Alice Berend
Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel
Alice Berend

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Die meisten müssen arbeiten, um essen zu dürfen, essen, um wieder arbeiten zu können und so, mit Sorge, Mühe und ein bißchen Glück, mahlen sie die ihnen zugeteilten Tage ab.

Herr Sebastian Wenzel hatte das nicht nötig.

Daß er einmal selbst, treu und bedächtig, an dem Maschinenrad des Alltags mitgedreht hatte, lag weit zurück. Er wußte es selbst nicht mehr.

Jetzt war ihm das Essen ein Genuß, für den er sich durch regelmäßige Spaziergänge, kalte Abreibungen, angenehme Gedanken und kleine Arzneien frisch und aufnahmefähig erhielt. An Regentagen, an denen er aus Furcht vor Rheumatismus und anderen Erkältungserscheinungen niemals das Zimmer verließ, sorgte er für die notwendige Bewegung des Blutes, indem er sich einem kleinen Ärger heftig, aber nicht übertrieben, hingab.

Verdruß findet sich genug in der Welt.

Wird zum Beispiel je eine Köchin begreifen, daß eine Prise Salz mehr oder weniger den Geschmack eines Gerichtes vollständig verändert? Oder: daß das köstlichste Stück Lende, nur den Bruchteil einer Sekunde zu lang auf dem Rost gelassen, zäh und ledern zu werden beginnt? Daß eine Omelette soufflée – übrigens eines der delikatesten Gerichte der Welt – sofort vom Backofen aus auf den Tisch gebracht werden muß? Wird sie das je begreifen? Niemals.

Oder ein andrer Verdruß, der Herrn Sebastian Wenzel gerade heute wieder traf:

Er wartet mit der Uhr in der Hand auf die einzige Zerstreuung des verregneten Tages: Die Zeitung. Er klingelt und sagt, daß die Zeitung längst da sein müsse, aber erhält zur Antwort, daß sie bei Regenwetter immer später käme. Schließlich geht er selbst hinaus, schlägt den Rockkragen hoch und öffnet vorsichtig die Hintertreppentür. Richtig, da liegt das Blatt vor der Schwelle, und wirklich ist auch schon ein nasser Stiefel darüber hinweggetreten. Er hat seit Jahr und Tag einen breiten Kasten mit Luftlöchern und Nickelschloß anbringen lassen, aber noch niemals durfte dieser Behälter seine Bestimmung erfüllen.

So hat er Ärger über Ärger.

Denn nun muß das feuchte Blatt erst in der Küche getrocknet werden. Diese Notwendigkeit begreift ein Dienstbote natürlich nicht im geringsten. Gegrinst wird, wenn Herr Wenzel nun deutlich erklärend sagt: Trocknen Sie das Blatt über dem Feuer, ungefähr drei oder vier Minuten, und achten Sie darauf, daß Sie es dabei nicht versengen. Dann plätten Sie es, lassen es gehörig abkühlen und bringen es mir mit sauberen Fingern in mein Zimmer. Im ganzen hat alles in allem nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch zu nehmen. Verstanden?

Nun wartet Herr Wenzel wieder, die Uhr in der Hand, in dem bequemen Stuhl am Fenster. Aber es ist ihm wohler zu Mut. Die kleine Bewegung hat ihn erfrischt.

Draußen klappt wütend das Bügeleisen – ein zufriedenes Lächeln legt sich um die schmalen Lippen Sebastian Wenzels.

Er fühlt sich wieder ruhig und behaglich. Nichts tut so gut wie ein kleines Ärgerchen ...


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