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XII

Korbin Holzer betrat das französische Restaurant in der Lime-grove in der Mittagstunde und erkannte den Mann, den Mr. Hood in Cerdova geknipst hatte, auf der Stelle. Er saß allein an einem Tische und las den Genfer »Quotidien«, der in seiner vierzehntägigen Altbackenheit über europäische Sorgen orakelte.

Der Eindruck, den die Erscheinung des Fremden auf ihn machte, war so unmittelbar bestechend, daß er im Augenblick mit seinem Urteil über ihn fertig war. Das sonnenverbrannte, scharfkantige Gesicht erzählte von Handlungsbereitschaft und Tatkraft; die schmalen Lippen, die dunklen Brauen, die sich über seinen Augen wölbten und sich in einer steilen, gradlinig in die Stirn eingegrabenen Falte begegneten, deuteten auf folgerichtiges Denken und geistige Zucht. Und doch war dieses Gesicht eingetaucht in jene Weichheit des Gefühls, die man sonst nur in den Zügen edler Frauen zu finden gewohnt ist. Das schwarze, leicht gewellte Haar fiel in einer breiten Locke über die Stirn, wie er jetzt, über das Zeitungsblatt geneigt, offenbar eifrig las und dabei ab und zu einen Löffel Suppe nahm. »Leute, die beim Essen lesen, sind niemals ganz schlecht« – so hatte einst im Scherz der gute Professor Quellacasa gesagt, und der war schon damals alt genug, um etwas von der menschlichen Seele zu verstehen. Dieser Mann, so dachte Korbin flüchtig, kann unmöglich einen gemeinen Raubmord begangen haben!

Neben ihm saß, den Blick aufmerksam auf seinen Herrn gerichtet, ein weißer, modisch geschorener Pudel.

Das Restaurant war ziemlich dicht besetzt, und so fügte es sich ungezwungen, daß Korbin am Tische des Fremden mit stummer Verbeugung Platz nahm. Er bestellte sich ein Fleischgericht, das augenblicklich gebracht wurde, und holte sich vom Zeitungsstand die »Züricher Zeitung«, die er anscheinend achtlos neben sich auf den Stuhl legte.

Der Pudel musterte ihn mißtrauisch und begehrlich.

»Na, Kleiner«, wendete sich Korbin in deutscher Sprache an den Hund, »hast wohl Hunger? Hier hast du was. Kann deinesgleichen nicht leiden sehen, wenn mir's gut geht!« Lächelnd reichte er ihm einen Bissen von seinem Teller.

»Aber Mucki«, tadelte der Fremde, »du sollst doch nicht betteln!« Er sagte es mit heiterer Miene, und dazu streichelte er den Kopf des Tieres. Auch er bediente sich dabei der deutschen Sprache mit einer angenehmen, weichen Stimme. »So ist er eben«, wendete er sich nun an Korbin, »ein kleiner Schnorrer vor fremden Türen. Man kann ihm das, was man europäische Zurückhaltung und Wohlanständigkeit nennt, einfach nicht beibringen. Aber hat nicht Gott eigentlich alle seine Geschöpfe so eingerichtet wie ihn?«

Wie oft sitzt ein Mensch neben dem andern, ohne eine Brücke zu seinem Herzen zu finden. Es erwies sich auch in dieser Stunde, daß die gemeinsame Zuneigung zu einem Tiere der beste Weg ist, zwei Menschen einander nahezubringen – um so mehr, wenn einer von ihnen diesen Weg heimlich sucht. Es dauerte nicht lange, und die beiden unterhielten sich angeregt über die Berge ihrer Heimat. Richard Häberlin – er hatte sich als höflicher Europäer mit einer leichten Verbeugung vorgestellt – war, wie er erzählte, in jüngeren Jahren häufig in den österreichischen Alpen gewesen und kannte sogar den Anstieg zum Oberndorfer und zum Pflerscher Tribulaun ganz genau. Nein, das Goldkappel hatte er nicht gemacht. Er war als Schweizer mehr für Gletscherwanderungen und hohe Gipfel; die schwierige Kletterei am Seil lag ihm nicht. Deshalb hatte er sich auch den Monte Cristallo, die Cinque Torri und die Drei Zinnen nur von Cortina aus angeschaut. Als er sich mit Mucki, seinem quirligen Pudel, verabschiedete, sagte er:

»Hat mich gefreut, Herr Holzer, einen Landsmann zu treffen. Sie sind zwar kein Schweizer, aber die Berge verbinden die Herzen. Würde mich freuen, wirklich, würde mich außerordentlich freuen, Sie gelegentlich wiederzusehen. Ich esse täglich in diesem Restaurant. Man ist gut aufgehoben hier, und manchmal stehen sogar Knödel auf dem Fahrplan. Wie gesagt – wird mich freuen!«

So war die Bekanntschaft schneller und ungezwungener gemacht, als Korbin hatte hoffen dürfen.


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