Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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7

Als Erdbeeren und Kirschen schon vorüber waren und man sich mit Reineclauden trösten mußte, kam Fräulein Zwink von der Reise zurück. Sie war eine andre geworden. Ihre Vorliebe für die Männer war erloschen.

Erst nach einigen Tagen beim Tee erfuhren ihre Freunde, aus welchem Grund das Fräulein ihren Geschmack geändert hatte.

Amalie hatte in der See im Familienbad gebadet. Da kam ein Herr auf sie zu. Er maß ihre volle Figur, die im roten Badeanzug zwischen den Wellen wogte, und sagte seufzend: Weniger wäre hier mehr. Alle um sie herum hatten laut aufgelacht.

»Wenn es viele solche Männer gibt, dann kenne ich mich nicht mehr aus in dieser wunderlichen Welt«, hatte Fräulein Zwink ihre Erzählung beendet.

»Man badet dort mit dem weiblichen Geschlecht zusammen?« fragte Herr Sebastian Wenzel. Ekel lag auf seinem Gesicht.

»Nun – nun –« erwiderte Exzellenz begütigend der aufgeregten Amalie. »Es war ein dummer Scherz. Von Ihren Reizen konnte Ihnen damit nichts genommen werden.«

Fräulein Zwink sah ihn mißtrauisch von der Seite an.

»Ich weiß nur, daß die Männer früher anders waren«, sagte sie bestimmt.

»Recht so, mein Pappelpäppchen«, schrie der Papagei und schlug mit den Flügeln. Aber seine Herrin rief: »Kusch, alter Schwätzer.« Man merkte, daß sie den Papagei zum andern Geschlecht zählte.

Ihr Glaube war erschüttert. Die alte Gemütlichkeit zwischen den dreien wollte nicht wiederkommen.

Auch der Sommer wurde alt. Die ersten Herbstregen fielen. Im großen Zeh der Exzellenz zwickte das Podagra. Amalie Zwink sagte:

»Nun haben wir wieder einmal alles hinter uns.«

Sebastian Wenzel antwortete:

»Immerhin kommen noch die Trauben und Nüsse.«

Doch schien auch Herrn Sebastian Wenzel etwas zu zwacken. Er hatte die Doppelfenster einsetzen und die Filzstreifen gegen den Zugwind annageln lassen, er hatte die Speisekammer mit eingelegten Früchten und Gemüsen gefüllt – und doch schien er nicht zufrieden zu sein. Er saß auf seinem gewohnten Platz, aber nicht mehr mit der ruhig lächelnden Miene des Zuschauers. Eher schien ihn die Erregung des Mitspielenden zu plagen, der auf sein Stichwort wartet.

Alles ärgerte ihn; auch der Anblick seiner beiden Bekannten – und doch suchte er häufiger als sonst ihre Gegenwart.

Er sah Amalie Zwink oft und lange prüfend an. Er hätte gern gewußt, wie alt sie war. Sie darum zu fragen fand er überflüssig. Frauen sagen nicht die Wahrheit.

Amalie Zwink beunruhigte dieses Anstarren. Sollte es möglich sein? Nun, er war nicht der erste, dem sie gefiel. Nach einiger Überlegung kaufte sie sich einen neuen, dicken Zopf. Einige Tage später auch das Korsett, wovon in der Zeitung stand, daß es nicht nur hüftenlos und schlank mache, sondern auch eine Vorrichtung habe, mit der man bequem darin sitzen könne. Das letztere war übertrieben, wie vieles, was in der Zeitung steht. Sich damit zu setzen war ein schwieriger Trick, der geübt sein wollte, wie alle akrobatischen Kunststücke. Aber schließlich gelang es, und schließlich verdankte Fräulein Zwink dieser neuen Erwerbung den glücklichsten Augenblick jedes Tages. Das war am Abend, wenn die eisernen Verschlüsse aufkrachen durften und alles, was irdisch an ihr war, sich wieder frei bewegen konnte.

Herr Sebastian Wenzel merkte keinerlei Veränderung. Die unappetitliche Haarschlange auf ihrem Kopf vermeinte er immer gesehen zu haben, und die Hüftenlosigkeit konnte er nicht bemerken. Sein strenger Blick ging niemals tiefer als bis zur zweiten Etage ihres Doppelkinns, das rosig und leicht behaart war.

So wird im Leben viel kostbarer Aufwand vergebens getrieben. –

Den alten General aber fragte Herr Sebastian Wenzel eines Tages geradezu nach seinem Alter.

Er zögerte mit der Antwort.

Dann sagte er langsam:

»Nun, im Vertrauen auf Ihre Verschwiegenheit, ich bin seit zehn Jahren fünfundsechzig Jahre alt.«

Sebastian sah ihn mitleidig an.

»Denken Sie schon manchmal an den Tod?« flüsterte er. Er sah sich scheu und rasch im Zimmer um.

»Nein«, erwiderte der andere ruhig. »Manche behaupten zwar, daß man sich auf den Tod vorbereiten müsse – ich glaube aber, daß er mir ohne Vorübungen gelingen wird.«

»Ja«, sagte Sebastian nach einer Weile. »Es ist wohl das beste, sich solche Gedanken fernzuhalten.« Und wieder nach einer Weile fügte er hinzu:

»Denken Sie, meine Tante wurde beinahe hundert Jahre alt.«

»Eine tüchtige Frau.« Der General lächelte.

»Ja«, meinte Sebastian, »aber ich glaube, Frauen sind dauerhafter.«

Der General wußte, wie Herr Sebastian Wenzel die Frauen verabscheute. Sonst hätte er in diesem Augenblick denken können, daß Herr Wenzel die Frauen beneide.

Die beiden Herren schwiegen. Vor dem Fenster, an dem sie saßen, schwebte der Schnee fort und fort still herab. »Ein früher Winter«, sagte Exzellenz. »Der Winter kommt immer zu früh und der Frühling zu spät. Oder scheint es uns nur so?«

Sebastian Wenzel sah ernst auf den Schnee. Er schien berechnen zu wollen, wieviel Flöckchen niedersanken.

»Sie werden Ihrer Tante keine Unehre machen«, fing der General wieder an. »Sie haben das Zeug dazu, um mehr als hundert Jahre alt zu werden. Sie besitzen das Glück der Gleichmäßigkeit und die Gabe innerer Zufriedenheit, wie selten jemand.«

»Oh«, lehnte Herr Wenzel angenehm berührt ab.

»Ich bin überzeugt davon«, fuhr der General fort. »Das ewige Einmaleins der Ärzte ist: Hüten Sie sich vor Aufregung. Wer aber kann das befolgen? Sie sind der erste, den ich diesem Ausspruch gemäß leben sah.«

»Sie irren, ich habe auch meine Aufregungen«, sagte Sebastian würdig. »Erst heute mittag zum Beispiel. Denken Sie nur, da vergaß die Köchin, diese flüchtige Person, bei dem Entenbraten, den sie mir vorsetzte, das Kümmelsäckchen, das im Leib der Ente mitzubraten hat, zu entfernen. Sie brachte es also mit der Ente auf den Tisch, ich zerschneide das Säckchen zusammen mit dem Vogel, und die Kümmelkörner werden zerstreut. Man braucht nur auf eins dieser Körnchen zu beißen und kann sich, abgesehen von dem abscheulichen Geschmack, das ernsthafteste Zahnweh zuziehen.«

»Sehr unangenehm«, erwiderte der General. »Aber an diesen Aufregungen stirbt man nicht. Seien Sie unbesorgt, mein Freund.« –

Aber Herr Wenzel war nicht unbesorgt und nicht mehr zufrieden mit seiner Zufriedenheit. Wenn er in dem winterlich dunkeln, gut geheizten Zimmer saß, quälte ihn das Gefühl, daß im nächsten Augenblick jemand Ungebetenes hereintreten könne. Wenn er von seinem Spaziergang zurückkehrte, sah er sich im Zimmer um, ob inzwischen niemand gekommen war.

Er fürchtete das Alter.

Er sah etwas Unangenehmes auf sich zukommen, dem er nicht aus dem Weg gehen konnte. Denn das geschmacklose Wort, wer nicht alt werden will, muß jung sterben, gefiel ihm noch weniger.

In wenigen Tagen würde er sein sechzigstes Lebensjahr vollendet haben. Seine Freunde ahnten es nicht. Es würde sie auch sicherlich wenig beunruhigen, sagte er sich verärgert und bitter.

Aber ihn beunruhigte es.

An den langen Winterabenden hatte er aus alter Vorliebe für Zahlen seine Jahre nachzurechnen begonnen. Und er hatte herausbekommen, daß er, trotz aller Sparsamkeit, die größere Hälfte seines Lebens verbraucht zu haben schien; selbst wenn er annahm, daß im Erbe der Tante auch die Höhe ihres Alters mit inbegriffen war, blieben ihm nicht mehr volle vier Jahrzehnte für sein weiteres Dasein.

Er sann nach, was ihm die vergangenen Jahrzehnte gebracht hatten. Es war Angenehmes dabei. Aber er wurde doch nicht froh darüber. Was hatte er davon, wenn es hinter ihm lag. –

Eine seiner stillen Freuden war bis jetzt die Pünktlichkeit seiner Uhren gewesen. Er hatte in jedem Zimmer ein solches Räderwerk stehen und er sorgte unermüdlich dafür, daß sie alle gleichgingen und vor allen Dingen alle möglichst gleichzeitig schlugen. Dies zu erreichen hatte er sich manche Minute seines Lebens kosten lassen. Jetzt ärgerten ihn diese hartnäckigen Dinger. Mitten hinein in seine Berechnungen hämmerten sie ihre Schläge, um ihn zu verhöhnen. Riefen sie doch nichts anderes, als daß wieder eine Stunde vorbei sei. Was ging ihn das an? So alt war er schließlich noch nicht, daß es auf eine Stunde mehr oder weniger ankam. –

So schlich sich sein sechzigster Geburtstag heran.

Herr Sebastian Wenzel war am dreiundzwanzigsten Dezember geboren. An dem Tage, an dem Gott selbst sparsam mit Licht und Wärme war, wie sonst nicht im ganzen Jahr.

Diesmal lag die große Stadt unter einer weißen, feierlichen Decke. Der Schnee warf einen milden Glanz in die dunkeln Morgenstunden des Wintertags.

Sebastian Wenzel saß beim Frühstück. Das Zimmer war behaglich durchwärmt, und ein köstlicher Kaffeeduft durchquerte es. Sehr sorgfältig bestrich Sebastian die knusprigen Brötchen mit Butter, die hell und ungesalzen war. In diesem Augenblick hatte er die Bedeutung dieses schicksalsschweren Tages vergessen.

Aber schon rüstete man sich, um den Ahnungslosen zu stören – zu feiern.

Überall, wo Mitglieder der Familie Wenzel wohnten, öffnete man die Schränke und holte die Feiertagskleider hervor. Die Feiertagskleider und ein Geschenk, das gehörte sich nun einmal so.

Es gibt in jeder anständigen Familie ein Geschenkfach. Das heißt, man hat in der Wohnung eine Stelle, wo man jene guten Gaben aufhebt, bei deren Empfang man sich, während man sich herzlich bedankt, sofort sagt: An wen werd ich dies wieder loswerden? Es sind die Gegenstände, die sich selbst der Anspruchsvollste niemals wünscht, aber auch der Bescheidenste nicht zu benutzen weiß. Kurzum Dinge, die als Geschenke geboren und für nichts andres zu verwenden sind. Wie der ewige Jude durch die Welt, wandern sie durch die Familien. Wer sie weitergibt, hat nur darauf zu achten, daß sie nicht sofort zu dem zurückkehren, von dem sie kamen. Sebastian gegenüber war diese Sorge nicht nötig und jeder Irrtum ausgeschlossen. –

Gegen Mittag, als die messinggelbe Wintersonne aus den Wolken heraus einen raschen Blick über die verschneite Stadt warf, klingelte es zum erstenmal bei Herrn Sebastian Wenzel.

Dieser sah gerade sinnend auf den sonnigen Schein hinter den Scheiben. Er hatte beschlossen, noch einen Spaziergang vor Tisch zu machen. Er überlegte nur noch, ob er die wärmste Sorte von Strümpfen, die aus Kamelhaar, anziehen solle, oder ob die aus weicher pyrenäischer Wolle genügen würden.

Als ihn das Klingeln in seinen Erwägungen störte, dachte er, daß es Amalie Zwink auf einem ihrer Sprünge sei. Denn Exzellenz humpelte bei Schnee nicht aus dem Zimmer. Er runzelte die Stirn und verschwand mit langen, ärgerlichen Schritten hinter der Tür seines Schlafzimmers. Knallend schlug sie zu.

Er tat seiner Nachbarin sehr unrecht.

Sie stand in diesem Augenblick vor ihrem Herd, durchaus nicht hüftenlos und ohne den neuen Zopf, und briet sich, ganz ihrem Tun hingegeben, eine Taube.

Vor Sebastians Tür stand Vetter Fritz, mit dem Herr Wenzel einst auf die Bäume geklettert war. Mißtrauisch ließ ihn die Wirtschafterin näher treten. Der Atem des dicken Herrn pfiff durch die stille Wohnung. Sie pochte heftig an die Tür und sagte:

»Herr Wenzel, da ist noch ein Herr Wenzel.«

Erschreckt trat Sebastian aus der Tür und stand dem Vetter gegenüber.

»Ich gratuliere dir, lieber Sebastian«, sagte dieser. »Und Glück für die andere Hälfte des Lebens.«

Er lachte, was seinen Atem noch mehr in Unordnung brachte. Sebastian zog erstaunt die Augenbrauen hoch und sagte:

»Setze dich doch und hole langsam Atem.«

Diese Worte begleitete die Wohnungsklingel mit einem Läuten. Gleich darauf schellte es wieder, dann wieder und wieder. Man hörte das dumpfe Gemurmel von Stimmen, wodurch sich Unglücksfälle oder große Feierlichkeiten verraten.

Sebastian riß die Tür auf und rief: »Was ist denn geschehen?«

Da kamen seine Schwestern herein. Beide trugen in Seidenpapier gehüllte Pakete, die sie aber nicht hinderten, den Bruder zu umarmen.

»Nichts ist geschehen«, sagte die Ältere feierlich. »Nichts, als daß unser Sebastian sechzig Jahre alt wird.«

Sie zerdrückte eine Träne und überließ es jedem selbst, sich über die Ursache dieses salzigen Tropfens klarzuwerden.

Sebastian hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.

Seine Schwager umarmten ihn, seine Cousinen versuchten ihn zu küssen. Verheiratete Nichten mit Männern, die er nie gesehn zu haben meinte, Kinder, die er nicht kannte, alle waren in seine Wohnung gedrungen und umgratulierten ihn, der steif wie ein Pfahl unter ihnen stand.

Erstaunt und entsetzt starrte er geradeaus. Er glich einem Nachtwandler, der plötzlich im Löwenkäfig erwacht.

Schließlich setzten sich die älteren Besucher auch ohne Aufforderung. Die Kinder sprangen herum und prüften die umherstehenden Gegenstände auf ihre Festigkeit.

»Nun, Sebastian, willst du nicht unsere kleinen Gaben auspacken?« sagte seine ältere Schwester.

Sie war es, die sich an das Datum des Tages erinnert und die andern darauf aufmerksam gemacht hatte. Daher empfand sie eine Art Verantwortungsgefühl. Während Sebastian gehorsam in den Berg von Seidenpapier griff und auszuwickeln begann, sah sie sich beunruhigt und vergeblich nach dem üblichen Imbiß um, ohne den keine wahre Feier zu denken war. Sebastian mußte seiner Familie etwas anbieten. Er blamierte sich sonst vor sich und vor allen.

Sie ging zur Wirtschafterin hinaus.

Diese wußte von keiner Feierlichkeit, die hier im Hause gefeiert werden sollte. Aber sie gehorchte nicht ungern, als die Dame sie beorderte, rasch einige Torten vom Konditor holen zu lassen, Brotscheiben zu belegen, Wein zu entkorken.

Als die Schwester wieder in das Zimmer zurückkehrte, hatte Sebastian fünf Standuhren und zwei hohe Barometer enthüllt.

Die Uhren waren alle verschieden und sich doch durchaus nicht unähnlich. Sie arbeiteten eifrig, aber ihre Zeiger verrieten, daß sie sich untereinander nicht ganz einig waren. Eigenschaften, die bei den Mitgliedern einer Familie häufig vorkommen.

Den Barometern ging es nicht besser. Das eine meldete: Schön Wetter. Das andere: Nebel. Vor den Fenstern schneite es wieder.

Die vielen Uhren tickten übereifrig in die Stille.

Selbst die Geber waren betroffen und schwiegen. Endlich ergriff eine der verheirateten Nichten das Wort. Sie galt als sehr weltgewandt in der Familie und hatte, wie ihre Mutter sagte, ein besseres Los verdient. Sie war mit einem Steuereinnehmer verheiratet, der gern Pfarrer geworden wäre.

»Ja«, sagte diese Nichte. »Das ist die Großstadt mit ihren großen Entfernungen. Keiner hat Zeit für den andern. Sonst hätten wir uns besprechen können.«

»Gewiß«, riefen die andern und sahen dankbar zu der Sprechenden, die sich ihrer Wichtigkeit bewußt war und mit schiefgezogenem Mund und halbgeschlossenen Augen über ihre Familie hinwegsah.

»Was geschehn ist, ist geschehn«, sagte Vetter Fritz, der ein Barometer gebracht hatte.

»Ich wußte nur eins, von Kindheit an«, sagte eine der Cousinen schweratmend und beleidigt, »der Sebastian liebt die Uhren. Ich hoffte ihm eine Freude zu machen.«

Die letzten Worte klangen befehlend. Alles sah jetzt zu Sebastian. Er blickte von einem Zifferblatt auf das andre und dachte ängstlich: Fünf Nager mehr, die mir die Stunden zernagen.

Aber kein Wort des allseitig erwarteten Dankes kam über seine Lippen.

Die Verwandten sahen sich stumm untereinander an. In solchen Augenblicken verstehn sich Familien schweigend.

Augenblicke tiefsten Verständnisses dürfen nicht zu lange ausgedehnt werden, da nichts in der Welt so bleibt wie es ist. Es war daher ein günstiger Zufall, daß jetzt die Tür aufgerissen wurde und die Wirtschafterin hereinkam mit Torten, mit blanken, melodisch aneinanderklingenden Gläsern, mit allen den guten Dingen, die einen Geburtstag erst feierlich machen.

Sebastian sah auf.

»Wo haben Sie das her?« fragte er die Haushälterin.

»Vom Konditor herübergeschickt«, war die kurze Antwort der eifrig mit Tellerchen und Löffeln Klappernden.

Sebastian merkte sofort, daß auch jene Speise aus Mokka-Creme darunter war, der er vor allen Torten den Vorzug gab.

»Ich danke euch herzlich«, sagte er plötzlich laut und schüttelte allen der Reihe nach die Hand. Der Bann war gebrochen. Man gruppierte sich um den Tisch und griff zu.

Die Löffel klapperten, die Uhren tickten.

Sebastian saß lächelnd unter seinen Verwandten. Er verzehrte langsam ein gehäuftes Tellerchen voll von der vorzüglichen Speise. Allerdings mit Gewissensbissen. Süßes so kurz vor Tisch genossen verdirbt den Appetit. Aber einmal ist keinmal. Hoffentlich.

Eigentlich lag der allgemeinen Freude – wie oft im Leben – auch hier ein Irrtum zugrunde. Denn Sebastian hielt den reichgedeckten Tisch für eine Aufmerksamkeit seiner Verwandten, daher hatte er sich plötzlich so lebhaft bedankt.

Viel wurde nicht gesprochen. Jeder wollte liebenswürdig sein und nichts reden, was Sebastian ärgern konnte.

Aber da kam jemand, der aller Wortkargheit ein Ende machte.

Amalie Zwink hatte ihre Taube nicht in Ruhe zu Ende essen dürfen. Ihr Mädchen kam herein und sagte: »Da klingeln und klingeln schwarzgekleidete Leute an Herrn Wenzels Tür und gehen hinein und kommen nicht wieder heraus. Vielleicht ist der Herr gestorben.«

Fräulein Zwink sah totenbleich auf den Taubenknochen in ihrer Hand. Was heute dem einen geschieht, kann morgen den andern treffen, fuhr es entsetzensvoll durch ihren Kopf. Der arme, arme Mann, und Tränen rannen aus ihren Augen.

Mit zitternder Stimme bat sie das Mädchen, leise an der Hintertür der Nachbarwohnung zu klopfen und anzufragen, was geschehen sei.

Das Mädchen kam zurück und meldete, daß Herr Wenzel nicht tot sei, sondern sogar etwas Feierliches feiere. Was, wisse auch die Wirtschafterin nicht. Im nächsten Augenblick stand Fräulein Amalie vor dem Toilettentisch in ihrem Schlafzimmer und schlug den Panzer um ihres Körpers Reichtum. Damit war der erste Schritt zum Gesellschaftsmenschen getan. Hastig arbeitete sie weiter an seiner Vollendung.

Schon acht Minuten später stand sie lächelnd unter der Familie Wenzel. Eine Minute darauf wußte sie den Grund dieser seltenen Ansammlung und hatte ihrem alten Freund auf das innigste gratuliert. Und wieder eine Minute später saß sie, ein Löffelchen in der Hand, vor einem Teller. Schmatzend, schwatzend.

Sie wurde schnell der Mittelpunkt der Frauengruppe. Die Männer rückten etwas ab und sahen schweigend in den Rauch ihrer Zigarren. Die Kinder, die sich endlich weniger beobachtet fühlten, näherten sich vorsichtig mit den Zeigefingern den Kuchenresten. Feierliche Familiengemütlichkeit herrschte in Sebastians Junggesellenwohnung.

Amalie und die Damen Wenzel sprachen von den hohen Preisen des täglichen Lebens. Tiefe Entrüstung verband sie. Allerdings, als Amalien zum erstenmal: ein Meter Gans, ein Meter Butter, entfuhr, hatte es Wenzels – was sie sich später mitteilten – ordentlich gegruselt. Aber dann hatte Fräulein Zwink geschwind und geschickt erzählt, woher ihr der Meter noch im Leibe stecke und ihre Unachtsamkeit damit wieder gutgemacht. –

Dann und wann trank einer der schweigenden Männer Sebastian zu, der sich darauf ungelenk verbeugte.

»Ja, man muß nicht zuviel und nicht zuwenig vom Leben verlangen. Das ist das Kunststück«, sagte der Mann der Schwestertochter, der gern Pfarrer geworden wäre. Er trank dabei zum fünftenmal mit einem vollen Gläschen auf das Wohl des Onkels.

Endlich erhob sich als erster Vetter Fritz. Er bürstete sich seinen Schnurrbart um den jeder Seehund ihn beneidet hätte, und sagte schnaufend:

»Wie spät mag es sein? Vor lauter Uhren weiß man die Zeit nicht.«

Er lachte so heftig über seinen Scherz, daß Sebastian in die größten Unannehmlichkeiten zu kommen fürchtete. Es sah ganz so aus, als wollte der Mensch hier ersticken und verröcheln.

Der übrigen Familie war dieses Rasseln ein gewohntes Geräusch. Niemand kümmerte sich darum. Durcheinandersprechend suchte man seine Überkleider zusammen und ging endlich davon.

Ein kleiner Knabe hatte bis zuletzt den fremden Onkel in großer Neugier umkreist. Lächelnd über diese Zutraulichkeit strich Sebastian über den glattgeschorenen Kopf mit den abstehenden Henkelohren. So bin ich auch einmal herumgelaufen, dachte er wehmütig, beinahe gerührt. Der Knabe sagte mit mutiger, heller Stimme: »Zeige mir bitte den Stuhl, wo du immer sitzt, lieber Onkel.«

Lächelnd tat Sebastian dem törichten Kind seinen Willen. Dieses befühlte den Sitz von allen Seiten, sagte enttäuscht: »Auch Großmütter lügen« und sprang eilig davon.

Sebastian schüttelte den Kopf. Kinder waren noch schwerer zu verstehn als Erwachsene.

Er konnte nicht wissen, daß das Kind den häufig gehörten Worten seiner Großmutter, der Schwestern von Sebastian, vergeblich nachgeforscht hatte. Sobald die Rede auf den Bruder kam, pflegte diese zu sagen: »Sebastian sitzt auf seinem Geld.«

Leicht hätte die kleine Rührung, die der ungewohnte Weingenuß am Vormittag verursachte, Sebastian auf den Gedanken bringen können, sein Testament zu machen und gerade dieses zutrauliche Kind als Erben einzusetzen. Denn alles wiederholt sich, sagen die Philosophen.

Die Uhren lenkten Herrn Wenzel ab. Er sah mit Schreck, daß bei zweien der Pulsschlag ausgesetzt hatte, und er begann sie zart zu rütteln und zu schütteln. –

Die Gratulanten tappten durch den Schnee. –

»Wir müssen uns von nun an mehr um Sebastian kümmern«, sagte seine ältere Schwester, die noch immer über ihre alte Energie verfügte. »Es ist in seinem eignen Interesse. Die fette, asthmatische Person fängt ihn sonst ein.«

»Das ist schon möglich«, antwortete die andre, bedächtigere.

»Unpraktisch genug scheint der Onkel zu sein«, sagte die weltgewandte Tochter. »Was würden andre mit seinem Geld anfangen.«

Dann trugen die Straßenbahnen sie in alle Windrichtungen. –

Inzwischen hatte Sebastian erfahren, daß er selbst der Spender dieses reichen Festtisches war.

Rot vor Zorn stand er vor der Wirtschafterin. Sie schüttelte ergebungsvoll den Kopf. Sie habe gedacht, daß die dicke alte Dame im Auftrag des gnädigen Herrn handle.

Auf weitere Vorwürfe kicherte sie. Sie hatte in einem hohen Grad von Ordnungssinn alle Weinreste geleert.

Der Herr solle sich nur nicht kränken, mahnte sie. Man kann nur einmal sechzig werden. Und sie kicherte wieder.

Sebastian war entwaffnet. Alle seine peinigenden Gedanken waren wieder da. Sie hatte recht, zweimal sechzig konnte man in unserer Zeit nicht mehr werden.

Wie mag das eigentlich mit Methusalem gewesen sein? Ob die alten Juden sich einer besonders bekömmlichen Lebensweise befleißigt hatten?

Am Nachmittag seines Geburtstages blätterte Herr Sebastian Wenzel in der Bibel ...

Gegen Abend ging er zur Exzellenz hinüber, dem er die Reste der Mokkatorte und eine geöffnete Flasche Wein geschickt hatte.

Er wollte sich aussprechen.

Der alte General winkte lächelnd ab.

»Ich weiß alles. Durch einen Seitensprung unserer Amalie«, rief er.

Sebastian setzte sich ihm gegenüber. Müde und abgespannt.

»Ja«, sagte sein Freund. »Die liebe Verwandtschaft. Man wollte sehn, wie lange es noch dauern wird, bis man das fette Schwein schlachten kann.«

»Meinen Sie mich mit dem fetten Schwein?« fragte Herr Wenzel unruhig.

Exzellenz lachte.

»Sie müssen einem alten Gutsbesitzer diesen Vergleich erlauben«, sagte er. – »Übrigens danke ich Ihnen für den Anteil am Festmahl.«

»Die Torte wäre doch verdorben, und die Flasche war nun einmal geöffnet«, erwiderte Herr Wenzel freundlich.

Dank anzunehmen brachte ihn immer in Verlegenheit. Er hatte zuwenig Übung darin. –

Nach einer Weile verließ Herr Wenzel den Freund. Nachdenklich ging er über den verschneiten Hof. Aus den schwarzen Mauern leuchteten viele erhellte Fenster fremde Heimlichkeit hinaus. Andrer Leute Sorge und Frieden.

Sebastian schob den schweren Riegel vor die Tür seiner Wohnung und drehte den Schlüssel zweimal herum.

Er rief nach seiner Wirtschafterin und sagte:

»Sie lassen ein andermal niemand Fremden hier herein. Weder Frauen, Männer, noch Kinder. Ich bin immer ausgegangen. Verstanden?« –

So stellte er zwei verwandte Energien einander gegenüber.


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