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VI

Um die Stunde, da Tonio und Korbin Holzer zur Behausung des Jungen reiten, strebt auf der andern Seite des trennenden Massivs ein einsamer Reiter der Stelle zu, die etwa zweihundert Meter vom hinteren Ausgang der Höhle entfernt ist. Dort liegt, vom Flusse durch eine steile Halde getrennt, die Brandstätte des Hauses, das einst in glücklichen Tagen von Theodor Valler und den Seinen bewohnt wurde.

Zerwühlt ist dieser Ort des Grauens. Nachbar Mac'Phenor hat noch einiges im Baugrund gefunden, was ihm des Aufhebens wert schien. Vor allem, er hat die Reste der Toten, wo er sie zu erkennen glaubte, christlich und mit einem Gebet auf den Lippen bestattet.

Auch an einer anderen Stelle ist der Schutt des Hauses durchwühlt worden. Wer mag an dieser Stätte des Mordes noch geweilt haben? Mac'Phenor weiß das zwar, denn er ist selber dabeigewesen, aber er ist nun einmal abergläubisch; er meidet den Ort, wenn die Dunkelheit hereinbricht.

Der Reiter, der mit seinem Pferde die Geröllhalde hinaufreitet, blickt sich vorsichtig nach allen Seiten um. Mac'Phenors Haus ist mindestens zweitausend Schritte von der Brandstätte entfernt. Der Reiter späht in dieser Richtung und nickt befriedigt. Er steigt ein wenig steifbeinig vom Pferde, wie einer, der einen langen Ritt hinter sich hat, sattelt ab und führt das Tier an den Fluß. Dort ist kühle Labe für das durstige Pferd und frisches, saftiges Gras.

Dann baut der Mann ein kleines Zelt auf und hängt einen Wasserkessel über das rasch auflodernde Feuer. Bald kocht das Teewasser – Whisky dazu – welch ein Genuß nach diesem anstrengenden Ritt! Eine Woche ist er nun unterwegs von Dawson-City hierher – und heute ist der zwanzigste Juni. Morgen im Laufe des Tages wird sein Partner an dieser Stelle erscheinen.

Ob noch Gold unter der Brandstätte dieses Hauses liegt?

Es war natürlich eine Dummheit, das Haus vorzeitig in Brand zu stecken, aber – nun ja – er hatte wohl die Spuren der Tat so rasch wie möglich austilgen wollen. Gedacht hatte er dabei wenig. Es war plötzlich über ihn gekommen.

Nun sitzt er am Feuer und träumt.

Glück hat ihm der Raub bisher nicht gebracht. In Dawson-City lebt sich's locker und kostspielig. Die beiden Krakauer Mädels haben ihm den Beutel gründlich geschröpft – giftige Biester, alle beide. Haben ihm schließlich bald noch sein Geheimnis, aus dem Hirn gezogen, diese feilen Frauenzimmer, und man weiß ja nie, ob sie nicht doch mit der Territorialpolizei Hand in Hand arbeiten! Der Mord an Valler und seiner Familie ist immer wieder hochgekommen in ihren Gesprächen. Seit langem ist der Distrikt nicht durch eine solche grauenhafte Tat erschreckt worden. Nun, er hat sich rechtzeitig auf den Weg gemacht, und in Dawson-City kann man ihn gern haben. Er wird das Lausenest nie wieder betreten!

Drüben am Hang liegt Tonio.

Er überlegt. Eiskalte Entschlossenheit ist über ihn gekommen. Drinnen in der Höhle schläft Holzer. Er schläft fest und tief; wird einen Schuß, der hier draußen fällt, nicht hören. Was hat ihn, Tonio, überhaupt dazu bewogen, ihn mit in die Höhle zu nehmen? Er weiß selber keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht braucht er einen Menschen in seiner Nähe in dieser schweren Stunde? Gewiß, das ist's. Er kann in dieser Nacht nicht allein sein – und dieser Holzer ist ein ehrlicher, unerfahrener Junge, dem die bedingungslose Rechtlichkeit vom Gesicht abzulesen ist. Die Schule hängt ihm noch ein wenig im Gehirn, noch ist nicht alles verdaut, was ihm da auf den Tisch gesetzt worden ist – aber es müssen doch verdammt gute Sachen gewesen sein. Tonio hat nie eine Schule besucht, und er ist geneigt, Schulbildung zu überschätzen. Vater und Mutter waren ihm Lehrer von seltener Begabung. Er weiß gar nicht, was alles er ihnen verdankt!

Der Mann, der da drüben am Feuer hockt, ist der Norweger. Tonio hat ihn sofort wiedererkannt. Der Schweizer wird nicht weit sein. Morgen früh wollen die beiden sich hier treffen.

Soll er den Norweger gleich umlegen? Wenn dann der Schweizer kommt, wird ihn die Kugel des Rächers an der Leiche seines Mitverbrechers erreichen! Ein herrlicher, ein verführerischer Gedanke. Jugend hat Sinn für Romantik. Aber – ist die Stunde nicht zu ernst, um ein Kinostück aufzuführen? Hier gilt es, kalte Überlegung zu bewahren. Tonio bemüht sich, die Bilder zu verscheuchen, die wie ein schlechter Film durch sein Hirn wirbeln. Nur Sekunden wühlt der Sturm der Gefühle sein Inneres auf, dann hat er sich wieder fest in der Hand. Wie also? … Es ist sicherlich das beste, rasch ein Ende zu machen! Was getan ist, ist getan – und getan werden muß es nun einmal, will er je wieder den Frieden seiner Seele finden. Er hebt das Gewehr und zielt ruhig.

Dann läßt er es wieder sinken. Ein neuer Gedanke beunruhigt ihn. Wenn der Schweizer schon in der Nähe ist – wird ihn der Schuß nicht verscheuchen?

Eine volle Stunde liegt Tonio regungslos und lauscht in die Dunkelheit. Nichts ist zu hören als das Rauschen des Flusses. ›Tönende Stille der Nacht‹ – so pflegte der Vater diese Stimmung der Natur zu nennen, die hier oben in der Einsamkeit der Berge das Herz des Menschen besonders tief berührt, seine Gedanken auf das Ewige, Göttliche zurückführt. Auf Gott! Wenn die Mutter jetzt bei ihm wäre – gewiß, sie würde ihn bitten, die Rache dem zu überlassen, der aller Weisheit und Güte Erfüllung ist, dem Herrn über Leben und Tod – der ewigen Gerechtigkeit. Aber die Mutter ist nicht mehr. Ihr liebes Gesicht wurde durch den grausamen Hieb einer Axt bis zur Unkenntlichkeit zerstört – von dem Manne, der dort am Feuer sitzt.

Tonio kriecht vorsichtig näher. Er darf keinen unsicheren Schuß tun. Der Henker soll sein Opfer richten, nicht quälen. Eine Kugel durch den Schädel – Schluß mit ihm!

Wieder hebt er das Gewehr – und wieder setzt er es ab. Der Mann am Feuer spricht vor sich hin, unverständliches Zeug, gießt einen Becher Whisky nach dem andern in sich hinein – singt mißtönend ein Lied.

Plötzlich bricht er kurz ab und lauscht. Deutlich sieht Tonio, wie er den Kopf nach der Seite wendet, seinem schweren Körper einen Ruck gibt und aufzustehen versucht. In diesem Augenblicke zerreißt ein scharfer Knall die Nacht. Der Schuß kommt aus nächster Nähe – der Norweger sinkt vornüber, fast ins Feuer.

Tonio zieht erschrocken den Finger aus dem Abzugsbügel seines Gewehrs und bleibt wie erstarrt liegen. Der Schuß ist von der Talseite hergekommen, keine hundert Meter von ihm entfernt ist er abgegeben worden. Jetzt glaubt Tonio auch ein Geräusch von dorther zu vernehmen. Aber dann ist alles wieder stumm.

Der Schütze liegt also immer noch an der Stelle, von der aus er geschossen hat. Warum rührt er sich nicht? Natürlich – er hat Geduld, wie alle Leute, die ganz sichergehen wollen. Der Schuß könnte von jemandem gehört worden sein. Mac'Phenor zum Beispiel kann ihn vernommen haben. Der Wind steht günstig.

Tonio hat auch Geduld. Er ist fest entschlossen, kein Glied zu rühren, bis sich der Schütze da drüben im Gebüsch erhebt und zum Vorschein kommt, und sollte er bis zum Hellwerden an dieser Stelle liegenbleiben müssen. Daß der Schütze noch vor dem Hellwerden hervorkommt, dessen ist er sicher!

Seine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Er hört nichts, als das Rauschen des Flusses, das sich im Ohre mit dem seines Blutes vereinigt zu einem dumpfen, fernen Brausen. Länger als eine Stunde liegt er schon so. Der Norweger ist am Feuer zusammengesunken. Auch er rührt sich nicht. Der Schuß hat ihn wohl sofort ausgelöscht.

Tonio ist sich nicht eine Sekunde darüber im unklaren, wer diesen Schuß abgegeben hat: der Mordkumpan – der Schweizer! Er will das Gold, das er noch unter der Brandstätte vermutet, allein haben!

Da – von rechts her taucht eine Gestalt aus dem Dunkel. Die Büchse baumelt am Riemen über seiner Schulter.

Jetzt beugt sie sich über den Daliegenden, hebt den schweren Körper hoch und greift in die Rocktaschen seines Opfers. Da plötzlich heult ein grauenhafter Ton auf und zerreißt gellend die Stille der Nacht. Der Sterbende hat mit letzter Kraft seinen Mörder gefaßt, brüllt wie ein todwundes Tier – entsetzlich hallt seine Stimme von den Wänden der Schlucht wider.

»Blutiger Hund!« versteht Tonio – dann verlieren sich die Worte in unverständlichen, gurgelnden Kehllauten. Aber die Hand des Sterbenden bleibt um den Hals des Mörders verkrampft.

Da fällt ein zweiter Schuß.

Tonio hat das Gewehr hochgerissen. Auf wen hat er gezielt? Auf den Mörder oder auf sein Opfer?

Tonio hat in diesem Augenblicke nur einen Gedanken: Herrgott! Wenn doch dieses entsetzliche Brüllen verstummte! Lösche die Todesqual eines Menschen aus!

Der Kopf des Norwegers sinkt zurück, der Griff um die Gurgel des Schweizers lockert sich. – Der steht verwirrt auf.

Dann plötzlich ahnt er – begreift! Er wirft sich mit raschem Schwunge in die Dunkelheit. Ein dritter Schuß zerreißt die Stille der Nacht. Der Schweizer springt die Geröllhalde hinunter, geht in den eisigen Fluß – gewinnt das andere Ufer – – der dritte Schuß hat sein Ziel verfehlt.


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