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Tonio reitet langsam die Straße hinab dem Hafen zu. Dunkelheit sinkt über Cerdova. Hie und da blitzen Lichter auf. Hinter der Mole, an der die Staatendampfer anlegen, ist ein freier Platz, dessen drei ungleiche Seiten von niedrigen Häusern umsäumt sind. An der vierten Seite liegt die ›Washington‹. Das Schiff ist ein paar Stunden früher gekommen, als es erwartet wurde. Wer mitfahren will, muß sich beeilen. Auf der Mole stehen müßige Menschen umher. Gepäckstücke werden über den Steg getragen. Am Heck wimmert ein Kran, bemüht, eine Schmalspurlokomotive und einige Kipploren zur Erdbewegung aus dem Laderaum des Schiffes herauszubringen.
Tonio blickt sich suchend um, dann reitet er auf eines der niedrigen Häuser zu, springt mit leichtem Satz vom Pferde, schlingt den Zügel um einen eisernen Haken, der neben einem Fenster im Erdgeschoß eingemauert ist, und tritt in den Flur.
Eine Tür tut sich auf.
»Ich habe Sie erwartet, Tonio«, tönt eine tiefe Männerstimme aus dem kleinen Zimmer zu ebener Erde. »Wenn die Sache mit dem Einundzwanzigsten richtig war, dann konnten Sie gerade heute hier sein.«
Der Mann, der sich aus einem bequemen Stuhle am Fenster erhoben hat, blickt Tonio erwartungsvoll an. Silberhaar liegt dicht und sorgfältig gescheitelt über seiner hohen Stirn. Aber die durchdringenden grauen Augen und die sehnigen Hände wischen den ersten Eindruck des Alters fast völlig aus. Es ist nicht leicht, die Lebensjahre dieses Mannes zu schätzen. Fünfzig? – Sechzig? – Oder ist er älter? – Die Falten und Fältchen seines Gesichts leben mit den Schwingungen und Erregungen seines Geistes. Selbstsicherheit, in jeder seiner Gesten spürbar, überträgt sich auf den, der ihm gegenübersteht. Sein Auge ruht auf Tonio mit der Kühle des Schützen, der das Ziel festhält, bereit, mit leichtem Fingerdruck der Kugel den Lauf freizugeben. Aber diese Kühle – auch dies ist deutlich spürbar »– gilt nicht der Person, sondern einer Sache, der das Nachdenken gewidmet ist. Gespannte Erwartung verleiht diesem Blick etwas Starres. Die ganze Erscheinung des Mannes fordert: Berichte! – Dann entscheiden wir uns!
Tonio setzt sich mit finsterm Gesicht auf einen Stuhl.
»Eine seltsame Geschichte, Mr. Hood! Der Norweger ist tot. Aber – erschossen hat ihn der Schweizer, sein Mordkumpan. Schuß aus kurzer Entfernung; ging von hinten durch die Niere und zerriß die Eingeweide. Absolut tödlich, ohne Zweifel. Was nachher kam, war sozusagen nur noch das Satyrspiel zur Tragödie.«
»Und was kam nachher?«
»Er schrie wie ein wildes Tier, als der Schweizer ihm die Taschen leerte. Kriegte seinen Mörder an der Gurgel zu fassen. Wer weiß, was noch geschehen wäre! Ich gab ihm einen Gnadenschuß aus kurzer Entfernung!«
Mr. Hood starrt Tonio verständnislos an.
»Warum schickten Sie die Kugel in den verkehrten Schädel?«
Tonio blickt wie ein gescholtener Junge zu Boden.
»Ich konnte im Augenblick nichts anderes tun«, sagt er leise. »Als der Mörder floh – es war wirklich zu dunkel für ein sicheres Abkommen – der dritte Schuß dieser Nacht ging fehl.«
Mr. Hood ist stehengeblieben. Ein wenig gebückt. Der Mann ist zu groß für das niedrige Zimmer, um sich zur vollen Höhe aufrichten zu können. Seine Züge verklären sich plötzlich zu einem milden Lächeln. Er hebt beide Hände und legt sie wie segnend auf Tonios Schulter.
»Gott hat Sie davor bewahren wollen, ein Mörder zu werden!« sagt er feierlich. »Danken Sie ihm dafür. Wenn auch das weltliche Gericht Sie nicht des Mordes angeklagt hätte – vor Gott und Ihrem Gewissen wäre es eben doch ein Mord gewesen. Einer ist also tot. Den andern aber werden wir jetzt vor den Richter bringen, so wahr ich Robin Hood heiße – worauf ich mir übrigens gar nichts einbilde, Tonio. Auf den legendären Namen nämlich. Sie kennen wohl die Geschichte des Räubers Robin Hood, der mit seinen Spießgesellen gegen Edelleute und Pfaffen Krieg führte? Er war in seiner Art ein Held, und ich bin gestimmt keiner. Aber sein unbeirrbares Rechtsempfinden scheint auf mich übergegangen zu sein, und ich verspreche Ihnen, nicht zu ruhen, bis ich den Kerl vorm Richter habe. Was wir jetzt zuverlässig von ihm wissen, reicht vor jeder Geschworenenbank für ein Todesurteil aus!«
»Und wenn der Schweizer nach den Staaten geht?«
»Er wird sicher nach den Staaten gehen« – Mr. Hood wirft einen Blick durchs Fenster hinüber nach der Mole – »wahrscheinlich schon in diesem Augenblicke. Die ›Washington‹ hat ihre Buchungslisten ausliegen. Wir werden seinen Namen in ihnen finden!«
Tonio führt das Pferd auf den kleinen Hof, dann folgt er Mr. Hood, der mit langen Schritten der Mole zustrebt. Eben werden die Trossen des Dampfers losgeworfen. Am Ufer stehen die Menschen in Gruppen beisammen und blicken hinüber auf das Schiff, das langsam und schwerfällig rückwärts fährt, um zu wenden.
Was für Gedanken und Wünsche begleiten das Scheiden dieses Schiffes.
Es trägt den Prospector, der mit fünfstelligen Ziffern im Bankbuche das Land des Glückes verläßt, begleitet vom Neid der tausend Erfolglosen, denen der Boden die Erfüllung ihrer Wünsche versagte – den Regierungsbeamten, der nach einem Dienstjahre voller Enttäuschungen zurückkehrt in das schöne Kalifornien; sein Nachfolger im Amte winkt ihm mit gemischten Gefühlen ein Lebewohl zu – den Pelzhändler, der mit zufriedenem Gesicht in die Ferne schaut und im Geiste bereits den Gewinn errechnet, den er mit seiner Ware an der Rauchwarenbörse in Seattle machen wird – den armen Teufel, der seine letzten Dollars im chinesischen Spielhaus verloren oder mit den Harpyien der Straße freudlos und im tiefsten Herzen angewidert verstreut hat – und es trägt den Mörder des Norwegers.
»Das ist er!« sagt Tonio mit bleichem Gesicht. »Der dort, rechts vom zweiten Lüftungsschacht. Jetzt legt er beide Arme auf die Reling. Da, er hebt die Hand und hält den Hut fest.«
»Natürlich sehe ich ihn – hab' ihn sofort wiedererkannt!« sagt Mr. Hood, hebt seine kleine Kamera und löst den Verschluß. Das schwerfällige Schiff ist noch keine zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Der Mann an der Reling scheint sich dafür zu interessieren, daß er geknipst wird. Er lächelt und winkt zurück.
»Machen Sie noch ein paar Aufnahmen«, sagt Tonio erregt. »Ich behalte ihn im Auge, wenn er den Standort wechseln sollte.«
Noch zweimal gelingt Mr. Hood eine Aufnahme des Schweizers. Die Belichtungsverhältnisse sind freilich sehr ungünstig. Die Dämmerung beginnt bereits in Dunkelheit überzugehen. An Deck brennen einige Bogenlampen mit grellem Schein. Der Mann an der Reling steht relativ günstig zur Lichtquelle. Der hochempfindliche Film wird immerhin ein Bild ergeben …
»Das genügt«, bemerkt Mr. Hood befriedigt; »man wird ihn nach diesen Bildern festnehmen können. Jetzt wollen wir erst einmal nachsehen, ob sein Name in den Schiffslisten zu finden ist.«
Die beiden begeben sich ins Büro der Reederei. Mr. Hood zieht ein Papier aus der Tasche, das ihm nach kurzer Prüfung schweigend mit einer Verbeugung zurückgegeben wird. Dann schlägt der Beamte bereitwillig vor ihm die Schiffsliste auf, die Mr. Hood mit raschem Blick überfliegt.
»Da!«
An dritter Stelle steht: ›Richard Häberlin, Bergingenieur, Swizzerland‹.
»Ich dachte mir gleich, daß er nicht unter einem falschen Namen reisen würde. Er fühlt sich nämlich völlig sicher. Hält es nicht für möglich, daß der Schütze, der ihm eine Kugel in die Dunkelheit nachschickte, schon hier sein kann. Bis zu welchem Hafen hat dieser Herr gebucht?«
»Frisco!« bemerkt der Beamte sachlich. »Hier steht es.«
»Danke!«
Mr. Hood verabschiedet sich höflich.
Als Tonio und Mr. Hood aus dem Büro der Gesellschaft heraustraten, liefen sie der Firma Holzer & Henne beinahe in die Arme.
»Glück muß der Mensch haben!« sagte Franz Henne und machte eine komische Verbeugung vor Tonio. »Dich such' ich, Kleiner. Brauche Anschluß in die Berge und hoffe, du wirst mir mit 'nem niedlichen Tip aushelfen. Der Korbin hat mir tausend Dollar vorgeschossen. Das Betriebskapital ist also da. Das Werkzeug liegt noch oben in der Schlucht, und von mir aus kann's gleich losgehen!«
Mr. Hood betrachtete die beiden von oben herab, wie das nun einmal so in der Natur der Dinge lag, denn er war mit seinen hundertundeinundneunzig Zentimetern lichter Höhe in jeder Gesellschaft der Größte. Tonio beeilte sich vorzustellen.
»Mr. Holzer und Mr. Henne, Prospectors. Dies hier ist Mr. Hood aus Frisco, ein Freund meines Vaters. Mit Mr. Holzer bin ich ein wenig näher bekannt geworden in den Bergen, ich sagte es Ihnen wohl schon. Er hat dort einiges Glück gehabt.«
Mr. Hood schüttelte den beiden die Hände, als wolle er sie ihnen aus den Gelenken reißen.
»Glück gehabt?« lachte er Holzer an. »Na, dann passen Sie bloß auf, daß Sie die Dollars hübsch beisammenhalten. In dieser Stadt am Rande der Welt lauert jede Kreatur auf den Mann mit Gold. Und Sie, Mr. Henne – eh – wollen noch einmal in die Berge? Nun, der Sommer ist noch lang. Werden freilich ohne meinen jungen Freund reisen müssen. Er geht mit dem nächsten Schiffe nach Frisco.«
Franz Henne trat überrascht zurück.
»Nach Frisco gehst du?« murmelte er, ins Deutsche fallend. Dann, sich der Unhöflichkeit bewußt werdend, in einer Sprache zu reden, die einer der Anwesenden nicht verstand, fügte er englisch hinzu: »Nach Frisco? Eine verdammte Wendung! Was mach' ich nun, Korbin?«
Mr. Hood lachte hellauf.
»Sehr einfach, Gentlemen, Sie schließen sich uns an für einen kleinen Drink. Es ist Zeit, etwas zu sich zu nehmen, und das internationale Welthotel ›Zum Schürhaken‹ wartet auf Gäste. Kommen Sie, Mr. Henne, wir gehen voran!«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, faßte er den kleinen Henne unter dem Arm und führte ihn in der angedeuteten Richtung über den Landungsplatz.
»Was hat dich dazu gebracht, das Land zu verlassen?« fragte Holzer leise und hastig, der unschlüssig neben Tonio im Dunkel stehengeblieben war.
»Frage jetzt nicht! Ich buche die Passage nach Frisco auf der ›City of Townsend‹. Wenn du mitkommen willst, benutze bitte das nächste Schiff.«
»Ich komme nach; habe noch etwas in Seattle zu erledigen – muß mich da ein paar Tage aufhalten. Im ›Posthorn‹ wohne ich. Der Hausdiener dort hat einige Sachen von mir in Verwahrung.«
»Gut. Bleibe dort, bis du Nachricht von mir erhältst. Aber bitte ohne deinen Partner. Er mag ein ganz guter Bursche sein, aber ich kann ihn nicht brauchen.«
Die beiden folgten dem Paare, das vorangegangen war, in einigem Abstände. Bei dem Whisky, den Mr. Hood anfahren ließ, sprach der Amerikaner ganz allein. Er erzählte eine glatte Geschichte von Tonio, die diesem selber gänzlich unbekannt war, aber es ging aus ihr mit zwingender Klarheit hervor, daß der Junge außerordentlich bedauern müsse, mit dem eben abgefahrenen Schiffe nicht fortgekommen zu sein.
»Kam einen Tag zu spät, der Junge! Schade, sehr schade! Nun, freilich, wer konnte ahnen, daß die ›Washington‹ so pünktlich abgehen würde! Gewöhnlich hat die Linie derbe Verspätungen. Aber das ist alles halb so schlimm. Übermorgen läuft die ›City of Townsend‹. Glücksfall übrigens. Sonst nur alle zehn Tage ein Schiff. Also, auf gute Reise, Tonio!«
Er hob sein Glas und lächelte zufrieden im Kreise. Tonio nahm gehorsam einen Schluck von dem scharfen Zeuge und hustete.
»Mußt immer einen Halben nehmen«, bemerkte Franz lehrhaft, ohne zu merken, daß er schon wieder in seine Muttersprache verfiel. »Whisky ist eine gute Sache, aber man darf nie zu wenig davon in den Mund nehmen.«
Tonio lachte.
»Sonst trinke ich keinen Schnaps. Aber Mr. Hood tut's nun einmal nicht anders, und da muß ich eben mithalten.«
»Warum hast du's mit einem Male so eilig, hier wegzukommen?« fragte Franz leise. »Ohne dich gehe ich nicht in die Berge. Ich finde doch nichts, wenn du mir keinen Tip gibst.«
»Tut mir leid, Mr. Henne« – Tonio blieb im Englischen – »ich habe in Frisco dringende Geschäfte. Im nächsten Frühjahr finden Sie mich vielleicht wieder in den Bergen, und dann können wir ja in Ruhe über den Fall reden.«
Franz Henne verstummte. Warum war dieser Bursche erst mit seiner Weisheit herausgerückt, nachdem er, Franz Henne, das Rennen aufgegeben hatte? Am Ende – nun ja, man konnte sich dabei allerhand denken.
Die kleine Gesellschaft löste sich bald auf. Holzer und Henne gingen in ihre alte Herberge zurück, und da der Nachmittag einmal angerissen war, wie Korbin im Gefühle unbedingter finanzieller Überlegenheit fröhlich feststellte, zogen sie weiter. Um Mitternacht fielen sie in eines der zahlreichen Spielhäuser, wo Franz Henne seine geborgten tausend Dollar im Bakkarat an einen kaltblütigen Chinesen verlor.
Korbin rührte keine Karte an. Erstens lag ihm Spielen überhaupt nicht, und zweitens mußte er immer wieder an Tonio und dessen plötzliche Abreise nach Frisco denken. Er hatte also versprochen, nachzukommen. Warum eigentlich? Viel gescheiter wäre es doch gewesen, mit Franz Henne wieder in die Berge zu ziehen – und vielleicht auch lustiger. Warum sollte ihm das Glück, das ihm die Hand gereicht hatte, mit einem Male untreu werden?