Strom von Worten oder Lauten von sich; Gesicht und Körper waren unglaublich verzerrt; und nach der einstimmigen Zeugenaussage von Gläubigen und Ungläubigen schwebte die ganze Gestalt Minute um Minute ein gutes Stück, wahrscheinlich ein paar Fuß über dem Erdboden. Wenn die Ekstase vorüber war, fiel er in einen Haufen zusammen und wurde von der Alten und dem Buben eiligst in die Hütte getragen.
Aber auch wenn der Prediger nicht predigte und keine allgemeine Bekehrung die Leute dahin brachte, den Moorpfad in einen breiten ausgetretenen Weg zu verwandeln, geschah es recht oft, daß der eine oder andere Sünder Schutz in Spilleboda suchte. Gewöhnlich war es junges Volk, namentlich Frauen, die den Satan in der einen oder anderen Gestalt nahen gesehen und ihre Schwäche gefühlt hatten. Der Häusler verschwendete nicht viele Worte an sie, aber seine Alte spannte sie zu harter Arbeit ein, und dies, nebst Gesang und Gebet, vertrieb den bösen Feind. Soweit wäre alles gut und schön gewesen, aber die bösen Zungen hatten auch etwas über Spilleboda zu sagen und behaupteten, daß die jungen Weiber dort nicht nur Schutz vor der Sünde fanden, sondern auch Befreiung von deren Folgen. Der Ausdruck: »Nach Spilleboda gehen« hatte in gewissen leichtsinnigen Kreisen eine ganz besondere Bedeutung bekommen und war beinahe zu einem Fachausdruck geworden.
Als der Verwalter nun die Vermutung hinwarf, daß die Bolla nach Spilleboda gegangen sei, war folglich Frau Janselins im höchsten Grade aufgebracht und beschuldigte Casimir Brut, die Moral und das Ansehen des Hauses zu untergraben, indem er eine Masse fremder Strolche heranzog. Der Verwalter antwortete mit ungewöhnlicher Sanftmut, er wolle sogleich nach Spilleboda reiten, um die Sache zu untersuchen. Er war schon eine Stunde oder länger weg gewesen, als Ludwig die Ankunft der Gratulanten meldete. Frau Olga fauchte:
»Ich habe grade Lust, dazusitzen und mit den alten Schachteln zu schnattern! Geh du und leiste ihnen Gesellschaft!«
»Danke herzlichst«, sagte Ludwig und kehrte zu Brita zurück.
Frau Olga zog sich unterdessen ihr schwärzestes und schwerstes Kleid an, bis zum Kinn geschlossen und mit einer weißen Krause versehen. Sie wollte ihr Äußeres so düster wie möglich machen und in volle Übereinstimmung mit ihrem Seelenzustand bringen. Am liebsten hätte sie den Witwenhut mit der Schneppe und dem Schleier aufgesetzt, aber fand das doch übertrieben. Sie machte sich auf den Weg zur Küche, um Erfrischungen anzuordnen. Im Servierzimmer hörte sie ein Gekicher aus der Küche; sie schlich zu dem Schiebefenster zwischen den beiden Räumen. Auf einem Stuhl mitten im Raume saß einer von den Söhnen oder Stiefsöhnen des Pfarrers, ein sechzehnjähriger Jüngling, und auf seinem Schoß das Küchenmädchen. Sie bissen abwechselnd von demselben Kuchen ab, und vor ihnen stand die alte Hexe von einer Köchin, die Hände in die Seiten gestemmt, und lächelte selig. Frau Olga hustete und schneuzte sich kräftig, dann ging sie mit schweren, langsamen Schritten auf die Türe zu, die von der Köchin geöffnet wurde. Die beiden jungen Leutchen waren verschwunden, und sie konnte ihre Anordnungen treffen.
Jedes auf einer Seite der großen Vortreppe, saßen Ludwig und Brita, zusammengeduckt, gegen die Sonne blinzelnd, aber im übrigen regungslos und ernst, wie Indianer auf dem Kriegspfad.
Ludwig sagte: »Das ist jedenfalls meine Meinung, aber du bist ja ein Hasenfuß.«
»Glaubst du, ich hab' Angst?« sagte Brita. »Vor dir vielleicht?«
»Was streitet ihr denn?« fragte Frau Olga. Sie stand mitten zwischen ihnen, gerade und ernst, den Unterleib etwas vorgeschoben und die Hände darüber gekreuzt. In der linken Hand hielt sie einen plumpen, ehrwürdigen, alten Schlüsselring, vollbehangen mit großen Schlüsseln, die nirgends hinpaßten. Die brauchbaren Schlüssel waren nämlich in der Obhut der Hausmamsell und wurden nicht ausgeliehen. Sie fragte also: »Worüber streitet ihr denn?«
Und Brita antwortete: »Er will mich in sein Zimmer hinauflocken.«
»Ich möchte ihr etwas zeigen«, erklärte Ludwig.
Frau Olga sagte mit hartgeschlossenen Lippen und scharfer Stimme: »Ist dieses Etwas in deinem Zimmer angenagelt, Ludwig? Sonst möchte ich vorschlagen, daß du es hier zeigst.«
Ludwig betrachtete sie mit Unruhe: »Herrjegerle, wie dumm du heute bist!« sagte er.
Brita sagte: »Sie ist nicht dumm. Aber sie ist naiv.«
Und sie führten ihre Unterhandlungen fort, indem er sagte: »Wenn du kein Hasenfuß wärst, würdest du keine Angst haben –«
Sie gab zurück: »Was sollte ich denn eigentlich in deinem Zimmer tun? Soll ich vielleicht das Handtuch nehmen und dich hinter den Ohren trocken wischen?«
Frau Olga klingelte ganz leicht mit den Schlüsseln und ging.
Auf einem Schaukelbrett in einer Ecke des Parkes saßen Lotte Brenner und Lizzy Willman. Als Frau Olga zu ihnen hinkam, hörte sie Lotte quäken: »Himmlisch!«
»Was ist denn himmlisch?« fragte sie.
Lizzy antwortete: »Es wäre himmlisch, bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr ein Weib zu sein und dann ein Mann.«
»Was sollte das für einen Zweck haben?« fragte Frau Olga.
Lotte kraute sich in den roten Zotteln, drückte ihren Kneifer tiefer in den fleischigen, verwundeten Nasenrücken und ließ die Berge ihrer Wangen zu einem Mienenspiel der Trauer zusammensinken. Sie erwiderte: »Ich sitze da und sehe mir diese alten Weiber an, und da muß ich mich selbst fragen: Was werde ich anfangen, wenn ich einmal aufgehört habe zu gefallen? Ich werde zur Trinkerin. Sicher.«
Lizzy schloß die Augen und murmelte: »Ich kenne nur einen Rausch – den erotischen.«
Frau Olga klingelte mit den Schlüsseln und ging. Auf einer anderen Bank saßen Dr. Karolina und Betty Willman mit der sokratischen Nase. Als Frau Olga dieser Bank nahte, hörte sie Dr. Karolina in ziemlich erregtem Ton sagen:
»Es ist wahr, daß ich mein Kleid hoch aufhebe. Aber das tue ich, weil ich reinlich bin. Ich bin Hygienikerin, mein liebes Kind. Ich will nicht mit Kleidern herumgehen, die in Schmutz getunkt sind. Ich bin fanatisch reinlich.«
Mit ihrer sanftmütigen, milden und ein klein wenig heiseren Stimme antwortete Betty:
»Übertriebene Reinlichkeit läßt immer auf das Vorhandensein der einen oder anderen Perversität schließen. Ich bin ein natürliches Frauenzimmer, und ich fühle mich bei einem gewissen Quantum von Schmutz wohl. Nichtsdestoweniger trage ich immer kurze Röcke, und wenn das nicht hilft, hebe ich so viel auf, daß jeder verständige Mann es bemerken muß. Natürlich folgt er mir dann, und ich enteile, das Tempo ungefähr nach seinem Alter, seinen Kräften und seinem Charakter einrichtend. Ich habe ein rasches, intuitives Gefühl für die verschiedene Leistungsfähigkeit der verschiedenen Männer. Die Trägen gefallen mir nicht. Ich lasse mich gerne jagen. Das ist ein weiblicher Instinkt, und ich bin ein Weib.«
Dr. Karolina lächelte sanft und träumerisch; sie sagte: »Man könnte auch sagen, du bist eine Kokotte.«
»Nein«, erwiderte Betty, »das kann man durchaus nicht sagen. Eine Kokotte jagt, anstatt sich jagen zu lassen, und ihre scheinbare Flucht ist nur ein Versuch, die Beute in den Hinterhalt zu locken. Ich fliehe im Ernst. Ich habe gewöhnlich ganz verflixte Angst. Ich lege meine ganze Energie und Findigkeit in die Flucht. Aber ich lasse mich gerne jagen; das pulvert meine gesunden Instinkte auf und macht mich zu einer besseren und sittsameren Frau, stets bereit, ihre Tugend zu verteidigen. Und durch Übung habe ich eine bemerkenswerte Findigkeit erlangt. Ich möchte den sehen, der auch nur so weit kommt, daß er mich in den Schenkel kneifen kann. Nur einmal wäre ich wirklich fast hängen geblieben. Ich kam eines Tages aus dem Dramatischen Theater und wollte nach Hause in den Walhallaweg gehen. Ein Herr folgte mir. Ich konnte nicht sehen, wie er aussah, aber nach gewissen Zeichen zu schließen, war es ein älterer und etwas kränklicher Mann. Ich nahm die Sache also mit Ruhe, und er zeigte sich auch nicht besonders stürmisch. So schlenderten wir ein Weilchen über die Straße, aber plötzlich stand er an einer Straßenecke vor mir. Er hatte den Rockkragen aufgestellt und den Hut in die Stirn gedrückt, so daß ich nur ein paar verteufelt glitzernde Augen sah. Ich ging quer über die Straße und wollte um die Ecke biegen, da stand er auch dort. Ich konnte mir gar nicht denken, was für einen Satz er gemacht hatte, der abscheuliche alte Herr. Er faßte mich am Arm, aber ich riß mich los und ging in gestrecktem Trab weiter. An der nächsten Straßenecke stand er wieder vor mir, mit ausgebreiteten Armen, wie eine Vogelscheuche. Da machte ich kehrt und lief in kurzem Galopp die Straße hinunter; ein leeres Auto kam mir entgegen, das nahm ich, sprang auf das Trittbrett und lugte aus, während ich die Adresse angab, kroch dann hinein und – fiel ihm geradewegs in die Arme. Da begriff ich, daß der Teufel im Spiel war, und ergab mich gutwillig. Er biß mich in den Nacken, das alte Scheusal. Dann begann er leider die heißen Worte der Liebe zu flüstern, und ich erkannte ihn. Es war Jan-Petter. Ich stellte mich kurz und kräftig vor, und er war schrecklich beschämt. Betty! sagte er. Betty! Du mit deiner Stupsnase und deinen dünnen Beinen! Wo habe ich nur meine Augen gehabt!«
Frau Olga, die hinter dem Rücken der beiden Damen zugehört hatte, sah keinen Anlaß, mit den Schlüsseln zu klingeln, sondern ging stumm von dannen.
Tante Sara und ihre Gratulanten hatten sich im Lusthaus niedergelassen, das von seinem ziemlich hohen Hügel aus den Park beherrschte. Tante Sara saß zwischen dem Generalagenten und dem Pastor; sie trug ihr schweres, lilafarbenes Seidenkleid, das ihr dank des gediegenen starren und bauschigen Stoffes junonische Formen verlieh. Auf dem Scheitel hatte sie nebst dem Zopf eine Haube mit vielen lilafarbenen Bändern, die bald hier-, bald dorthin baumelten, je nach den immer lebhafter werdenden Bewegungen des alten Kopfes. Auf ihrem Schoß stand der Käfig mit dem singenden Goldvogel. Hinter dieser Gruppe wurden die Damen Theander und Alexander sichtbar, die in schüchterner Zurückhaltung beobachteten, wie die beiden Männer Tante Sara huldigten.
Als nun die Herrin des Hauses nahte, erhoben sich alle Gäste und gingen ihr entgegen; nur Tante Sara blieb sitzen, zog den Vogel wieder auf, lauschte verzückt seinen Tönen und betrachtete mit tränenvollem Blick seine natürlichen und lebhaften Bewegungen. Aber der Generalagent sagte:
»Die kleine Gnädige kommt gerade zurecht, um einen Zwist zwischen mir und diesen lieben Damen zu schlichten« – er wies auf die Schwestern Theander und Fräulein Alexander –, »die behaupten, daß man in ihrem und Saras Alter schon ganz aus dem Spiel sei. Aber ich behaupte, daß ein schönes, feines, altes Mädchen wie Kusine Sara nie sicher ist, solange es aimable und rüstige Witwer gibt, wie den Herrn Pfarrer und mich. Und namentlich halte ich dafür, daß der Herr Pfarrer mit seiner paranten und galanten Statur einer jeden gefährlich werden kann.«
»Ja, ja!« sagte der Pastor und warf sich in die Brust.
Aber Frau Olga sagte kurz und trocken: »Ich denke, Tante Sara wird sich bedanken.«
»Ja, gewiß wird sie sich bedanken!« schrien die Damen Theander in lebhaftem Chor.
»Für mich?« fragte der Pastor und betrachtete seinen verschlissenen Kaftan.
»Ein Pfarrer und Witwer«, sagte Fräulein Alexander, »ist so viel wert wie ein Reiter ohne Pferd.«
»Wie unanständig!« schrie die jüngste Dame Theander, aber bereute es und behauptete, sie hätte an etwas ganz anderes gedacht. Der Pastor ließ sich neben Tante Sara nieder und sah etwas enttäuscht aus. Die Alte wurde zu Mitleid gerührt, tätschelte ihm die Hand und sagte: »Ja, ja, mein lieber Herr Pfarrer, wer weiß, was ich gesagt hätte, wenn ich fünfundzwanzig Jahre jünger gewesen wäre.«
»So!« fiel Frau Olga erbittert ein. »Willst du am Ende behaupten, daß du auch heiratswütig warst? Du! Du hast dich doch nicht einmal getraut, einen Mann durch ein berußtes Glas anzusehen –«
»Ich?« zischte Tante Sara und schüttelte den Kopf mit den lilafarbenen Bändern. »Nein, das geht zu weit! Ich traue mich nicht, einen Mann anzusehen?«
Und sie hielt den Atem an und bohrte die Augen in den Pastor.
Die älteste Dame Theander jubelte: »Seht doch Sara an! Wie degagiert!«
Aber Tante Sara zog den Blick wieder an sich und barg ihn unter den Tränenkissen. Ganz verlegen über ihre Dreistigkeit, sagte sie:
»Ich brauche doch keine Männerhasserin zu sein, weil ich weder verlobt noch verheiratet war! Wer arm und häßlich ist, hat das Nachsehen. Aber ich habe es nie versäumt, männliche Gesellschaft zu genießen, wenn sie sich mir geboten hat.«
Und an den Pastor gewendet, fügte sie hinzu: »Das habe ich auch nie bedauert. Denn ich will Ihnen eines sagen, Herr Pastor: Ich habe immer gefunden, daß männlicher Umgang befruchtend wirkt.«
Da brach der unglückselige Pastor in ein homerisches Gelächter aus, und nachdem er die ärgste Heiterkeit abgeschüttelt und sich Augen und Mund mit einem zweifelhaft reinen Taschentuch abgewischt hatte, sagte er: »Das ist ein wahres Wort, Fräulein Sara! Und außerdem eine allgemein bekannte Tatsache, die meine armen Frauen zu wiederholten Malen an sich erfahren mußten, zuweilen zu ihrem nicht geringen Verdruß. Aber hier kommt, Gott sei Lob und Dank, der Kaffee!«
Drei niedliche Mädchen mit blendend weißen Schürzen und Spitzenhäubchen, jedes ein übervolles Tablett tragend, kamen in vorsichtigem Gänsemarsch zum Sommertempel hinaufgeschritten. Ihnen folgten Ludwig und Brita und in einiger Entfernung die Damen Willman und Brenner, sowohl von den Tabletten wie von dem dröhnenden Lachen des Pastors angelockt. Aber auf Seitenwegen, durch Gebüsch und Gesträuch schlichen sich die Pastorskinder aus den verschiedensten Richtungen heran und zogen einen Kreis um den Hügel. Der älteste Sohn war schon im Tempel, ein Gast unter den anderen, während Geschwister und Halbgeschwister geduldig warteten, die Blicke unverwandt auf den geliebten, klugen und freigebigen Vater gerichtet.
Der Pastor grüßte zuerst die neuen Ankömmlinge, dann wendete er sich mit gutgespieltem Zorn und Staunen gegen die Kinder und rief barsch:
»Hört mal, ihr Frechdachse, wer hat euch denn die Erlaubnis gegeben, bis hierher zu kommen? Zieht ab!«
»Ja, lieber Papa«, schrien sie alle auf einmal und verschwanden. Und der Pastor sagte zu der Herrin des Hauses:
»Ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, daß ein paar mit in den Wagen geschlüpft sind. Aber kümmern Sie sich nicht um sie, Gnädigste. Sie haben, bevor wir weggefahren sind, ihr gutes, wenn auch bescheidenes Frühmahl bekommen.«
Zufrieden, der Schar Beachtung verschafft zu haben, und sicher, nicht beim Worte genommen zu werden, ließ er sich nieder und griff zu. Der Generalagent folgte mit glitzerndem, tränenfeuchtem Blick den forthuschenden Kindern, drehte gedankenvoll seinen Bocksbart und wendete sich dem Pastor mit den Worten zu:
»Was man in Liebe gesät hat, wird man in Liebe ernten. Für einen alten Mann wie den Herrn Pastor muß es ein großes Glück sein, sich von einer so zahlreichen Nachkommenschaft umgeben zu sehen.«
»Na ja«, erwiderte der Pastor und ließ einen Zwieback in die Schale plumpsen, »es könnten mehr sein, und es könnten weniger sein. Am ärgsten ist es mit dem Schuster und dem Schneider, der Schule und dem Rizinusöl. Wie der Herr vielleicht selbst wissen wird, wenn er etwa auch so ein Dutzend auf dem Halse hat.«
Der Generalagent seufzte: »Nein, ich bin kinderlos. Und doch hätte ich Mädchen, lieblich wie Judith, haben sollen und eine ganze kleine Schar betriebsamer Agenten, wenn es nämlich so gekommen wäre, wie ich es mir in meiner schwärmerischen Jugend erträumte.«
»Da hör mal einer!« sagte der Pastor. »Was ist denn in die Quere gekommen? Erzählen Sie!«
Und der Generalagent erzählte folgende Geschichte: