Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Achtzehntes Kapitel.

An jenem Abend blieb ich noch eine Zeit lang mit Doktor Leete zusammen, nachdem sich die Damen zurückgezogen hatten. Wir sprachen über die Folgen der Einrichtung, daß Personen nach ihrem fünfundvierzigsten Lebensjahre vom ferneren Dienste befreit seien, ein Punkt, auf welchen Doktor Leetes Bericht über den Anteil, den diese in den Ruhestand getretenen Bürger an der Staatsverwaltung nehmen, uns gebracht hatte.

»Mit fünfundvierzig Jahren,« sagte ich, »fühlt der Mensch noch zehn Jahre voller körperlicher Arbeitskraft in sich und zweimal zehn Jahre voller Kraft für geistige Thätigkeit. In diesem Alter abgedankt und auf das Altenteil gesetzt zu werden, muß von energischen Charakteren eher als eine Härte, denn als eine Gunst empfunden werden.«

»Mein lieber Herr West,« rief Dr. Leete belustigt aus, »Sie können sich gar nicht denken, wie interessant diese Gedanken aus dem neunzehnten Jahrhundert für uns sind, wie ganz eigenartig sie uns heute berühren! So erfahren Sie denn, Sie Kind eines anderen und doch des nämlichen Geschlechts, daß die Arbeit, die jeder für seinen Teil zu leisten hat, um der Nation die Mittel zu einer behaglichen physischen Existenz zu sichern, keineswegs als die wichtigste, interessanteste oder würdigste Anwendung unserer Kräfte gilt. Wir sehen sie als eine durch die Notwendigkeit uns auferlegte Pflicht an, von der wir erst frei sein müssen, wenn wir uns voll und ganz der höheren Bethätigung unsrer Kräfte, den geistigen und seelischen Genüssen und Bestrebungen hingeben können, welche allein das wahre Leben ausmachen. Es ist in der That alles mögliche geschehen, indem man für die gleichmäßige Verteilung der Lasten gesorgt und alle Mittel angewendet hat, um unsere Arbeit im einzelnen anziehend und anregend zu gestalten und ihr thunlichst den Charakter des Lästigen zu nehmen; und man hat es wirklich erreicht, daß die Arbeit, außer in einem relativen Sinne, gewöhnlich nicht als lästig empfunden wird, sondern oft belebend wirkt. Aber nicht unsere Arbeit, sondern die höhere und umfassendere Thätigkeit, der wir uns nach der Vollendung unseres Arbeitstagewerkes widmen können, – sie ist es. die uns als Hauptzweck des Daseins gilt.

»Natürlich haben nicht alle, nicht einmal die Mehrzahl, jene wissenschaftlichen, künstlerischen, litterarischen oder gelehrten Interessen, welche dem, der sich derselben erfreut, die Muße als das eine Gut des Lebens erscheinen lassen. Viele erblicken in der letzten Hälfte des Lebens hauptsächlich eine Zeit, in der sie sich Vergnügungen anderer Art hingeben können: sie verwenden sie zu Reisen, zum geselligen Verkehre mit alten Freunden und Arbeitsgenossen, sie geben sich mit der Verfolgung aller möglichen sie persönlich interessierenden Beschäftigungen und Probleme ab, oder sie sorgen auf alle nur denkbare Art für ihre Erheiterung; – mit einem Worte, es ist eine Zeit des ruhigen und ungestörten Genusses aller guten Dinge auf der Welt, welche sie selbst haben schaffen helfen. Aber bei aller dieser Verschiedenheit unserer persönlichen Neigungen, denen gemäß wir die Zeit unserer Muße gestalten wollen, stimmen wir alle darin überein, daß wir auf unsere Dienstentlassung als auf den Zeitpunkt hinblicken, wo wir zuerst in den vollen Genuß unsers angeborenen Rechtes gelangen, – wo wir erst wirklich in das Alter der Großjährigkeit eintreten und frei werden von allem Zwange und aller Aufsicht; wir genießen dann den Lohn für unsere Arbeit, der, sozusagen, in uns selbst angelegt worden ist. Wie ungeduldige junge Leute zu Ihrer Zeit das einundzwanzigste Jahr kaum erwarten konnten, so blicken wir heutzutage auf das fünfundvierzigste. Mit einundzwanzig Jahren werden wir Männer, mit fünfundvierzig erneuern wir unsere Jugend. Das höhere Mannesalter und dasjenige, welches Sie Greisenalter nennen würden, gilt uns, mehr denn die Jugend, als die beneidenswerte Lebensperiode. Dank den besseren Existenzbedingungen, welche das heutige Leben bietet, und dank vor allem der völligen Freiheit von Sorgen, deren sich jeder erfreut, kommt das Greisenalter viele Jahre später heran und hat ein weit freundlicheres Angesicht, als in vergangenen Zeiten. Menschen von gewöhnlicher Konsumtion werden in der Regel fünfundachtzig oder neunzig Jahre alt, und mit fünfundvierzig sind wir, glaube ich, jünger, als Sie mit fünfunddreißig waren. Eigentümlich berührt uns der Gedanke, daß mit fünfundvierzig Jahren, wo wir gerade in die genußreichste Lebensperiode eintreten, Sie schon daran dachten, daß Sie alt würden, und schon rückwärts zu blicken begannen. Bei Ihnen war der Vormittag, bei uns ist der Nachmittag die lichtere Hälfte des Lebens.«

Hierauf kam unser Gespräch, wie ich mich erinnere, auf Spiele und Volksbelustigungen, und es wurden dabei die gegenwärtigen mit denen des neunzehnten Jahrhunderts verglichen.

»In einer Hinsicht,« sagte Dr. Leete, »findet ein bedeutender Unterschied statt. Die berufsmäßigen Sportsmänner, diese sonderbaren Gestalten Ihrer Zeit, haben wir nicht mehr; und die Preise, um welche unsere Athleten kämpfen, sind keine Geldpreise mehr, wie in Ihren Tagen. Bei unseren Wettkämpfern handelt es sich stets nur um den Ruhm. Der edle Wetteifer zwischen den Angehörigen der verschiedenen Genossenschaften und die Anhänglichkeit jedes Arbeiters an die seinige geben eine beständige Anregung zu allen Arten von Spielen und zu mancherlei Turnieren zu Wasser und zu Lande, an denen die jungen Leute kaum mehr Interesse nehmen, als die alten ausgedienten Ehrenmitglieder der Genossenschaften. In nächster Woche findet bei Marblehead das Jachtwettsegeln der Genossenschaften statt, und Sie sollen selbst einen Vergleich anstellen zwischen dem allgemeinen Enthusiasmus, den ein solches Ereignis heutzutage erregt, und demjenigen, der bei solchen Gelegenheiten in Ihren Tagen herrschte. Das Verlangen des römischen Volkes nach ›Brot und Spielen‹ erkennt man heutzutage als völlig vernünftig an. Wenn Brot die erste Bedingung für das Leben ist, so ist Erholung nahezu die zweite und nächste, und die Nation sorgt dafür, daß beide befriedigt werden. Die Amerikaner des neunzehnten Jahrhunderts waren in der unglücklichen Lage, weder für das eine, noch für das andere dieser Bedürfnisse geeignete Vorkehrungen zu besitzen. Selbst wenn das Volk in jener Zeit sich größerer Muße erfreut hätte, so würde es, glaube ich, oft in Verlegenheit gewesen sein, wie es dieselbe angenehm zubringen solle. In dieser Lage sind wir niemals.«


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