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Als ich mich zurückzog, begleitete mich Dr. Leete in mein Schlafzimmer, um mir, wie mir Edith versprochen hatte, die Einrichtung des Musiktelephons zu erklären. Er zeigte mir, wie man durch Drehen einer Schraube bewirken konnte, daß die Musik bald mit voller Macht den Raum erfüllte, bald zu einem so zarten und fernen Echo dahinstarb, daß man fast zweifeln konnte, ob man sie wirklich höre, oder sich dies nur einbilde. Wenn von zwei in dem nämlichen Zimmer ruhenden Personen, die eine der Musik lauschen, die andere schlafen wollte, so konnte es so eingerichtet werden, daß die Töne nur für die eine hörbar, von der anderen aber nicht vernommen wurden.
»Wenn Sie es können, so würde ich Ihnen sehr anraten, heute Nacht lieber zu schlafen, Herr West, als der besten Musik in der Welt zuzuhören,« sagte Dr. Leete, nachdem er mir jene Erklärung gegeben hatte. »Bei den aufregenden Erlebnissen, die Sie jetzt durchzumachen haben, ist der Schlaf ein geradezu unersetzliches Stärkungsmittel.«
Ich gedachte der Erfahrungen, die ich diesen Morgen gemacht hatte, und versprach seinem Rate Folge zu leisten.
»Gut,« sagte er, »dann werde ich das Telephon auf acht Uhr stellen.«
»Wie meinen Sie das?« fragte ich.
Er erklärte mir, wie man vermittelst eines Uhrwerkes es einrichten könne, zu irgend einer beliebigen Stunde durch Musik geweckt zu werden.
Jetzt begann sich herauszustellen, was sich auch in der Folge als völlig zutreffend bewährt hat, daß ich meine Neigung zur Schlaflosigkeit mit den anderen Unannehmlichkeiten des Lebens im neunzehnten Jahrhundert hinter mir zurückgelassen hatte. Ebenso wie die Nacht zuvor, versank ich, ohne ein Schlafmittel genommen zu haben, in Schlummer, sobald ich nur die Kissen berührt hatte.
Mir träumte, ich säße auf dem Throne der Abencerragen in der Banketthalle der Alhambra, wo ich ein Fest gab für meine Edelleute und Generale, die am nächsten Tage dem Halbmonde gegen die Christenhunde von Spanien folgen sollten. Die Luft wurde durch einen Springbrunnen abgekühlt und war von Blumenduft erfüllt. Eine Schar von Tänzerinnen mit runden Gliedern und rosigen Lippen tanzten mit entzückender Anmut zur Musik der Cymbeln und Saiteninstrumente. Wenn man zu der vergitterten Galerie aufblickte, fing man dann und wann einen Blitzstrahl auf vom Auge einer Schönen aus dem königlichen Harem, welche von dort herabsah, um die Blüte der maurischen Ritterschaft zu bewundern. Der Schall der Cymbeln ertönte lauter und lauter, wilder und wilder drehte sich der Reigen, bis das Blut der Wüstensöhne dem kriegerischen Fanatismus nicht länger widerstehen konnte und die gebräunten Helden von ihren Sitzen aufsprangen. Tausend Klingen flogen aus den Scheiden und der Ruf: »Allah il Allah!« dröhnte durch die Halle und weckte mich. Ich fand, daß es bereits heller Tag war, und daß durch mein Zimmer die elektrisierende Musik der türkischen Reveille erbrauste.
Beim Frühstück erzählte ich meinem Wirte die Erlebnisse dieses Morgens und erfuhr, es sei nicht bloßer Zufall gewesen, daß die Klänge, welche mich aufgeweckt hätten, gerade die einer Reveille gewesen seien. Die Melodien, die während der Morgenstunden in einer der Hallen gespielt würden, hätten stets einen belebenden und aufmunternden Charakter.
»Übrigens, da wir gerade von Spanien sprechen,« bemerkte ich, »fällt mir ein, daß ich Sie noch gar nicht gefragt habe, wie die Zustände sich in Europa gestaltet haben. Hat sich auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen der alten Welt die nämliche Wandlung vollzogen?«
»Gewiß,« erwiderte Dr. Leete. »Die großen Nationen Europas, sowie Australien, Mexiko und Teile von Südamerika sind jetzt industrielle Republiken wie die Vereinigten Staaten. Diese Letzteren hatten nur die Bahn für diese Entwicklung gebrochen. Die friedlichen Verhältnisse dieser Nationen zu einander sind durch die lockere Form einer bundesstaatlichen Vereinigung gesichert, welche die ganze Welt umschließt. Ein internationaler Rat regelt den Handel und Verkehr der Verbandsstaaten und die gemeinsamen Maßregeln, die den mehr zurückgebliebenen Rassen gegenüber angewendet werden, um sie nach und nach zu einer höheren Bildung zu erziehen. Innerhalb ihrer eigenen Grenzen erfreut sich jede Nation vollständiger Autonomie.«
»Wie betreiben Sie aber Handel ohne Geld?« fragte ich. »Wenn Sie auch bei den inneren Angelegenheiten der Nation ohne Geld fertig werden können, so muß doch irgend eine Art Geld vorhanden sein, wenn Sie mit einer anderen Nation Geschäfte treiben wollen?«
»O nein, Geld ist auch in diesem Verhältnis überflüssig. Solange der Handel zwischen fremden Staaten durch den Unternehmungsgeist von Privatpersonen betrieben wurde, war Geld notwendig, um die verschiedenen Verwicklungen auszugleichen; aber heutzutage ist der Handelsverkehr Sache der Nationen als Einheiten. Heute giebt es demnach nur etwa ein Dutzend Kaufleute in der Welt, und da ihr Geschäft von dem Bundesrat beaufsichtigt wird, so genügt ein einfaches Buchführungs- und Abrechnungssystem vollständig, um ihren Verkehr miteinander zu regeln. Es giebt natürlich keine Zölle. Eine Nation importiert nur solche Artikel, die deren Regierung als dem allgemeinen Interesse zuträglich anerkennt. Jede Nation besitzt ein Bureau, welches den Güteraustausch mit den fremden Nationen vermittelt. Wenn z. B. das amerikanische Bureau es für nötig hält, eine so und so große Quantität französischer Waren in einem gegebenen Jahre für Amerika zu beziehen, so sendet es eine Ordre an das französische Bureau, welches wiederum seine Aufträge dem unsrigen übermittelt. Dasselbe geschieht in gleicher Weise unter allen andern Nationen.« »Wie werden aber die Preise für fremde Waren festgestellt, da es doch keine Konkurrenz giebt?«
»Der Preis, um welchen die eine Nation der andern die bestellten Güter abläßt,« erwiderte Dr. Leete, »muß derselbe sein, den sie sich von den eignen Bürgern bezahlen läßt; dadurch wird jede Gefahr eines Mißverständnisses vermieden. In der Theorie ist keine Nation verpflichtet, die andere mit dem Produkte ihrer eigenen Arbeit zu versehen, dennoch aber liegt es im Interesse aller, die erforderlichen Güter untereinander auszutauschen. Wenn eine Nation eine andere regelmäßig mit gewissen Waren versorgt, so wird gegenseitig über jede eintretende Veränderung, die für diese geschäftlichen Beziehungen von Wichtigkeit sein könnte, Bericht erstattet.«
»Gesetzt aber, eine Nation hätte in Bezug auf ein Naturprodukt ein Monopol und würde sich weigern, andere Nationen, oder eine derselben, damit zu versehen?«
»Ein solcher Fall ist niemals vorgekommen und würde dem sich weigernden Teile weit mehr Schaden zufügen als dem anderen,« erwiderte Dr. Leete. »Dem Gesetze nach darf kein Vorzug gewährt werden, und jede Nation ist verpflichtet, mit den anderen in allen Beziehungen auf genau demselben Fuße zu Verkehren. Ein solches Verhalten, wie Sie es sich denken, würde die Nation, welche sich desselben schuldig machte, vollständig von dem Verkehr mit den übrigen Ländern der Erde ausschließen. Jene Möglichkeit ist also keine solche, daß wir uns ihretwegen große Sorge zu machen hätten.«
»Aber,« sagte ich, »wenn eine Nation, die hinsichtlich einer Gütergattung ein natürliches Monopol besitzt, mehr davon exportiert, als sie selbst verbraucht, und alsdann den Preis in die Höhe schraubt, um, ohne geradezu die Ausfuhr abzuschneiden, Nutzen aus der Not des Nachbarn zu ziehen, was geschieht dann? Die Bürger dieses Staates würden zwar dadurch einen höheren Preis für Güter dieser Art zahlen, als Gesamtheit aber würden sie nichtsdestoweniger einen Vorteil durch ihre Ausfuhr erzielen, der ihren Verlust reichlich aufwiegen würde.«
»Wenn Sie erst verstehen lernen,« antwortete Dr. Leete, »wie heute die Preise aller Güter festgestellt werden, so werden Sie leicht einsehen, wie unmöglich es ist, sie abzuändern, außer wegen einer Schwankung in der Zeitdauer und der Schwere der Arbeit, welche ihre Herstellung verlangt.« Dieses Prinzip enthält dieselbe Garantie für den internationalen wie für den nationalen Verkehr; aber selbst ohne dies ist das Gefühl für die Gemeinsamkeit der Interessen, mögen sie national oder international sein, sowie die Überzeugung, daß Selbstsucht eine Thorheit ist, zu tief bei uns eingewurzelt, als daß solch eine unredliche Handlungsweise, wie Sie befürchten, vorkommen könnte. Sie müssen wissen, daß wir alle eine schließliche Vereinigung sämtlicher Staaten der Welt zu einer einzigen Nation erwarten. Dies wird ohne Zweifel die letzte Form der Gesellschaft sein und wird gewisse Vorteile mit sich bringen, die dem gegenwärtigen System eines Bundes gleichberechtigter Staaten noch fehlen. In der Zwischenzeit jedoch befriedigen uns die gegenwärtigen Zustände so vollständig, daß wir es gern unseren Nachkommen überlassen, jenen Plan zu vollenden. Es giebt sogar einige, welche meinen, daß es dazu niemals kommen werde, weil die Form eines Staatenbundes nicht bloß eine provisorische Lösung des Problems der menschlichen Gesellschaft, sondern dessen beste und endgültige Lösung sei.«
»Was thun Sie aber dann,« fragte ich, »wenn in den Büchern zweier Nationen der Jahresabschluß kein Gleichgewicht der beiderseitigen Leistungen ergiebt? Gesetzt den Fall, wir importierten von Frankreich mehr, als wir dorthin exportierten.«
»Am Ende jedes Jahres,« sagte Dr. Leete, »werden die Bücher jeder Nation durchgesehen. Wenn Frankreich uns schuldet, so schulden wir vielleicht einer andern Nation, die ihrerseits an Frankreich schuldet, und in gleicher Weise geht es mit den übrigen Nationen. Der Unterschied, der übrig bleibt, nachdem die Rechnungen durch den internationalen Bundesrat zusammengestellt worden sind, ist niemals groß. Welches aber auch der Betrag sein möge, der Bundesrat verlangt, daß derselbe alle paar Jahre ausgeglichen wird, und er kann dessen Berichtigung zu jeder Zeit verlangen, wenn er zu groß wird; denn man wünscht nicht, daß die eine Nation allzusehr bei einer andern in Schuld gerät, damit das freundschaftliche Gefühl, welches zwischen ihnen herrschen soll, nicht geschädigt werde. Aus dem nämlichen Grunde überwacht der Bundesrat die Waren, die zwischen den Nationen ausgetauscht werden, und achtet darauf, daß deren Qualität eine vollkommene ist.«
»Womit aber werden denn die Überschüsse ausgeglichen, wenn doch kein Geld vorhanden ist?«
»In den nationalen Hauptprodukten der Länder. Man hat sich von vornherein darüber geeinigt, welche Produkte und in welchen Quantitäten solche an Zahlungsstatt angenommen werden müssen.«
»Wie verhält es sich mit der Auswanderung? Da eine jede Nation als geschlossene gewerbliche Gemeinschaft organisiert ist und alle Produktionsmittel monopolisiert hat, so müßte ein Einwanderer, selbst wenn es ihm erlaubt wäre zu landen, Hungers sterben. Es kann also, wie ich annehme, von Auswanderung heutzutage nicht mehr die Rede sein.«
»Im Gegenteil, wir haben eine fortwährende Auswanderung, worunter Sie ja wohl einen Umzug nach fremden Ländern zum Zwecke dauernder Niederlassung verstehen,« erwiderte Dr. Leete. »Alles ist hier durch eine einfache internationale Vereinbarung über die zu leistenden Entschädigungen geregelt. Wenn zum Beispiel ein Mann von einundzwanzig Jahren von England nach Amerika übersiedelt, so verliert England seine Ausgaben für dessen Unterhalt und Erziehung, während Amerika einen Arbeiter umsonst erhält. Amerika entschädigt alsdann natürlich England dafür. Dasselbe Prinzip findet überall entsprechende Anwendung. Wenn ein Mann nahe am Ende seiner Dienstzeit auswandert, so erhält das Land, welches ihn aufnimmt, die Entschädigung. Für arbeitsunfähige Personen muß die eigne Nation Sorge tragen, und die Einwanderung derselben wird nur dann gestattet, wenn deren eigne Nation ihnen den Unterhalt garantiert. Unter diesen Bedingungen bleibt das Recht eines jeden, jederzeit auszuwandern, unangetastet.«
»Wenn nun aber jemand nur eine Vergnügungs- oder Forschungsreise unternehmen will? Wie kann ein Fremder in einem Lande reisen, dessen Bewohner kein Geld in Zahlung nehmen und ihrerseits das notwendige zum Leben aus einer Grundlage gewinnen, an welcher jener keinen Anteil hat? Seine eigene Kreditkarte kann doch natürlich nicht in einem andern Lande gültig sein. Wie bezahlt er seine Reise?« »Eine amerikanische Kreditkarte,« erwiderte Dr. Leete, »ist jetzt in Europa gerade so gut, wie amerikanisches Gold es einst war, und zwar genau unter derselben Bedingung, nämlich der, daß sie in die übliche Münze des Landes, in welchem man gerade reist, umgewechselt wird. Ein Amerikaner, der Berlin besucht, bringt seine Kreditkarte zum Lokalbureau des Bundesrats und empfängt für denselben Betrag oder einen Teil desselben eine deutsche Kreditkarte, wofür jedoch die Vereinigten Staaten als Schuldner Deutschlands in den internationalen Büchern belastet werden.
»Herr West mochte vielleicht heute im »Elefanten« zu Mittag speisen,« sagte Edith, als wir den Frühstückstisch verließen.
»So nennen wir nämlich das Speisehaus unsers Bezirks,« erklärte mir ihr Vater. »Nicht nur wird all unser Kochen in den öffentlichen Küchen besorgt, wie ich Ihnen gestern Abend erzählte, sondern auch die Qualität der Mahlzeiten und die Bedienung ist viel mehr zufriedenstellend, wenn dieselben im Speisehause eingenommen werden. Frühstück und Abendbrot nimmt man zu Hause ein, da sie nicht der Mühe des Ausgehens wert sind. Mittags pflegt man außerhalb zu speisen. Seit Sie bei uns sind, haben wir es nicht gethan, da wir lieber warten wollten, bis Sie ein wenig besser mit unseren Sitten vertraut geworden sein würden. Was meinen Sie, wollen wir heute im Speisehause zu Mittag essen?«
Ich erwiderte, daß dies mir sehr erwünscht sein würde. Kurze Zeit darauf kam Edith lächelnd zu mir und sagte:
»Als ich gestern überlegte, wie ich Ihnen unser Haus gemütlich machen könnte, bis Sie sich an uns und unsere Sitten gewöhnt haben würden, kam mir ein Gedanke. Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie in die Gesellschaft einiger sehr netter Leute aus Ihrer eignen Zeit brachte, mit denen Sie sicherlich recht vertraut gewesen sind?«
Ich erwiderte ziemlich unbestimmt, daß es mir gewiß sehr angenehm sein würde, ich aber noch nicht recht sehen könne, wie sie dies anstellen wolle.
»Kommen Sie mit mir,« war ihre lachende Antwort, »und sehen Sie, ob ich nicht mein Wort halten werde.«
Meine Empfänglichkeit für Überraschungen war zwar durch die zahlreichen Anstöße, welche sie erlitten hatte, so ziemlich erschöpft; dennoch war ich in einer gewissen Spannung, als mich Edith in ein Zimmer führte, welches ich vorher noch nicht betreten hatte. Es war ein trauliches Stübchen, dessen Wände aus Bücherschränken bestanden.
»Hier sind Ihre Freunde,« sagte Edith, indem sie auf einen derselben deutete; und als ich meine Augen über die Namen auf den Rücken der Bände schweifen ließ: Shakespeare, Milton, Wordsworth, Shelley, Tennyson, Defoe, Dickens, Thackeray, Hugo, Hawthorne, Irving und eine Menge anderer großer Schriftsteller meiner und aller Zeiten, da verstand ich sie. Sie hatte wirklich Wort gehalten, und zwar in einer Weise, daß im Vergleich mit derselben die buchstäbliche Erfüllung ihres Versprechens mir eine Enttäuschung bereitet haben würde. Sie hatte mich in einen Kreis von Freunden eingeführt, welche durch das Jahrhundert, das verflossen war, seit ich mich zuletzt mit ihnen beschäftigt hatte, so wenig gealtert waren, wie ich selbst. Ihr Geist war noch gerade so erhaben, ihr Witz noch gerade so scharf, ihr Lachen und ihr Weinen so ansteckend wie damals, als ihre Worte den Menschen eines verflossenen Jahrhunderts die Stunden dahineilen machten. Einsam war ich nun nicht mehr und konnte in solch guter Gesellschaft auch fernerhin mich nicht mehr einsam fühlen, wie weit auch die Kluft sein mochte, die zwischen mir und meinem früheren Leben lag.
»Nicht wahr, es ist Ihnen lieb, daß ich Sie hierher gebracht habe?« rief Edith freudestrahlend aus, als sie in meinem Gesichte den Erfolg ihres Versuches las. »Nicht wahr, es war eine gute Idee, Herr West? Wie unüberlegt, daß ich nicht schon früher daran gedacht habe. Ich werde Sie nun mit Ihren alten Freunden allein lassen, denn ich weiß, daß es jetzt für Sie keine bessere Gesellschaft giebt als diese, aber denken Sie daran, daß Sie über den alten Freunden nicht Ihre neuen vergessen dürfen!«
So verwarnte sie mich lächelnd und ließ mich allein.
Ein Name, der mir von allen der vertrauteste war, hatte für mich besondere Anziehungskraft: ich nahm einen Band Dickens heraus, setzte mich und begann zu lesen. Dickens war von jeher mein Lieblingsdichter unter den Schriftstellern des Jahrhunderts gewesen, – ich meine des neunzehnten Jahrhunderts, – und selten war eine Woche in meinem Leben vergangen, ohne daß ich irgend einen Band seiner Werke hervorgesucht und damit eine müßige Stunde vertrieben hatte. Jedes beliebige Werk, mit dem ich früher bekannt gewesen war, würde unter den gegenwärtigen Umständen einen außerordentlichen Eindruck auf mich gemacht haben; aber meine ganz besondere Vertrautheit mit Dickens und die daraus hervorgehende Gewalt, mit der er die früheren Erinnerungen meines Lebens wach rief, bewirkten, daß seine Schriften mich mehr erschütterten, als es die irgend eines andern Dichters vermocht hätten: denn durch die Macht des Kontrastes verstärkten sie in hohem Grade meine Empfänglichkeit für das Fremdartige meiner gegenwärtigen Lage. So neu und erstaunlich auch die Umgebung einer Person sein möge, so neigt diese doch schon so bald dahin, sich als einen Teil derselben zu fühlen, daß fast gleich zu Anfang das Vermögen, sie objektiv zu betrachten und ihre Fremdartigkeit völlig zu ermessen, verloren wird. Dieses Vermögen war in meinem Falle schon etwas abgeschwächt worden; aber als ich Dickens durchblätterte, da wurde es wieder frisch: denn durch die Gedanken, welche seine Schilderungen in mir hervorriefen, wurde ich auf den Standpunkt zurückgeführt, den ich in meinem früheren Leben eingenommen hatte. Mit einer Klarheit, die ich früher nicht hatte erlangen können, sah ich nun die Vergangenheit und die Gegenwart wie Kontrastbilder nebeneinander.
Das Genie des großen Romanschriftstellers des neunzehnten Jahrhunderts kann in der That, wie das Homers, der Zeit Trotz bieten; aber der Gegenstand seiner ergreifenden Erzählungen, das Elend der Armen, die Ungerechtigkeiten der Mächtigen, die mitleidslose Grausamkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen, – das alles war von der Erde so vollständig verschwunden, wie Circe und die Sirenen, Charybdis und die Cyclopen.
Während der ein oder zwei Stunden, die ich so dasaß, mit dem offnen Buche vor mir, hatte ich in der That nicht mehr als ein paar Seiten gelesen. Jeder Absatz, jede Zeile eröffnete mir einen neuen Ausblick auf die Weltumwandlung, welche stattgefunden hatte, und führte meine Gedanken auf weite und vielverzweigte Abwege. Während ich in solcherweise in Dr. Leetes Bibliothek in tiefes Grübeln versunken war, erlangte ich allmählich einen klareren und zusammenhängenderen Begriff von dem eigenartigen Schauspiel, welches zu sehen mir in so wunderbarer Weise ermöglicht worden war; und mächtig wuchs meine Verwunderung über die anscheinende Launenhaftigkeit des Schicksals, welches einem, der es so wenig verdiente oder irgendwie dazu bestimmt zu sein schien, allein unter seinen Zeitgenossen das Vermögen verliehen hatte, in diesen späten Zeiten auf Erden zu weilen. Ich hatte weder diese neue Welt vorausgesehen, noch für sie gearbeitet, wie es so viele in meiner Umgebung gethan hatten, ohne sich um den Spott der Narren oder die Mißdeutung der Guten zu kümmern. Sicherlich würde es angemessener erschienen sein, wenn eine jener prophetischen und tapferen Seelen befähigt worden wäre, den Erfolg ihrer Mühen zu sehen und sich an demselben zu erfreuen.
Als Dr. Leete mich einige Stunden später aufsuchte, fand er mich noch in der Bibliothek. »Edith,« sagte er, »erzählte mir von ihrem Einfall und ich hielt ihn für vortrefflich. Ich war ein wenig neugierig zu sehen, welchen Schriftsteller Sie sich zuerst zuwenden würden. Ah, Dickens! Also Sie sind auch einer seiner Bewunderer? In diesem Punkte stimmen wir Neuen mit Ihnen überein. Nach unserem Maßstabe gemessen, überragt er alle Schriftsteller seiner Zeit, nicht, weil sein Genie glänzender war, sondern weil sein großes Herz für die Armen schlug, weil er die Sache der Opfer der Gesellschaft zu der seinigen machte und seine Feder der Aufgabe widmete, ihre Grausamkeit und ihren Trug bloßzustellen. Kein Mann seiner Zeit hat so viel gethan wie er, das Nachdenken der Menschen auf das Unrecht und das Elend der alten Ordnung der Dinge zu richten und ihre Augen der Notwendigkeit der kommenden großen Umwandlung zu öffnen, obwohl er selbst sie nicht klar voraussah.«