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»Wenn ich Ihnen unsre Art der Wareneinholung erklären soll,« sagte meine Gefährtin, als wir die Straße entlang gingen, »so müssen Sie mir auch von der Ihrigen erzählen. Ich bin nie im stande gewesen, dieselbe zu verstehen, trotz alles dessen, was ich über den Gegenstand gelesen habe. Zum Beispiel, wenn es bei Ihnen eine so große Anzahl von Läden gab, von denen jeder einen andern Wareninhalt hatte, wie konnte sich da eine Dame je zum Kaufe entschließen, bevor sie nicht alle die Läden besucht hatte? Denn ehe sie dies gethan, konnte sie nicht wissen, was zur Auswahl vorhanden war.«
»Es verhielt sich so, wie Sie annehmen: das war die einzige Art, wie sie es erfahren konnte,« erwiderte ich.
»Vater nennt mich eine unermüdliche Bazarbesucherin; aber ich würde bald recht müde sein, wenn ich das gleiche zu thun hätte,« bemerkte Edith lachend.
»Der Zeitverlust beim Wandern von Laden zu Laden war eine Sache, über welche die thätigen Frauen sich bitter beklagten,« sagte ich; »aber für die Frauen der müßigen Gesellschaftsklassen, die sich freilich auch darüber beklagten, war dieses System wirklich eine Gottesgabe, da es ihnen ein Mittel verschaffte, die Zeit totzuschlagen.«
»Aber sagen wir, es seien tausend Läden in einer Stadt gewesen, hundert vielleicht von derselben Art, wie konnten da selbst die Müßigsten Zeit finden, die Runde zu machen?«
»Sie konnten in der That nicht alle besuchen, natürlich,« erwiderte ich. »Diejenigen, welche viel einkauften, lernten mit der Zeit, wo sie erwarten durften, das gewünschte zu finden. Diese Klasse hatte aus der Kenntnis der Ladenspecialitäten eine eigene Wissenschaft gemacht und kaufte mit Vorteil, indem sie stets das Meiste und Beste für das mindeste Geld erhielt. Es bedurfte jedoch einer langen Erfahrung, diese Kenntnis zu erlangen. Diejenigen, welche zu beschäftigt waren oder zu wenig kauften, um sie zu erwerben, ließen es auf den Zufall ankommen und waren dabei gewöhnlich nicht glücklich, indem sie das Wenigste und Schlechteste für das meiste Geld erhielten. Es war der reine Zufall, wenn im Ladenbesuch Unerfahrene preiswürdig Einkäufe machten.«
»Aber warum ertrugen Sie ein so ärgerlich unbequemes System, wenn Sie doch dessen Fehler so klar sahen?«
»Es verhielt sich hiermit wie mit allen unseren gesellschaftlichen Einrichtungen. »Sie können deren Fehler kaum klarer sehen, als wir sie sahen; aber wir fanden kein Mittel gegen sie.«
»Hier sind wir im Bazare unsres Bezirks,« sagte Edith, als wir durch das große Portal eines der prachtvollen öffentlichen Gebäude traten, welche ich auf meiner Morgenwanderung bemerkt hatte. Es war in der äußeren Erscheinung des Gebäudes nichts, was einen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts an ein Kaufhaus erinnert hätte. Da war keine Ausstellung von Waren in den großen Fenstern, noch irgend ein Schild zur Ankündigung von Artikeln oder zur Anlockung von Kunden. Auch war keinerlei Zeichen oder Aufschrift an der Front des Gebäudes, welche den Charakter des dort betriebenen Geschäfts angegeben hätte; sondern an dessen Stelle trat über dem Portal eine majestätische Gruppe lebensgroßer Statuen aus der Front hervor, deren Hauptfigur ein weibliches Sinnbild der Fruchtbarkeit mit dem Füllhorn war. Nach der ein- und ausströmenden Menge zu urteilen, war das Verhältnis der Geschlechter unter den Einkaufenden ungefähr dasselbe wie im neunzehnten Jahrhundert.
Als wir eintraten, sagte Edith, es gäbe in jedem Bezirke der Stadt eine dieser großen Verteilungsanstalten, so daß niemand von seiner Wohnung aus mehr als fünf oder zehn Minuten zu einem Gange dahin brauche. Es war das erste Mal, daß ich das Innere eines öffentlichen Gebäudes des zwanzigsten Jahrhunderts sah, und der Anblick machte natürlich einen tiefen Eindruck auf mich. Ich war in einer gewaltigen Halle, welche eine Fülle des Lichts erhielt nicht nur von allen Seiten durch die Fenster, sondern auch von oben durch eine Kuppel, die sich hundert Fuß hoch über uns wölbte. Unter ihr, inmitten der Halle, spielte ein prächtiger Springbrunnen, der die Luft mit köstlicher Kühle und Frische erfüllte. Wände und Decke hatten Freskomalerei in zarten Farben, die darauf berechnet waren, das Licht, welches hereinflutete, zu mildern, ohne es aufzusaugen. Um den Springbrunnen waren Sessel und Sofas aufgestellt, auf denen viele Personen plaudernd saßen. Aufschriften ringsum an den Wänden gaben an, für welche Klasse von Waren die darunter befindlichen Ladentische bestimmt waren. Edith lenkte ihre Schritte zu einem derselben, wo Muslinproben von erstaunlicher Mannigfaltigkeit ausgelegt waren, und begann sie zu besichtigen.
»Wo ist der Kommis?« fragte ich; denn es stand keiner hinter dem Ladentisch, und es schien auch keiner zu kommen, den Kunden zu bedienen.
»Ich brauche jetzt noch keinen Kommis,« sagte Edith; »ich habe meine Wahl noch nicht getroffen.«
»Zu meiner Zeit,« erwiderte ich, »war es die Hauptaufgabe des Verkäufers, den Leuten bei ihrer Auswahl behilflich zu sein.«
»Wie, den Leuten zu sagen, was sie brauchten?«
»Ja; und noch öfter, sie zu veranlassen zu kaufen, was sie nicht brauchten.«
»Aber fanden die Damen das nicht sehr unbescheiden?« fragte Edith verwundert. »Was konnte es die Kommis interessieren, ob die Leute kauften oder nicht?«
»Es war ihr einziges Interesse,« antwortete ich. »Sie waren zu dem Zwecke gedungen, die Waren los zu werden, und hatten ihr Äußerstes zu thun, bis hart an die Grenze der Gewaltanwendung, um jenes Ziel zu erreichen.«
»Ach ja! Wie gedankenlos ich bin, das zu vergessen!« sagte Edith. »Der Lebensunterhalt des Ladenbesitzers und seiner Kommis hing zu Ihrer Zeit davon ab, daß sie die Waren verkauften. Das ist jetzt natürlich alles anders. Die Waren gehören der Nation. Sie sind hier für die, welche sie brauchen, und es ist die Aufgabe der Kommis, die Leute zu bedienen und ihre Aufträge entgegenzunehmen; aber der Kommis oder die Nation hat kein Interesse daran, eine Elle oder ein Pfund einer Sache an jemanden los zu werden, der sie nicht braucht.« Sie lächelte, während sie hinzufügte: »Wie äußerst wunderlich muß es doch gewesen sein, Ladendiener um sich zu haben, die einen veranlassen wollten, zu nehmen, was man nicht brauchte oder worüber man zweifelhaft war!«
»Aber sogar ein Kommis des zwanzigsten Jahrhunderts könnte sich nützlich machen, indem er Ihnen über die Waren Auskunft gäbe, obwohl er Ihnen nicht zuredete, sie zu kaufen,« bemerkte ich.
»Nein,« sagte Edith, »das ist nicht das Amt des Kommis. Diese gedruckten Karten, für welche die Regierungsbehörden verantwortlich sind, geben uns alle erforderliche Auskunft.«
Ich sah nun, daß an jeder Probe eine Karte befestigt war, welche in kurzer Form alle nötigen Angaben über Fabrikation, Stoff, Beschaffenheit und Preis der Waren enthielt, sodaß keinerlei Frage mehr übrig blieb.
»Der Kommis hat also in betreff der Waren, welche er verkauft, nichts zu sagen?« fragte ich.
»Nein, gar nichts. Es ist nicht nötig, daß er irgend etwas über sie weiß oder zu wissen vorgiebt. Artigkeit und Aufmerksamkeit in der Entgegennahme von Aufträgen sind alles, was man von ihm verlangt.«
»Welche ungeheure Menge von Lügen doch diese einfache Einrichtung erspart!« rief ich aus.
»Wollen Sie damit sagen, daß zu Ihrer Zeit alle Kommis über die Waren Falsches aussagten?« fragte Edith.
»Gott behüte!« erwiderte ich. »Es gab viele, die das nicht thaten: und sie verdienten besondere Anerkennung; denn als der eigene Unterhalt und der von Weib und Kind davon abhing, wieviel Waren man loswerden konnte, da war die Versuchung, den Kunden zu täuschen, oder ihn sich selbst täuschen zu lassen, fast überwältigend. – Aber, Fräulein Leete, ich ziehe Sie durch mein Geschwätz von Ihrer Besorgung ab.«
»Durchaus nicht. Ich habe meine Wahl getroffen.« Bei diesem Worte berührte sie einen Knopf, und in einem Augenblicke erschien ein Kommis. Er schrieb ihren Auftrag auf eine Tafel mit einem Stift, welcher zwei Kopien herstellte, von denen er das eine Exemplar ihr gab und das andere, nachdem er es in einen kleinen Behälter gethan hatte, in ein Leitungsrohr warf.
»Das Duplikat des Auftrags,« sagte Edith, als sie sich vom Ladentische entfernte, nachdem der Kommis den Wert ihres Einkaufs aus der Kreditkarte, die sie ihm reichte, coupiert hatte, »wird dem Käufer gegeben, damit jeder Irrtum in der Aufzeichnung leicht bemerkt und berichtigt werden kann.«
»Sie haben Ihre Wahl sehr schnell getroffen,« sagte ich. »Darf ich fragen, woher Sie wußten, daß Sie nicht in einem der anderen Warenhäuser etwas Passenderes hätten finden können? Aber wahrscheinlich müssen Sie in Ihrem eigenen Bezirke kaufen.«
»O nein,« erwiderte sie, »wir kaufen, wo wir wollen, jedoch meistens natürlich in unsrer Nähe. Aber es hätte mir nichts genützt, wenn ich andere Warenhäuser besucht hätte. Der Inhalt ist in allen genau der gleiche: er besteht in allen Fällen aus Proben sämtlicher Artikel, welche in den Vereinigten Staaten hergestellt oder eingeführt werden. Deshalb kann man sich schnell entscheiden und braucht niemals zwei Bazare zu besuchen.«
»Und ist dies nur ein Probenlager? Ich sehe keinen Kommis Waren fortnehmen oder Pakete bezeichnen.«
»Alle unsre Bazare enthalten nur Proben, mit Ausnahme einiger weniger Arten von Artikeln. Die Waren befinden sich, mit diesen Ausnahmen, sämtlich in dem großen Centralwarenlager der Stadt, wohin sie direkt von den Produktionsstätten geschafft werden. Wir bestellen nach der Probe und der gedruckten Angabe über Stoff, Fabrikation, und Qualität. Die Bestellungen werden nach dem Warenlager gesandt, und von dort aus werden die Artikel verschickt.«
»Das muß eine erstaunliche Menge von Arbeit ersparen,« sagte ich. »Bei unserm System verkaufte der Fabrikant an den Großhändler, der Großhändler an den Kleinhändler, der Kleinhändler an den Konsumenten, und mit den Waren mußte dabei jedesmal gehandelt werden. Sie ersparen das Handeln mit den Waren und beseitigen den Kleinhändler mit seinem großen Gewinne und seinem Heere von Gehülfen gänzlich. Ja, Fräulein Leete, dieses Haus ist nur das Musterlager eines Engrosgeschäftes und hat kein größeres Personal, als das eines Großhändlers. Unter unserm System, die Waren anzufassen, den Kunden zum Kauf derselben zu überreden, sie abzumessen und zu verpacken, würden nicht zehn Kommis thun, was hier einer thut. Die Ersparnis muß enorm sein.«
»Das denke ich wohl,« sagte Edith; »aber wir haben natürlich nie ein anderes Verfahren gekannt. Aber, Herr West, Sie müssen nicht unterlassen, meinen Vater zu ersuchen, daß er Sie einmal in das Centralwarenlager führt, wo die Bestellungen aus den verschiedenen Probenhäusern der ganzen Stadt eintreffen und von wo die Waren verpackt und an ihre Bestimmung gesandt werden. Vor kurzem führte er mich dorthin, und es war ein wundervoller Anblick. Die ganze Einrichtung ist gewiß vollkommen. Zum Beispiel: dort drüben in jenem Raume ist der expedierende Beamte. Die in den verschiedenen Abteilungen dieses Hauses erteilten Aufträge werden durch Leitungsrohre ihm zugesandt. Seine Gehülfen sortieren sie und verteilen sie je nach ihrer Art in verschiedene besondere Büchsen. Der expedierende Beamte hat ein Dutzend Rohrpostleitungen vor sich, von denen jede mit der entsprechenden Abteilung des Lagerhauses in Verbindung steht. Er steckt die Büchse mit den Bestellungen in das dazu bestimmte Rohr, und wenige Augenblicke später fällt sie auf einen besonderen Tisch im Lagerhause, wo auch alle Bestellungen derselben Art aus den anderen Probenhäusern anlangen. Die Aufträge werden mit Blitzesschnelle gelesen, gebucht und zur Ausführung gebracht. Diese Ausführung erschien mir als der interessanteste Teil. Tuchballen zum Beispiel werden auf Spindeln gerollt und durch Maschinen gedreht, und der Zuschneider, welcher sich auch einer Maschine bedient, verarbeitet einen Ballen nach dem andern, bis seine Zeit um ist, worauf eine andere Person seinen Platz einnimmt. Ähnlich verhält es sich mit denjenigen, welche die Bestellungen anderer Artikel ausführen. Die Pakete werden dann durch weite Röhren in die verschiedenen Stadtbezirke befördert und von dort in die Häuser versandt. Wie schnell dies alles geschieht, werden Sie begreifen, wenn ich Ihnen sage, daß mein Einkauf wahrscheinlich früher zu Hause sein wird, als es der Fall sein würde, wenn ich ihn von hier mitnähme.«
»Wie richten Sie es aber in den dünn bevölkerten ländlichen Bezirken ein?« fragte ich.
»Das System ist dasselbe,« erklärte Edith. »Die Probenlager in den Dörfern sind durch Leitungsrohren mit dem Centralwarenlager des Kreises verbunden, welches mehrere Meilen entfernt sein kann. Die Leitung ist jedoch so schnell, daß der Zeitverlust äußerst gering ist. Aber der Kostenersparnis wegen verbindet in manchen Kreisen nur eine solche Röhrenlinie mehrere Dörfer mit dem Warenlager, und dann tritt Zeitverlust ein, wenn das eine Dorf auf das andere warten muß. Manchmal dauert es zwei oder drei Stunden, bis man die bestellten Waren erhält. Dies geschah in dem Orte, wo ich mich im letzten Sommer aufhielt, und ich fand es sehr lästig.«Seit ich das obige geschrieben habe, ist mir mitgeteilt worden, daß dieser Mangel an Vollkommenheit im Versendungsbetriebe einiger Kreisbezirke beseitigt werden soll, und daß bald jedes Dorf seine eigene Röhrenlinie haben wird. »Die ländlichen Probenhäuser stehen ohne Zweifel auch in anderen Beziehungen hinter dem städtischen zurück?« fragte ich.
»Nein,« antwortete Edith, »sie sind im übrigen genau ebenso gut. Das Probenlager des kleinsten Dorfes bietet alle Artikel des Landes geradeso zur Auswahl, wie dieses; denn das ländliche Probenlager hat dieselbe Bezugsquelle wie das städtische.«
Als wir weitergingen, machte ich meine Bemerkungen über die große Verschiedenheit in der Größe und Kostbarkeit der Häuser. »Wie kann dieser Unterschied,« fragte ich, »mit der Thatsache vereinbar sein, daß alle Bürger das gleiche Einkommen haben?«
»Es liegt daran,« antwortete Edith, »daß, obwohl das Einkommen das gleiche ist, doch der persönliche Geschmack über dessen Verwendung entscheidet. Die einen lieben schöne Pferde, andere, wie ich, ziehen schöne Kleider vor; und noch andere wünschen eine wohlbesetzte Tafel. Die Miete, welche die Nation für diese Häuser erhält, ist je nach der Größe, Eleganz und Lage derselben verschieden, so daß jeder finden kann, was ihm genehm ist. Die größeren Häuser werden gewöhnlich von großen Familien bewohnt, von deren Gliedern mehrere zur Miete beitragen; während kleine Familien, wie die unsrige, kleinere Häuser bequemer und billiger finden. Es ist ganz und gar eine Sache des Geschmacks und der Bequemlichkeit. Ich habe gelesen, daß in alten Zeiten die Leute oft eine große Wohnung hatten und andere Ausgaben machten, ohne das Vermögen dazu zu besitzen, um andere glauben zu machen, sie seien reicher, als sie wirklich waren. Verhielt es sich in der That so, Herr West?«
»Ich muß es zugeben,« erwiderte ich.
»Nun, Sie sehen, heutzutage könnte das nicht vorkommen; denn eines jeden Einkommen ist bekannt und man weiß, daß, was in der einen Weise ausgegeben wird, in einer andern gespart werden muß.«