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»Mein Vater war Schneider in Wien und ein tüchtiger und angesehener Mann. In unserer Straße wohnte ein anderer Schneider, ein Anverwandter von uns, aber ein sehr schlechter Mann, als Schneider sowohl wie als Mensch. Durch Künste und Kniffe lockte er unsere Kunden an sich. Mein Vater machte schließlich Konkurs und starb bald daraus; ich kann sagen, an der Schmach. Denn solche Männer gab es noch zu jener Zeit. Ich war damals etwa zwölf Jahre alt und hätte, weiß Gott, mein Brot erbetteln müssen, wenn meine gute Mutter sich nicht so für mich gerackert und abgeplagt hätte. Sie klöppelte die schönsten, feinsten Spitzen, die ich je gesehen habe, und ich ging in den Häusern herum und verkaufte sie. Anfangs bekam ich schlecht bezahlt, und obwohl ich weinte und sagte, ich und meine Mutter, die Klöpplerin, seien nahe daran, Hungers zu sterben, bekam ich darum doch nicht mehr, sondern eher weniger. Aber dann kam ich darauf, die Spitzen in einer alten Pappschachtel herumzutragen, auf deren Deckel sich ein paar venezianische Poststempel befanden. Da glaubten die Leute meiner Angabe, daß es venezianische Spitzen seien, und bezahlten dementsprechend. Auf diese Weise fristeten wir unser Leben, und ich bekam überdies eine gute Erziehung. So allmählich begann ich auch andere Artikel zu verkaufen, und es ging mir gut. Aber daß ich allen Versuchungen der Kindheit und Jugend entging, das habe ich der strengen Zucht und dem wachsamen Blick meiner Mutter zu danken. Und sie ließ mir wahrlich nicht viel Freiheit.
Zu Lebzeiten meines Vaters wohnten wir in einem recht großen und schönen Hause nach der Straße zu; hinter dem Hause lag ein kleines Gärtchen, das durch eine Mauer von dem eigentlichen Hinterhause getrennt war. Nach dem Unglück mit meinem Vater mußten wir in dieses Hinterhaus ziehen. Und in unsere frühere Wohnung mit unserem lieben Garten zog ein gewisser Rabbi Schamil ein. Er war ein außerordentlich angesehener Mann und dazu recht vermögend. Er selbst war sehr anspruchslos und bescheiden, aber er hatte in seinen Diensten ein paar Mädchen, die wahrlich frech und übermütig waren, und bald gerieten sie in Zwist mit meiner Mutter. Einmal, als die beiden Mädchen im Garten Teppiche klopften und ich an unserem Fenster stand und ihnen nach Kinderart zunickte und Gesichter schnitt, stürzte meine Mutter plötzlich auf mich los, zog mich am Haar vom Fenster weg und rief:
›Schau nicht zu diesen Frauenzimmern hinaus! Die sind verderbt!‹ Und ich erschrak so, daß ich lange Zeit nicht wagte, einen Blick über die Gartenmauer zu werfen. Ich wußte nämlich, daß meine liebe Mutter überall ihre Augen hatte, wo sie auch ging und stand.
Mit den Jahren wurde ich ja weniger ängstlich und etwas selbständiger, und bald begann ich recht lange Blicke über die Mauer zu werfen, denn es zeigte sich, daß Rabbi Schamil eine Tochter hatte, sein einziges Kind, und hold wie Judith, deren Namen sie trug. Ich guckte also, und nach und nach begann sie auch zurückzugucken, aber in größter Heimlichkeit, denn zu jener Zeit war ein solches Blickewechseln eine recht ernste Sache. Und wenn ein junges Mädchen sich von einem Fremden hätte ansprechen lassen, so wäre sie ebenso in Verruf gekommen, als wenn sie sich heutzutage vom erstbesten auf offenem Markte küssen ließe; vielleicht noch mehr. Wir gingen also sehr behutsam vor, und es dauerte ziemlich lange, ehe wir es wagten, ein paar Worte über die Mauer hinweg zu wechseln. Aber bald faßten wir großes Vertrauen zueinander, und ich fing Feuer und war ganz ausgewechselt, so daß ich es einmal ums andere wagte, meiner Mutter zu widersprechen, die mir vor lauter Verblüffung die Antwort schuldig blieb. Doch brachte sie den Schaden bald ein und führte mich zur Ordnung zurück.
Eines Tages, als meine Mutter aus war, um Einkäufe zu besorgen, kamen Judith und ich überein, uns nach dem Mittagessen im Prater zu treffen. Ich war nun zwanzig Jahre und Geschäftsmann; ich hatte mehrere einträgliche Agenturen, und wenn ich einmal abends ausgehen wollte, brauchte ich nur zu meiner Mutter zu sagen: Der und der wünscht mich dem und dem vorzustellen, es handelt sich um ein Geschäft. Dann antwortete sie: Geh nur, aber komm beizeiten nach Hause. Länger als bis neun Uhr, wo das Haustor geschlossen wurde, durfte ich nicht ausbleiben. Von dieser Freiheit machte ich jetzt oft und oft Gebrauch, um zusammen mit Judith einige selige Stunden im Prater oder anderswo zu genießen. Meine Einkünfte lieferte ich regelmäßig meiner Mutter ab, aber ich hatte mir doch einen kleinen Sparpfennig beiseitegelegt, mit dem ich die Kosten unserer bescheidenen Vergnügungen bestreiten konnte. Was uns am meisten Spaß machte, war, die Belustigungen anderer Menschen zu beobachten und zu sehen, wie leichtsinnig sie das Geld hinauswarfen. Wir beurteilten ihren Charakter und ihre Stellung und rieten und zankten und neckten uns. Und obgleich diese Ausflüge sich zwei Jahre lang mehrere Male in der Woche wiederholten und obwohl wir beide vergnügter miteinander waren als irgend jemand in ganz Wien, glaube ich nicht, daß sie mich alles in allem mehr als fünf Gulden gekostet haben. Ja, in Wahrheit, das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens! Meine Mutter ahnte nichts; aber einmal war sie nahe daran, unser Geheimnis zu entdecken. Um unsere Zusammenkünfte zu erleichtern, hatten wir uns ein ganzes System von verschiedenen Pfiffen zurechtgelegt, mit denen wir fragten und antworteten, Zeit und Ort bestimmten. Eines Tages, als ich gerade im Hofe stand und pfiff, kam plötzlich meine Mutter herausgestürzt und fragte in zornigem Ton, was ich da treibe und warum ich so oft im Hofe pfeife. Vermutlich glaubte sie, ich stünde in irgendeiner Verbindung mit den Mägden des Rabbiners; so hoch, wie bis zu seiner Tochter, verstieg sich ihr Argwohn sicherlich nicht. Ganz erschrocken antwortete ich: ›Liebe Mutter, ich pfeife so gern, aber im Hause will ich es nicht tun, um mich dir gegenüber nicht respektlos zu zeigen.‹
›Ach so‹, sagte die Mutter, nichts weniger als überzeugt. ›Aber wer ist denn das, der dir antwortet?‹
Noch erschrockener, suchte ich ihr zu erklären, daß das, was sie gehört hatte, nur das Echo von der Hausmauer gewesen war. ›Das Echo will ich hören‹, sagte meine Mutter und befahl mir, zu pfeifen. Mit zitternden Lippen formte ich einen Pfiff. Und horch! Ganz richtig antwortete ein Echo, schwach und gemessen, ganz entsprechend. Aber das Echo war niemand anders als mein Mädchen, das hinter der Mauer gestanden und alles gehört hatte. Da sagte meine Mutter: ›Wollen mal sehen, ob das Echo auch mir antwortet!‹ Und sie rief: ›Gemeines Luder!‹
›Luder!‹ antwortete das Echo, und mit einer so guten Nachahmung der rauhen heiseren Stimme meiner Mutter, daß sie sich überzeugt fühlte und wieder in das Haus ging. Doch verbot sie mir, weiter im Hof zu pfeifen. Aber ich wußte mir zu helfen. Ich war damals, wie jetzt auch noch, Agent einer großen Spielzeugfabrik in Nürnberg und hatte ein kleines Lager von Spieldosen, singenden Vögeln und derlei. Einen dieser Vögel verehrte ich meiner Liebsten, und einen andern nahm ich für meinen eigenen Gebrauch. Wenn wir nun ein Stelldichein verabreden wollten, ließ ich meinen Vogel auf der einen Seite der Mauer singen, und der ihre antwortete auf der andern. Das ging vortrefflich und klang außerdem sehr hübsch, und ich habe seither immer eine gewisse Schwäche für diese kleinen Vögel behalten. Meine Mutter saß oft am Fenster und lauschte mit Wohlgefallen dem Vogelgesang. Und sie sagte:
›Das ist ein artiger Vogel, den du da hast. Und es klingt ganz, als hätte er zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche.‹
›Ja‹, antwortete ich, ›es ist ganz so, wie du sagst. Dein Gehör ist ebenso scharf wie dein Gesicht.‹
So allmählich wurden unsere Gefühle tiefer und ernster; mein Mädchen wurde ganz versonnen, und ich sagte mir, daß sie wohl ans Heiraten denke. Das machte mir Kummer, und als sie das sah, sagte sie:
›Mache dir keine Sorgen wegen meines Vaters. Er tut alles, was ich will, und ich habe schon mit ihm gesprochen.‹
Ich wurde nur noch niedergeschlagener, weil ich an meine Mutter dachte. Denn sie pflegte zu sagen: ›Wenn ich einmal meine Augen schließe, ist es Zeit genug für dich zu heiraten.‹ Und ich wußte, wenn ich ihr einen Vorschlag machte, würde sie sofort nein sagen, denn sie wollte, daß alles immer nur von ihr ausgehe. Außerdem würde sie mich fragen, wie ich Judiths Bekanntschaft gemacht hätte, und es würde mir schwer fallen, dies zu erklären. Ich vertraute meine Sorgen Judith an, und sie sagte:
›Ist deine Mutter so geartet, dann müssen wir zur List greifen.‹
Wir grübelten hin und her, aber endlich sagte ich:
›Ehrlich währt am längsten, und mit der Wahrheit kommt man weit, wenn man sie richtig anzuwenden versieht.‹
Ich entwickelte Judith meinen Plan, und er fand ihren Beifall. Aber an diesem Abend blieb ich mit Absicht über die Sperrstunde aus und kam erst nach Hause, als die Uhr zwölf geschlagen hatte. Meine Mutter war ganz außer sich vor Angst um mich, und anstatt mich mit Vorwürfen zu empfangen, wie ich erwartet hatte, preßte sie mich heftig in ihre Arme und weinte an meiner Brust. Da schämte ich mich, aber ich sagte:
›Liebe Mutter, du rührst mich zu Tränen, und ich will dich nicht mit Ausflüchten betrügen, sondern dir die ganze Wahrheit sagen. Ich liebe ein Mädchen, und mit ihr habe ich mich im Prater vergnügt, wenn auch in der unschuldigsten Weise. Was wir heute abend taten, das haben wir schon an vielen Abenden getan; aber das Unglück wollte, daß wir uns verspätet haben.‹
Da stieß meine Mutter mich von sich und stürzte sich dann auf mich und zerrte mich am Haar. Sie fragte mich nach dem Namen des Mädchens, und da ich diesen standhaft verschwieg, rief sie:
›Sicher ist es eine von Rabbi Schamils Mägden. Aber ich werde meinen Spüleimer in seinen Garten schütten, und wenn er dann fragt, was das heißen soll, dann werde ich ihm schon die Wahrheit sagen.‹
Ich suchte sie zu beruhigen und ihren Argwohn vom Hause des Rabbi abzulenken; aber sie wanderte mit gelöstem Haar auf und ab und war im höchsten Grade erregt. Am folgenden Morgen, als sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte sie:
›Ich sehe, daß meine Zucht und meine Gebete nichts gefruchtet haben, und du beginnst jetzt schon zu groß für eine Züchtigung zu werden. Aber eher, als daß du dich mit Dirnen zugrunde richtest, will ich trachten, dich zu verheiraten.‹
Damit hatte ich mein erstes Ziel erreicht. Und ich verriet meine Freude, indem ich rief:
›Ach, liebe Mutter, wenn du es wirklich willst! Und ich habe dir ein prächtiges Mädchen vorzuschlagen.‹ ›Das glaube ich gerne‹, erwiderte meine Mutter ganz trocken. ›Aber diese Sache geht mich an und nicht dich. Laß du mich nur machen.‹
Da wußte ich, daß sie einen Heiratsvermittler aufzusuchen gedachte, und auch dies hatte ich vorausgesehen. In unsrer Straße gab es zwei, und der eine war kein andrer als jener Schneider, unser falscher Anverwandter, der mit seinen Künsten und Kniffen unseren armen Vater ruiniert hatte. Der andere war ein geachteter Kaufmann und unser Nachbar. Zu ihm ging ich und sagte:
›Wenn meine Mutter kommt, um sich mit Ihnen in der Heiratsfrage zu beraten, so tun Sie mir den Gefallen, Rabbi Schamils Tochter vorzuschlagen.‹
Er erwiderte: ›Bist du verrückt? Wer glaubst du zu sein? Das wäre ein Schimpf für Rabbi Schamil!‹
Ich vertraute ihm unser Geheimnis an und erklärte ihm alles; und da der gute Kaufmann einige meiner Artikel zu kaufen wünschte, versprach ich, ihm einen vorteilhaften Rabatt zu verschaffen. Endlich gab er, wenn auch zögernd, meinen Bitten nach. Dann beobachtete ich meine Mutter, und es waren noch nicht viele Tage verstrichen, als ich sah, wie sie ihr bestes Kleid anzog und unser Heim verließ. Ich stellte mich ins Haustor und hielt Ausschau. Sie blieb vor der Türe des Kaufmanns stehen und stand recht lange da; aber plötzlich ging sie quer über die Straße auf das Haus des Schneiders los. Offenbar hatte sie sich im letzten Augenblick für ihn entschlossen, weil er unser Verwandter war. Da packte mich die schwärzeste Verzweiflung; ich stürzte in meine Kammer, warf mich auf das Bett und stieß bald Gebete, bald Flüche aus. Als ich nach einer Weile meine Mutter zurückkehren hörte, faßte ich mich indes, um nicht ihren Verdacht zu erregen. Sie kam zu mir herein und sagte:
›Nun bin ich in deinen Angelegenheiten aus gewesen und habe mein Bestes getan. Ich denke, daß du dich mit Nathan Speibachs Tochter Maria verheiraten wirst. Sie ist fünf Jahre älter als du, aber sonst ist nichts an ihr auszusetzen. Übrigens war nichts Besseres zu haben.‹
Ich wand mich vor Angst, aber beherrschte mich. Und plötzlich kam mir ein glücklicher Gedanke. Ich sagte:
›Liebe Mutter, als du mit dem Schadchen‹ –so nennen wir die Heiratsvermittler – ›von meinen Vermögensverhältnissen sprachst, ein wie großes jährliches Einkommen hast du da angegeben?‹
Sie antwortete: ›Eintausend Gulden.‹
Ich sagte: ›Es ist wahr, daß ich heuer siebenhundert Gulden verdient habe. Aber warum sollte ich nicht nächstes Jahr das Doppelte oder mehr verdienen? Hättest du eine höhere Summe genannt, so würde sich der Mann mehr Mühe gegeben und vielleicht eine bessere Partie gefunden haben.‹
Als meine Mutter das hörte, errötete sie bis zu den Haarwurzeln, und ich glaubte schon, sie würde mir eine Ohrfeige geben. Aber sie schluckte ihren Zorn und brummte:
›Hast du einmal recht, du Taugenichts, so sollst du auch recht behalten. Ich gehe sofort noch mal zu dem Gauner hin.‹
Sie ging also zu dem Schadchen zurück, und wie sie mir später erzählte, hatte sie gesagt:
›Lieber Freund, als ich von den Vermögensverhältnissen meines Sohnes sprach, ein wie großes jährliches Einkommen habe ich da angegeben?‹
Aber er war ihr über und antwortete:
›Da ich dir Speibachs tugendhafte Tochter vorschlagen konnte, mußt du wenigstens zweitausend Gulden gesagt haben.‹
Da wurde meine liebe Mutter ganz wütend und rief:
›Ich erinnere mich sehr genau, daß ich eintausend Gulden gesagt habe. Aber du bist ein Schelm, und ich will nichts mit dir zu tun haben.‹
Und sie ging schnurstracks zu dem anderen Heiratsvermittler, dem Kaufmann. Ich stand im Haustor auf der Lauer, und ich konnte meiner Angst nicht Herr werden, sondern schlich mich zu dem Hause des Kaufmanns. Er erblickte mich und öffnete einen Spalt des Fensters, so daß ich hören konnte, was gesprochen wurde. Und wahrlich, pries meine gute Mutter nicht alle meine Eigenschaften in solchen Ausdrücken, daß meine Augen sich mit Tränen füllten und ich mich schämte? Aber als der Schadchen schließlich Rabbi Schamils Tochter vorschlug, antwortete sie ganz so, wie er selbst geantwortet hatte:
›Wer bin ich, und wer ist mein Sohn? Das wäre ein Schimpf für Rabbi Schamil!‹
›Laß das meine Sorge sein‹, sagte der Heiratsvermittler.
Meine Mutter saß lange in Grübeleien versunken. Endlich sagte sie:
›Oder sollte irgendein Haken an dem Mädchen sein? Vielleicht will der alte Geizhals ihr keine Mitgift geben?‹
›Im Gegenteil!‹ erwiderte der Schadchen und blinzelte mir mit den Augen zu. ›Im Gegenteil, ich glaube, sie bekommt eine große Mitgift und eine reichliche Aussteuer, da sie die einzige Tochter ist. Auch wüßte ich keinen anderen Fehler, es sei denn, daß sie eine ganz kleine Warze an der Oberlippe hat.‹
›Warze hin, Warze her‹, brummte meine Mutter. ›Ich wollte, sie hätte die ganze Haut voll, dann hätten wir größere Aussichten.‹
Da wußte ich, daß wir gewonnenes Spiel hatten, und ich lief nach Hause und sprang auf die Mauer und erzählte Judith alles. Aber als meine Mutter zurückkam, saß ich in meiner Kammer und sah tiefbekümmert aus. Sie sagte nichts, aber auch sie sah bekümmert oder wenigstens nachdenklich drein. Wie wir so beim Mittagstisch saßen, kam der Vermittler zu uns herein und rief:
›Freuen Sie sich, liebe Frau, und du, junger Freund! Ich habe schon mit Rabbi Schamil gesprochen, und er hat meinen Vorschlag freundlich aufgenommen. Heute abend wird er Ihnen einen Besuch abstatten.‹
Meine Mutter sprang auf und schloß mich in die Arme.
›Was sagst du jetzt zu deiner Mutter?‹ fragte sie mit Zärtlichkeit und Stolz. ›Denke nur, wenn ich dir Rabbi Schamils Tochter verschaffe!‹
Ich wäre vor Freude fast erstickt, aber ich beherrschte mich und sagte:
›Ich habe sie ab und zu einmal im Vorbeigehen gesehen, und sie scheint ja ganz hübsch zu sein. Aber hat sie nicht eine Warze auf der Oberlippe?‹
Da bekam ich eine Ohrfeige wegen meiner Ungenügsamkeit, und meine Mutter schoß hin und her, um unsere armselige Wohnung nach besten Kräften herauszuputzen und sie des feinen Besuches würdig zu machen. Aber je mehr Zeit verstrich, desto stiller und nachdenklicher wurde sie, und als Rabbi Schamil schließlich kam, empfing sie ihn zwar in der höflichsten Weise, doch ohne allzuviel Umstände zu machen. Und ich saß in meiner Kammer und horchte. Rabbi Schamil ging gerade auf die Sache los, aber verschwieg, was er von unserer Liebe wußte. Nachdem sie die Angelegenheit eine Zeitlang verhandelt hatten, sagte meine Mutter:
›Ja, das ist ja eine große Ehre und ein Glück für meinen Sohn, und möge es ihnen zum Segen gereichen. Ich hoffe, daß Ihr liebes Fräulein Tochter jetzt wohler ist und nicht mehr Blut hustet, wie ich vor einiger Zeit sagen hörte.‹
›Was ist das für ein Unsinn?‹ gab Rabbi Schamil zurück. ›Blut husten? Ich habe meine Tochter überhaupt nie husten gehört.‹
›Ja, was die Leute alles zusammenreden!‹ sagte meine Mutter. ›Erst kürzlich hörte ich jemanden sagen, daß das junge Fräulein täglich ein neues Kleid anzieht und ihre eleganten Toiletten überhaupt kein Ende nehmen.‹
Nun wurde Rabbi Schamil etwas ärgerlich und sagte: ›Meine beste Frau, meine Tochter ist ein einfaches, ernstes Mädchen, und in meinem Hause herrschen keine kostspieligen Gewohnheiten.‹
›Dachte ich es mir doch‹, sagte meine Mutter. ›Ich habe sie auch in Schutz genommen und gesagt: Rabbi Schamils Tochter gehört nicht zu dieser neumodischen Jugend, die sich über die Vorschriften hinwegsetzt und sich an Tand und Tanz, Theater und derlei hängt. Aber die Menschen sind ja so böse, und schwups sagte einer: Nein, das glaub' ich gerne – die Arme ist doch schwerhörig.‹
›Meine Tochter?‹ rief der Rabbi und sprang auf. ›Nein, das geht aber doch zu weit!‹
›Ja, was weiß denn ich‹, seufzte meine Mutter. ›Aber das weiß ich: wenn ich eine schöne tugendhafte Tochter hätte und ihr eine gute Mitgift zu geben gedächte, so würde ich mich auch nicht scheuen, von ihren Fehlern zu sprechen.‹
Nun gingen sie in den Flur hinaus, und ich hörte nicht, was weiter gesprochen wurde. Den ganzen Abend verblieb meine Mutter stumm und gedankenvoll, und als sie meine Angst sah, sagte sie:
›Sei du nur froh, daß deine Mutter Augen und Ohren hat; morgen erwidere ich Rabbi Schamil den Besuch.‹
Und richtig zog sie am folgenden Morgen das Beste an, was sie hatte, und begab sich zu unsern Nachbarn. Was sie dort sagte, weiß ich nicht so genau; aber schließlich wurde Rabbi Schamil zornig und wollte sie hinauswerfen. Er besann sich jedoch und ging zuerst zu seiner Tochter hinein, um ihre Meinung über die wunderliche Alte zu hören. Er sagte:
›Hier sitzt die Mutter deines Freundes und hängt dir einen Fehler ärger als den andern an; ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll.‹
Judith, der kleine Schalk, fing zu lachen an.
›Ach, lieber Vater‹, sagte sie, ›die Alte wagt nicht, an ihr Glück zu glauben, wenn sie nicht erfährt, daß ich irgendeinen Fehler an mir habe. Aber ehrlich währt am längsten, und darum sollst du so sprechen: Liebe Frau Schönthal, Sie sind mir zu schlau, und darum ist es am besten, wenn ich mit der Wahrheit herausrücke. Meine Tochter ist unbedachterweise im Prater spazierengegangen und hat sich dort und anderswo in männlicher Gesellschaft vergnügt. In Zucht und Ehren, das versichere ich. Aber Sie wissen ja am besten, wie die Leute klatschen. Und darum habe ich es so eilig, sie unter die Haube zu bringen.‹
Das belustigte Rabbi Schamil, und er freute sich, meine liebe Mutter ein bißchen zum besten zu halten. Also sagte er ungefähr das, was Judith ihn gelehrt hatte, und fügte hinzu:
›Sind Sie jetzt zufrieden, Frau Schönthal?‹
›Ja‹, antwortete meine Mutter, ›jetzt bin ich zufrieden, und es ist mir zumute, als ob mir ein Stein vom Herzen gefallen wäre.‹
Sie verabschiedete sich in der höflichsten Weise und versprach, bald von sich hören zu lassen. Aber ich ließ meinen Vogel auf meiner Seite singen, und Judith ließ ihren Vogel auf ihrer Seite singen, und am Abend trafen wir uns im Prater und nahmen Abschied voneinander, denn ich sollte eine Geschäftsreise antreten und sechs Wochen wegbleiben. Beide waren wir unsrer Sache sicher und priesen unsre List, und einen glücklicheren Abend habe ich nie erlebt.
Zu meiner Mutter sagte ich: ›Möchte doch die Sache, wenn ich zurückkomme, so weit sein, daß ich bald Hochzeit feiern kann. Ich merke, daß ich anfange, heiratslustig zu werden.‹
›Sei ganz ruhig‹, sagte meine Mutter, ›und laß mich nur machen.‹
Sehr richtig! Als ich von meiner Reise zurückkehrte, sah ich sofort, daß unser einfaches Haus verwandelt und geschmückt war, um ein Brautpaar zu empfangen. Ich schlang die Arme um den Hals meiner Mutter, küßte sie ungestüm und bat sie, sie möge mich doch gleich zu Rabbi Schamil begleiten.
Sie erwiderte: ›Zu Rabbi Schamil kann ich dich nicht führen, denn sowohl er wie seine unzüchtige Tochter haben die Stadt verlassen, von Schimpf und Schande gefolgt. Aber mit Nathan Speibach ist alles klipp und klar.‹
Ich war so verdonnert, daß ich zuerst den Umfang meines Unglücks nicht ermaß. Meine Mutter erzählte mir ganz ruhig, sie habe Rabbi Schamil einen Brief geschrieben und ihn und seine Tochter scharf getadelt. Ferner war sie bei den Nachbarn herumgegangen und hatte erzählt, was der Vater über den unzüchtigen Wandel seiner Tochter bekannt hatte. Und da habe Rabbi Schamil es offenbar am ratsamsten gefunden, die Stadt für einige Zeit zu verlassen.
Endlich wurde mir klar, was geschehen war. Die Verzweiflung erstickte mich beinahe, und in einem wahnwitzigen Strom von Tränen und Vorwürfen gestand ich meiner Mutter die ganze Wahrheit. Zuerst war sie etwas betroffen und niedergeschlagen. Dann aber sagte sie:
›An meinem Wort, das ich Nathan Speibach gegeben habe, kann ich nicht rütteln. Auch kann ich nicht zurücknehmen, was ich über Judith gesagt habe. Und ich sehe nicht ein, daß ihr Wandel besser gewesen ist, weil sie sich mit dir herumgetrieben hat, du Tunichtgut. Im Gegenteil! Ich glaubte doch wenigstens, sie hätte sich mit irgendeinem reichen, vornehmen jungen Herrn vergnügt ...‹
So feierte ich denn Hochzeit mit Speibachs Tochter, und niemand kann etwas andres sagen, als daß sie mir eine gute Ehefrau war. Aber unsre Ehe ward nicht mit Leibesfrucht gesegnet. Meine Mutter, die hierüber sehr trauerte, pflegte zu sagen:
›Das ist die Strafe, weil du dich in deiner Jugend mit Rabbi Schamils unzüchtiger Tochter eingelassen hast.‹
Ich hingegen war eher geneigt, die Schuld ihrer allzu großen Klugheit beizumessen und meiner Torheit, sie überlisten zu wollen. Denn wenn ein törichter Sohn seine kluge Mutter hinters Licht führen will – ach, dann lacht der Teufel sich ins Fäustchen.«
»Das ist wahr«, bestätigte der Pastor, der so allgemach von dem Zwieback zu dem feineren Backwerk übergegangen war.
»Aber«, fuhr er fort, »so etwas muß man heutzutage von einem Juden hören. Die halten noch immer die guten Zehn Gebote in Ehren, und nicht zum geringsten das vierte. Während die christliche Jugend sowohl die Religion wie deren Verkünder hofmeistern zu können glaubt. Darum ist sie auch danach, und man kann selbst in gebildeter Gesellschaft freche junge Leute treffen, die auf ihrer Manschette anzeichnen, was ein alter Seelenhirt etwa in seinen Kaffee tunkt.«
Diese Rüge, gegen Ludwig von Battwyhl gerichtet, war nicht ganz unberechtigt. Denn der junge Mann hatte tatsächlich einen Strich für jeden Zwieback und einen Haken für jedes Stück Backwerk gemacht, das der Pastor eingetunkt hatte. Allerdings hatte er es auf Anstiften von Brita Djurling getan, die folglich die moralische Verantwortung dafür trug. Er errötete und schob hastig die Manschette in den Ärmel; und um von der Sache abzulenken, rief er:
»Ach, wie schade um die kleine Judith! Können Sie sie nicht noch jetzt heiraten, Herr Generalagent, da Sie doch Witwer geworden sind?«
»Ich für meine Person«, fiel Fräulein Alexander ein, »muß die Frau Mutter des Herrn Generalagenten ganz entschieden tadeln und Fräulein Judith bedauern. Nach allem zu schließen, waren Sie beide füreinander bestimmt, und meiner Überzeugung nach hat jeder Mensch seinen vorbestimmten Gegenpart, den er früher oder später findet, wenn er nur nicht locker läßt.«
»Das ist auch meine Ansicht«, sagte Ludwig. »Man darf nicht locker lassen, wenn es besser werden soll, und ich habe eine schöne Geschichte von einer Frau gehört, die den Rechten erst in ihrer sechsten Ehe und in sehr hohem Alter fand. Sie war, wie gesagt, fünfmal verheiratet gewesen, und alle ihre Männer waren famose Kerle, jeder in seiner Art. Und sowohl während wie auch zwischen ihren Ehen hatte sie Kostproben rechts und links gemacht und eine so große Erfahrung erworben, daß sie schließlich Männer von allen erdenklichen Sorten, Temperamenten, Altern und Formaten gekannt hatte. Aber die ganze Zeit hatte sie das bestimmte Gefühl, daß sie nie dem Rechten begegnet war. Als sie nun zum fünftenmal Witwe geworden und siebzig Jahre alt war, sagte sie zu sich selbst: Kommt er jetzt nicht bald, dann muß ich alle Hoffnung fahren lassen und versuchen, auch so zufrieden zu sein. Aber gerade da kam er. Sie traf ihn in einem Badeort, und da er ein sehr feiner und angenehmer alter Herr war, faßte sie sogleich große Sympathie für ihn und er natürlich für sie. Bald erkannten sie, daß sie füreinander geboren waren, und so heirateten sie und lebten glücklich, obgleich sie es natürlich bedauern mußten, daß sie sich nicht früher getroffen hatten; und eines Tages sagte der Mann zu seiner Frau: ›Nicht daß ich eifersüchtig auf meine Vorgänger bin, denn ich weiß ja, daß du sie nicht so geliebt hast, wie du mich liebst. Aber sage mir doch auf jeden Fall aufrichtig, ob du einem unter ihnen wirklich und aus ganzer Seele zugetan warst; es würde mich interessieren, das zu wissen.‹ Die Frau erforschte gewissenhaft ihr Herz und konnte bald mitteilen, daß sie keinen ihrer Männer mit wirklicher Liebe geliebt hatte. Sie nahm hierauf ihre gelegentlicheren Bekanntschaften vor und ging in der Erinnerung bis in die fernste Vergangenheit zurück, und plötzlich wurde sie bald rot, bald weiß, und sie griff sich an das Herz und sagte: ›Du hast Unrecht getan, mich zu fragen. Jetzt hast du eine Jugenderinnerung erweckt, und ich fühle mich lebhaft ergriffen. Ich habe wirklich einen Mann ebensosehr geliebt, wie ich dich liebe, oder vielleicht noch mehr, denn wir waren beide jung.‹ Dieses Geständnis verdarb dem Manne die Laune und machte ihn unzufrieden mit seinem Los. Wenn er nun doch auf jeden Fall nicht der Rechte war, dann, meinte er, hätte das Ganze seinen Sinn verloren und hätte ebensogut unterbleiben können! Er wurde verdrießlich und ging herum und nörgelte und wollte durchaus alle möglichen Aufschlüsse über diesen Menschen haben, der ihm zuvorgekommen und der Rechte gewesen war. Endlich sagte die gequälte Frau: ›Um deine Eifersucht zu stillen, will ich dir alles erzählen. Diesen Mann, dessen Namen ich längst vergessen habe, aber dessen Züge unvergänglich in meiner Erinnerung strahlen, traf ich auf einer Seereise zwischen Stockholm und Visby. Er war allein, ich war allein. Wir gingen auf dem Verdeck auf und ab und tauschten ernste Gedanken über ernste Dinge aus. Und ich fühlte, daß er mich liebte und ich ihn. Ein Sturm brach los, und wir schlossen uns zusammen; aber später am Abend wurde es wieder ruhig, und wir saßen auf dem Verdeck des Schiffes, Seite an Seite, Hand in Hand, stumm, von Wehmut und Glück erfüllt. Als der Anstand es erforderte, brachen wir auf und trennten uns. Er begleitete mich zu meiner Kajütentür und drückte einen Kuß auf meine Stirn. Es war ein Abschied fürs Leben. Und nun weißt du alles.‹
Aber der alte Ehemann hatte mit steigender Verwunderung zugehört, und nun sagte er: ›Du siehst wohl, daß ich erstaunt bin, aber eigentlich weiß ich nicht, worüber ich am meisten staune. Denn ein ganz ähnliches Abenteuer habe ich erlebt, und zu demselben Zeitpunkt und auch auf einer Reise zwischen Stockholm und Visby. Auch damals erhob sich ein Sturm, und wir schlossen uns zusammen, und nachher wurde es wieder schön. Worüber wir sprachen, kann ich dir auch sagen, denn wir sprachen über dies und das. Und wovon spracht ihr?‹ – ›Genau von demselben‹, rief die alte Dame, und sie schloß ihn in ihre Arme und sagte: ›Können wir es wagen, an unser Glück zu glauben?‹ Er sagte: ›Mein Mädchen war soundso gekleidet.‹ Und sie rief: ›Du beschreibst mich aufs I-Tüpfelchen, wie ich damals war. Kein Zweifel mehr! Du bist der einzige Mann, den ich wahrhaft geliebt habe!‹ – Aber er schob sie ein bißchen von sich weg und sagte: ›Noch ist nicht alles klar. Ich begleitete allerdings mein Mädchen zu ihrer Kajüte und küßte sie zum Abschied auf die Stirn, aber dann reute es mich, und ich schlug vor, sie möge mit mir in meine Kajüte kommen, wo wir allein waren. Und was wir dann taten, das kann ich dir auch sagen –‹«
Hier wurde der Erzähler von einem gemeinsamen Aufschrei der Damen Willman unterbrochen. Er warf ihnen einen verachtungsvollen Blick zu.
»Was ist denn los? Wenn eure Phantasie mit euch durchgeht, so behaltet das für euch selbst und beunruhigt euch nicht meinetwegen. Wenn ich einmal das Glück habe, in feiner und gebildeter Damengesellschaft zu weilen, so weiß ich mich schon zu benehmen.« Er verneigte sich vor den Damen Theander und Alexander, die die Höflichkeit etwas verlegen erwiderten, dann fuhr er fort:
»Der Ehemann sagte also: ›Was ich und mein Mädchen in meiner Kajüte taten, kann ich ruhig erzählen. Denn es war das Unschuldigste von der Welt. Wir saßen Seite an Seite, Hand in Hand, stumm, von Wehmut und Glück erfüllt. Wer plötzlich sprang mein Mädchen auf und rief: ›Ich Unglückliche! Denke nur, wenn das peinliche Folgen hat!‹ Und sie stürzte auf das Verdeck hinauf. Ich folgte ihr, so rasch ich konnte, denn ich fürchtete, sie würde sich in ihrer Verzweiflung über Bord stürzen. Aber es kam noch viel schlimmer, denn dort oben erwarteten uns ihre Angehörigen, und das Schiff hatte schon längst angelegt, und wir hatten uns verschlafen. Wenn dein Abenteuer mit meinem Abenteuer identisch war, wie willst du dann diese Divergenz erklären?‹ – ›Die erkläre ich so‹, erwiderte die alte Dame, ›daß einen von uns das Gedächtnis trügt, was wiederum an einem Zufall liegen kann oder an einer Verwechslung mit irgendeinem anderen ähnlichen Vorfall. Daß du aber der einzige Mann bist, den ich wirklich geliebt habe, davon bin ich jetzt überzeugt.‹ – Und ihre Liebe bekam neuen Schwung, und das Leben hatte gleichsam einen Sinn für sie bekommen. Aber ich habe eine andere wahre und schöne Geschichte von zwei Zwillingen gehört, die dasselbe Mädchen liebten. Aus der kann man noch mehr lernen –«
»Verschone uns!« riefen die Damen Willman. »Die haben wir gehört, und die ist entsetzlich.«
Ludwig verteidigte sich, indem er sagte:
»Es ist an und für sich eine lehrreiche und unschuldige Geschichte, wenn ich auch gezwungen war, sie etwas zu pfeffern, um eurem Geschmack entgegenzukommen. Meine ernsten und moralischen Geschichten erzähle ich den Stallknechten, die sie mit Dankbarkeit aufnehmen; während Tante Karolina immer erst munter wird, wenn ich etwas gesagt habe, worüber ich mich schämen muß. Aber das muß anders werden. Und das erinnert mich an einen Pfarrer, der Kalle Mager hieß. Er hatte all die Gelehrsamkeit, die ein Pfarrer haben soll, und außerdem war er zum Bersten voll von edler Denkungsweise und ernsten Ermahnungen. Und das wäre ja soweit ganz gut und schön gewesen, wenn er nur Absatz dafür gehabt hätte. Aber es gelang ihm nicht, das Vertrauen seiner Schäflein zu gewinnen, und es sah düster für ihn aus. Da kam er auf die Idee, eine nette, kleine, knusperige Geschichte hier und dort in seine öden alten Predigten einzuflechten, und die beste hob er sich immer bis knapp vor dem Segen auf, damit das Publikum mit fröhlichem Herzen von dannen gehe und sich nach dem nächsten Sonntag sehne. Das schlug ein, der Umsatz stieg um viele hundert Prozent, und der Pfarrer bekam mehr Butter, Eier und Braten, als sein Knecht auf dem Markte verkaufen konnte. Er konnte alle seine alten Predigten halten und brauchte sie weder zu wenden noch zu flicken, sondern nahm sie, wie sie waren. Er brauchte nur aufzupassen, daß er mit munteren Geschichten gut versehen war. Eines Tages, als er über die ewigen Höllenstrafen gesprochen und eine richtige Schwergewichtspredigt in drei Runden gehalten hatte, sagte er zu sich selbst: Das nimmt kein gutes Ende, wenn du nicht zum Schluß ein fröhliches Histörchen als Draufgabe erzählst. Aber da lag der Hase im Pfeffer! Er konnte sich nicht an eine einzige muntere Geschichte erinnern! Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn; aber dann wurde er zornig und dachte: Bin ich ein Priester oder ein Hanswurst? Einmal kann ich wohl auch auf meine Würde halten! Und er ging rasch und barsch zum Segen über. Was geschah? Die Gemeinde schmunzelte. Still und anständig, wie sie zu schmunzeln pflegte, aber zugleich breit und behaglich. Jeder glaubte, der Pfarrer hätte eine Schnurre erzählt, die sie verschlafen oder deren seine Pointe sie nicht kapiert hätten. Die alten Männer lachten den alten Weibern zu, und die alten Weiber den alten Männern, und als sie herauskamen, sagten sie zueinander: ›Ich habe gar nicht recht verstanden, was er gesagt hat, aber so lustig war er heute!‹ Von diesem Tage an brauchte sich der Pfarrer nicht mehr anzustrengen, um irgendwelche ergötzliche Geschichten zu finden. Sein Ruf als urgemütlicher und erbaulicher Prediger war gefestigt, und er konnte so öde und langweilig sein, als er nur wollte, ohne das mindeste dabei zu riskieren.« –
Als Ludwig geendet hatte, herrschte allgemeines Schweigen. Alle ahnten ein Unwetter, aber niemand wagte, als Blitzableiter aufzutreten. Endlich stellte der Pastor die Kaffeetasse weg, wischte sich umständlich Mund und Kinn, zerknüllte das Taschentuch in der Hand und sagte:
»Wenn der unerzogene und verderbte Jüngling mich durch seine Erzählung ärgern wollte, so ist ihm dies jämmerlich mißlungen. Ich fühle mich wahrlich nicht getroffen. Erstlich habe ich die Ehre, Sven Lager zu heißen und nicht Kalle Mager, zweitens ist es zwar richtig, daß ich meine Predigten hie und da durch die eine oder andere unschuldige Anekdote belebe, aber das geschieht keineswegs, um Heiterkeit zu erregen, sondern nur, um eine paar arme alte Hascher noch zu halten, die sich sonst nur schwer des Schlummers erwehren könnten. Und daß ich in dem Ansehen stehen sollte, ein gemütlicher Pfarrer zu sein, das bestreite ich entschieden. Was schließlich Eier und Butter betrifft, so habe ich noch nie zuviel von dieser Ware bekommen, zumindest nicht aus Larsbo.«
»Wie peinlich«, fiel Ludwig ein, »daß der Herr Pastor sein Porträt erkennen sollte! Aber was einmal gesagt ist, ist gesagt. Und ich bleibe steif und fest dabei, daß der Herr Pastor ein urgemütlicher Pfarrer ist.«
Jetzt wurde der Pastorssohn glühend rot und brach los: »Bleibst du bei dem, was du über meinen Vater gesagt hast, dann komm mit mir hinter die Scheune. Ich glaube, ich kann dich in fünf Minuten allerlei lehren.«
Der Pastor rief: »Brav, brav, Hans! Hau ihn nur ordentlich durch.«
Ludwig antwortete höflich: »Es wird mir ein Vergnügen sein; aber zuerst möchte ich hören, ob Casimir die Bolla gefunden hat.«
»Nein«, sagte Casimir Brut, nachdem er sehr hastig die Versammelten begrüßt hatte, »ich habe sie nicht gefunden. Ich habe ganz Spilleboda durchsucht und werde vermutlich Unannehmlichkeiten davon haben, denn der Alte war wütend. Soviel weiß ich jetzt doch, in Spilleboda ist sie nicht, obwohl man sie auf dem Moor gesehen hat.«
»Allein?« fragte Frau Olga.
Der Verwalter antwortete ausweichend: »Das weiß ich nicht.«
Ludwig sagte: »Hat man sie auf dem Moor und in der Nähe vom Spillebodaer Brunnen gesehen, so brauchen wir uns über das Schicksal des armen Mädchens nicht erst lange den Kopf zu zerbrechen. Jemand hat sie in das Gehölz gelockt, ihr den Hals abgeschnitten und sie in den Brunnen geworfen. Warum sollte ich sonst so geträumt haben, wie ich heute nacht träumte? Ich habe schon öfters Wahrträume gehabt, diese Sache ist mithin klar.«
»Was hast du geträumt?« fragte Brut, und Ludwig erzählte es, aber eigentlich schenkten nur die Damen Theander der Sache einige Aufmerksamkeit.
Frau Olga sagte: »Ich nehme an, der Herr Verwalter weiß oder ahnt, wo das Mädchen sich befindet. Obwohl er es nicht zugeben will. Hat man sie auf dem Moor gesehen, so muß sie auf dem Weg zu den Arbeiterbaracken gewesen sein. Ich habe den Torfausstechern verboten, auf das Gut zu kommen und sich an die Mädchen heranzumachen, aber der Herr Verwalter hat erlaubt, daß man mein Verbot ganz ungescheut übertritt. Hier sehen wir eine der Folgen. Das Mädchen hat schlechte Bekanntschaften gemacht, sie hat sich dorthin locken lassen, sie hat sich verspätet, und jetzt schämt sie sich und bleibt weg. Wer ich werde sie sofort entlassen –«
Casimir Brut bemerkte, dazu müsse die gnädige Frau das Mädchen erst haben. Die Damen Willman protestierten; Dr. Karolina sagte:
»Das ist eine neumodische Strenge; das würde Jan-Petter nicht verstanden haben.«
Frau Olga errötete, und ihre Zeigefinger reckten sich zum Angriff. Ihre Stunde war gekommen, und, eine unselige Neigung zum Stottern bekämpfend, sagte sie:
»Ich weiß, daß man heutzutage den Leichtsinn der Jugend mit einer gewissen Nachsicht betrachtet, ja ihn sogar ermuntert. Ich habe auch durchaus keine Lust, mir irgendwelche moralische Brillen aufzusetzen. Aber eines Tages wird man daraus kommen, daß die Sache auch eine ökonomische Seite hat. Und dann wird man sie ernster nehmen. Ich habe diese Entdeckung bereits gemacht.«
Ein mißtrauisches Gemurmel der Damen Willman reizte sie, weiter zu sprechen, gegen alle Gefahren blind: »Ich habe Material gesammelt, das ich späterhin zu bearbeiten gedenke. Aber schon jetzt kann ich sagen, daß meine vierzehn weiblichen Bediensteten im Haupthause jährlich 5220 Kronen bezahlte Arbeitszeit vergeuden.«
Die Ziffer imponierte, und sie fuhr fort:
»Dies allein im Haupthaus Larsbo. Jetzt dämmert euch vielleicht eine Ahnung aus, daß die Sache eine ökonomische Seite hat. Wenn wir bedenken, daß die weiblichen Dienstpersonen des Landes im Alter von 15 bis 40 Jahren die Zahl von 67890 erreichen –«
»Herrjegerle!« schrie Ludwig. »Wer ist denn 'rumgegangen und hat all die Mädels gezählt?«
»Die Statistik!« antwortete Frau Olga, indem sie sich im stillen gelobte, so bald als möglich die wirkliche Ziffer in irgendeinem Nachschlagewerk ausfindig zu machen. Für den Augenblick mußte sie mit einer hypothetischen operieren.
Sie fuhr fort: »Meine Berechnungen sind noch lange nicht abgeschlossen, aber ich kann schon jetzt sagen, daß jede dieser 67890 weiblichen Dienstpersonen durchschnittlich 198 St., 4 Min., 24 Sek. im Jahre zu erotischen Zwecken vergeudet. Eine einfache Multiplikation wird euch überzeugen, daß hier bereits große Werte in Frage kommen.«
Ludwig murmelte: »198 St., 4 Min., 24 Sek. mal 67 890 weibliche Bedienstete, das ist durchaus keine einfache Multiplikation. Aber ich werde mein Bestes tun.«
Frau Olga fuhr fort: »Dies von der dienenden Klasse. Erstrecken wir unsere Untersuchungen in der erwähnten Richtung auf die heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen, dann werden wir, glaube ich, zu noch verblüffenderen und niederschmetternderen Ziffern gelangen.«
»Das will ich gern glauben«, gab der Pastor zu, »aber was meint die kleine Gnädige, daß da zu tun ist?«
Frau Olga antwortete entschlossen und zielbewußt: »Statistische Untersuchungen, Organisationen, Aufklärungsarbeit, letzten Endes Gesetzgebung! Fürs erste bereite ich eine Broschüre mit dem Titel vor: ›Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? ‹«
Der kleine Generalagent, der mit einer gewissen Ehrerbietung den großen Ziffern gelauscht hatte, brach plötzlich in ein äußerst unehrerbietiges Gelächter aus, dem nicht einmal die empörten Blicke der Hausfrau Einhalt tun konnten. Endlich vermochte er hervorzustottern: »Es sich leisten, zu lieben? Es sich leisten, zu lieben? Fragen Sie die Damen Theander! Fragen Sie die Damen Theander!«
Die drei kleinen Damen, die eine sehr schüchterne und reservierte Haltung beobachtet und einander nur hier und da ermunternd zugenickt hatten, damit die Schüchternheit sie nicht ganz überwältige, warfen sich plötzlich in Verteidigungsstellung, plusterten sich auf und streckten die Hälse. Und im Chore riefen sie:
»Was meinen Sie damit, Herr Generalagent?«
Aber er lachte nur. Und Lizzy Willman streckte ihre schönen Glieder und lächelte und gähnte ein bißchen und dehnte sich auf ihrem Sessel, indem sie sagte:
»Du bist eine kleine Närrin! Die Liebe kann es sich nicht leisten, ökonomisch zu sein. Und sie hat auch keinen Anlaß dazu. Sie ist Selbstzweck und der innerste Sinn des ganzen Daseins. Alle menschlichen Bestrebungen werden von der Lust getrieben, der Liebe zu dienen. Die Gesellschaft ist um ihretwillen da, die Religion, die Wissenschaft, die Kunst, der materielle Fortschritt. Sogar der Selbsterhaltungstrieb kapituliert vor der Liebe. Aber du fragst, ob man es sich leisten könne, zu lieben? Du bist wahnsinnig lächerlich. Die Liebe ist das einzige, was der Mensch nie organisieren kann.«
»Und die Ehe?« warf der juristische Sohn des Pastors ein.
Lizzy antwortete: »Die Ehe hat nicht die Liebe organisiert, wohl aber organisiert die Liebe die Ehe täglich und stündlich nach ihren Bedürfnissen und Launen.«
»Geht es aus diesem Ton?« sagte Ludwig. »Und so etwas soll man von Lizzy Willman hören, die das tüchtigste und gerissenste Mädchen ist, das ich kenne, gerade wenn es sich darum handelt, die Liebe vernünftig zu organisieren und zu verwerten. Ich kann da ein Beispiel erzählen. Als sie noch jung war und ihr Abitur machen sollte, hatte sie zwei Bräutigams. Der eine hieß Karl-August und war ein sehr gelehrter Jüngling, der ihr bei den Lektionen und Aufgaben half, aber der andere hieß Karl-Hermann und war ein Tunichtgut, den sie nur zum Vergnügen hatte. Je näher das Examen heranrückte, desto inniger schloß sie sich an Karl-August an, so daß er so gut wie ihr erklärter Bräutigam war und das Recht hatte, ihr kostbare Präsente zu machen, während Karl-Hermann ihr nur Küsse geben durfte. Einige Wochen vor der Prüfung erkrankte sie an einer heftigen Zahnbeinhautentzündung, und wenn die ihr zusetzte, war sie wie verrückt, schrie und weinte und konnte ihre Studien nicht fortsetzen. Unter solchen Umständen hatte sie weniger Nutzen von Karl-August, da sie ja doch nicht miteinander studieren konnten. Aus reinem Amüsementgesichtspunkt war Karl-Hermann vorzuziehen, und er saß bei ihr und tröstete sie, so gut er es vermochte. Aber urplötzlich flog der Schmerz davon, denn es war ein fliegender Schmerz, und was den betrifft, so läßt er sich nicht organisieren. Da dachte das kluge Mädchen: Soll ich hier sitzen und meine kostbare Studienzeit mit Karl-Hermann vertrödeln? Nein! antwortete ihr Gewissen, und sie sagte: ›Lieber Karl-Hermann, geh in meine Garderobe und bleib dort sitzen, bis ich dich rufe.‹ Er fragte, warum, und sie antwortete: ›Karl-August könnte kommen, und wie du weißt, sind wir bis auf weiteres verlobt. Er könnte es übelnehmen, wenn er dich hier fände. Aber wenn die Gefahr vorüber ist, werde ich dich rufen.‹ ›Gut‹ – sagte Karl-Hermann und ging in die Garderobe; und was er dort in der Dunkelheit tat, das weiß ich nicht, wenn er nicht ein Schläfchen machte. Na, nach kurzer Zeit war ja der Schmerz wieder da, und sie rief ihn wieder heraus. So trieben sie es viele Tage weiter, lange Zeit, bis sich eines Tages Karl-August wirklich einfand. Lizzy hatte gerade ihre gute Stunde, und Karl-Hermann saß in der Garderobe wie gewöhnlich, und diesmal weiß ich, daß er schlief. Karl-August ließ sich nieder, und sie versanken beide in tiefe Studien, aber schwups, setzte der Zahnschmerz ein, und in die Höhe flog das Mädchen wie eine Wahnsinnige und schrie: ›Meine Zähne! Ich sterbe!‹ Und heraus stürzte der schlaftrunkene Karl-Hermann, und da standen die beiden Rivalen voreinander, schnaubend vor Verachtung und Abscheu. Lizzy warf sich zwischen sie und rief: ›Karl-August! Glaube nicht, daß ich dich betrüge! Ich nehme Karl-Hermann nur vor, wenn ich Zahnweh habe.‹ Und das stimmte. Aber es muß mich doch verdrießen, wenn ich dieses Mädchen behaupten höre, daß man die Liebe nicht organisieren könne.«
Hierüber lachten alle, mit Ausnahme der Fräulein Theander, die noch immer aufrecht in Verteidigungsstellung dasaßen und darauf bestanden, die Ursache des Lachens und des Ausrufs des Herrn Generalagenten zu erfahren.
Er sagte: »Ich wollte nur gesagt haben, daß, wenn die Gnädigste die Liebe auf ökonomische Weise zu organisieren wünscht, sie nicht verabsäumen darf, den Rat der Damen Theander einzuholen, denn auch sie haben in dieser Frage ihre Erfahrungen gemacht.«
Die drei Damen betrachteten sich gegenseitig, erregt und dem Anscheine nach jeden Augenblick bereit, die Flucht zu ergreifen. Endlich sagte die Älteste:
»Wir wollen hoffen, daß der Herr Generalagent auf eine Sache von geringer Bedeutung anspielt, und in diesem Falle sind wir nicht abgeneigt, unsere Erfahrungen mitzuteilen. Aber sollte er etwa auf etwas anderes hindeuten wollen, dann sind wir wirklich sprachlos. Hingegen kann meine jüngste Schwester erzählen, was uns mit unserem Laufmädchen passiert ist.«
Die jüngste Schwester setzte sich mit einem kräftigen Ruck auf dem Stuhl zurecht, und indem sie dem stumm grinsenden Alten den Rücken kehrte, erzählte sie:
»Wir haben in unserem kleinen Geschäft ein Laufmädchen, und Fräulein Sara kennt sie. Sie ist reinlich und ehrlich, gut und ordnungsliebend, aufrichtig und glaubwürdig, gottesfürchtig und tugendhaft, aufgeweckt und fleißig, heiter und angenehm und hat ein sehr nettes Benehmen gegen die Kunden, so daß wir sie zu behalten gedenken, wenn gewisse Leute sie in Frieden lassen. Vor einiger Zeit entdeckten wir, daß sie einen sogenannten Bräutigam hat, einen jungen Menschen, der unseren Laden oft besuchte, ohne etwas zu kaufen. Ferner bemerkten wir, daß sie bei ihren Wegen lange fortblieb und die Zeit vermutlich in Gesellschaft dieses jungen Menschen vertrödelte. Da kam mir eine Idee, denn von uns dreien bin gewöhnlich ich diejenige, die die Ideen hat, während meine älteste Schwester die Chefin der Firma ist und meine zweitälteste Kassiererin. Und ich dachte ganz wie die gnädige Frau und machte einen Überschlag und fand, daß dieses Schwatzen und Herumscharmutzieren der Firma einen recht großen Verlust zufügte. Ich beriet mich mit meinen Schwestern, und wir wurden einig. Und meine älteste Schwester sagte zu dem Mädchen: ›An jedem Tag, an dem du deinen Bräutigam nicht triffst, werden wir dir fünfundzwanzig Öre bezahlen, falls du uns am Abend die Hand darauf geben kannst, daß du ihn im Laufe des Tages weder gesehen noch gesprochen hast.‹ Sie überlegte es sich, aber willigte dann ein. Es zeigte sich bald, daß die Idee gut war. Der junge Mann erschien nicht mehr in unserem Laden, das Mädchen erledigte ihre Besorgungen rasch, und wenigstens an sechs Abenden in der Woche konnten wir ihr mit ruhigem Gewissen die fünfundzwanzig Öre ausbezahlen, die wir in eine Sparbüchse legten, um sie nicht zu unnötigen Ausgaben zu verleiten. Auf diese Weise wurde ihr Sinn für Sparsamkeit geschärft, ihr Charakter gestählt, und wir freuten uns sehr über dieses gute Ergebnis. Denn, wenn wir auch nicht moralischer sind als andere Menschen, sondern eher umgekehrt – was der Herr Generalagent bestätigen kann, wenn er will –, so mußte es uns doch jedenfalls Freude machen, zu sehen, wie ein junges Wesen sich in der Kunst der Selbstbeherrschung übte, anstatt Launen und Leidenschaften zu frönen. Mehrere Monate vergingen, der Sparpfennig wuchs unablässig, und wir begannen schon hin und her zu denken, wie er am besten verwendet werden könnte, um dem Mädchen zum Wohle zu gereichen. Aber eines Tages erschien der junge Mann wieder in unserem Laden. Ohne das Mädchen auch nur anzusehen, das sich übrigens abwandte, äußerte er den Wunsch, mit der Chefin der Firma zu sprechen. Meine Schwester fühlte sich etwas beunruhigt, aber von ihrem guten Gewissen gestärkt, empfing sie ihn im Kontor. Er fragte ganz höflich, ob es seine Richtigkeit habe, daß wir seiner Braut für jeden Tag, an dem sie nicht zusammenkamen, fünfundzwanzig Öre bezahlten. Meine Schwester antwortete mit Festigkeit: ›Das tun wir und wollen es auch weiter so halten!‹ – ›Das will ich auch hoffen‹, sagte der junge Mann, ›denn meine Braut spart ihrerseits und ich meinerseits. Und je mehr wir zusammenbringen, desto besser, denn zu Pfingsten wollen wir nach Stockholm und uns gründlich amüsieren und das Geld verjuxen.‹ Man kann sich die Gefühle meiner Schwester denken; aber bevor sie noch einen Entschluß fassen oder sich mit uns beraten konnte, sagte der Mensch: ›Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen, Fräulein Theander. Bezahlen Sie meiner Braut fünfzig Öre statt fünfundzwanzig, dann wird sie zehnmal soviel arbeiten als jetzt, und Sie gewinnen jedenfalls bei dem Geschäft.‹ – ›Warum sollte ich das tun?« fragte meine Schwester. ›Und warum sollte sie zehnmal soviel arbeiten?‹ – ›Weil‹, antwortete der Mensch, ›wir uns in diesem Falle verpflichten würden, uns auch nicht in den Nächten zu treffen, wie wir das jetzt tun. Sie würde ausgeschlafen zu ihrer Arbeit kommen, und was unser Vergnügen betrifft, so können wir uns das schon zu Pfingsten einbringen.‹
Auf diese Weise«, schloß Fräulein Theander, »wurden wir geprellt, und unser kleiner Versuch mißglückte, obwohl die Idee gut war. Wir vertrauten uns unserem Nachbar, dem Herrn Generalagenten, an; er machte sich über uns lustig und lachte uns aus. Und wir wollen inständig hoffen, daß er über diese belanglose Sache lacht und nicht über etwas anderes. Das wäre zu herzlos!«
»Das wäre es!« bekräftigte die älteste und zweitälteste Dame Theander, aber der Generalagent sagte:
»Herzlos oder nicht herzlos, jedenfalls lache ich gerade über dieses andere. Eine Geschichte, die ich die Geschichte von den Früchten der Aufklärung zu nennen pflege. Und verhält es sich so, daß die Damen Theander sie nicht erzählen wollen, so kann ich es selbst tun.«
Mit einem gemeinsamen Schrei flogen die drei Damen von ihren Sesseln in die Höhe, aber setzten sich dann wieder. Und da saßen sie, allerdings keineswegs sprachlos, wie sie befürchtet hatten, sondern im Gegenteil, eine der anderen in die Rede fallend, so daß niemand ein Wort verstand. Endlich bekam die Jüngste wieder die Oberhand und sagte:
»Eher, als daß wir den Herrn Generalagenten das traurigste Ereignis in unserem Leben schildern lassen, will meine älteste Schwester es erzählen. Und wenn es uns auch zur Schande gereicht, so glaube ich doch nicht, daß jemand anderer das Herz haben wird, uns auszulachen, als ein einziger, und gerade derjenige, der eher weinen sollte. Aber vor allem einmal müssen wir die junge Dame bitten, sich zu entfernen, denn das ist nichts für ihre Ohren.«
»Wenn die Damen die siebzehnjährige Brita Djurling meinen«, fiel nun Ludwig ein, »so möchte ich Ihnen raten, sich eher meinetwegen zu beunruhigen. Sie erzählt die Geschichte von den beiden Zwillingen, die dasselbe Mädchen liebten, viel besser als ich, auf jeden Fall mit mehr Mark und Schneid. Wenn Sie mir nicht glauben, so will ich sie gerne aufziehen und in Gang setzen, aber die Folgen müssen Sie sich selber zuschreiben.«
»Stimmt«, sagte Brita. Die älteste Dame Theander ermannte sich und setzte sich zurecht, den Blick fest auf den Generalagenten gerichtet. Und sie nahm keinerlei Rücksicht mehr, sondern erzählte: