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Während des Vormittages fing es heftig zu regnen an und ich hatte gedacht, daß der Zustand der Straßen ein derartiger sein werde, daß meine Wirte den Plan, das Mittagsmahl auswärts einzunehmen, würden aufgeben müssen, obgleich unsere Speisehalle, wie ich erfahren hatte, sehr nahe lag. Ich war daher nicht wenig erstaunt, als zur Mittagsstunde die Damen fertig zum Ausgehen erschienen, jedoch ohne Überschuhe und Regenschirme. Das Rätsel löste sich mir, als wir auf die Straße traten. Ein fortlaufendes, wasserdichtes Dach war über das ganze Trottoir niedergelassen worden und verwandelte dieses in einen gut erleuchteten und vollkommen trockenen Korridor, auf welchem sich ein Strom von Damen und Herren, alle zum Mittagessen festlich gekleidet, dahin bewegte. An den Ecken führten leichtgebaute, ähnlich überdachte Brücken über die Straßen. Edith Leete ging neben mir und es schien sie zu interessieren und ihr völlig neu zu sein, als ich ihr sagte, daß die Straßen Bostons zu meiner Zeit in schlechtem Wetter überhaupt unpassierbar gewesen seien, es sei denn für diejenigen, die sich mit Regenschirmen, Gummischuhen oder wasserdichter Kleidung versehen hatten.
»Gab es denn gar keine Bedachungen für die Trottoirs?« fragte sie.
»Es gab solche,« antwortete ich, »aber da diese nur Privatunternehmungen waren, so kamen sie nur sehr vereinzelt und unvollkommen vor.«
Sie erzählte mir, daß gegenwärtig alle Straßen in der nämlichen Weise, wie ich es hier sähe, gegen ungünstiges Wetter geschützt wären, und daß die Vorrichtung aufgerollt würde, wenn sie nicht mehr nötig wäre. Sie meinte, daß man es jetzt für sehr thöricht ansehen würde, wollte man dem Wetter irgend einen Einfluß auf die gesellschaftlichen Unternehmungen der Menschen gestatten. Dr. Leete, der ein wenig vorausgegangen war und etwas von unserm Gespräch gehört hatte, wandte sich um und sagte, der Unterschied zwischen dem Zeitalter des Individualismus und dem des Zusammenwirkens werde sehr gut durch diese Thatsache gekennzeichnet, daß im neunzehnten Jahrhunderte, wenn es regnete, die Bewohner Bostons dreihunderttausend Regenschirme über ebensoviel Köpfen aufspannten, während man im zwanzigsten Jahrhundert nur einen einzigen Regenschirm über allen diesen Köpfen ausbreite.
Als wir weitergingen, sagte Edith: »Der Privatregenschirm ist meines Vaters Lieblingsbild, wenn er die alte Weise, in der ein jeder nur für sich und seine Familie lebte, illustrieren will. In unserer Kunstgalerie befindet sich ein Bild aus dem neunzehnten Jahrhundert, welches eine Menschenmenge im Regen vorstellt. Ein jeder hält seinen Regenschirm über sich und seine Frau und giebt seinem Nachbar die Traufe. Mein Vater meint, der Künstler habe es als eine Satire auf sein Zeitalter gemalt.«
Wir betraten nun ein großes Gebäude, in das sich ein Strom von Menschen ergoß. Ich konnte die Fassade des Schutzdaches wegen nicht sehen, aber wenn sie der Ausstattung des Inneren glich, das noch viel schöner war als der Bazar, welchen wir am Tage zuvor besucht hatten, so mußte sie prachtvoll sein. Meine Gefährtin bemerkte, daß die gemeißelte Gruppe über dem Eingange ganz besonders bewundert werde. Wir stiegen eine großartige Treppe hinauf und gingen einen breiten Korridor entlang, in welchen viele Thüren mündeten. Eine derselben trug meines Wirtes Namen, wir traten ein, und befanden uns in einem elegant ausgestatteten Speisezimmer, das einen für vier Personen gedeckten Tisch enthielt. Die Fenster gingen auf einen Hof, in dem ein Springbrunnen seinen Strahl hoch in die Luft sandte, während Musik die Luft elektrisierte.
»Sie scheinen hier zu Haus zu sein,« sagte ich, als wir uns zu Tische setzten, und Dr. Leete eine Klingel berührte.
»Wir sind hier in der That in einem Teile unseres Hauses,« antwortete er, »wenn auch in einem etwas abgesonderten. Jede Familie des Bezirks hat für einen geringen jährlichen Zins ein Zimmer in diesem großen Gebäude für ihren ausschließlichen Gebrauch zur Verfügung. Um Reisende und einzelne Personen zu bedienen, sind in einem anderen Stockwerke die nötigen Einrichtungen getroffen. Wenn wir hier zu speisen wünschen, so machen wir unsere Bestellung am Abend vorher und wählen dabei auf Grund des täglich in den Zeitungen enthaltenen Verzeichnisses irgend etwas von dem, was zu haben ist. Die Mahlzeit kann so üppig oder so einfach sein, wie wir sie nur wünschen, aber natürlich ist alles bei weitem billiger und besser, als wenn es zu Hause zugerichtet worden wäre. Es giebt wirklich nichts, was unsere Leute mehr interessierte, als die Vervollkommnung ihrer Küche; und ich gestehe zu, daß wir ein wenig eitel auf den Erfolg sind, den dieser Zweig unseres Dienstes erreicht hat. Mein lieber Herr West, obwohl manche andere Seiten Ihrer Civilisation tragischer waren, so kann ich mir doch nicht denken, daß irgendeine niederschlagender war, als die elenden Mahlzeiten, welche Sie zu essen hatten, ich meine alle diejenigen, welche nicht sehr reich waren.«
»Sie würden niemanden unter uns gefunden haben,« sagte ich, »der Ihnen in diesem Punkte widersprochen hätte.«
Der Kellner, ein hübscher junger Mann, der eine nur sehr wenig von der gewöhnlichen Kleidung abweichende Uniform trug, trat jetzt ein. Ich beobachtete ihn genau, da es das erste Mal war, daß ich das Benehmen eines aktiven Mitgliedes der industriellen Armee studieren konnte. Dieser junge Mann mußte nach allem, was man mir gesagt hatte, hochgebildet sein und in jeder Hinsicht denen vollkommen gleichstehen, welche er jetzt bediente. Es war jedoch augenscheinlich, daß die Lage weder den einen noch den anderen Teil im geringsten in Verlegenheit setzte. Dr. Leete redete den jungen Mann in einem Tone an, der, wie es bei einem gebildeten Manne selbstverständlich ist, weder Überhebung noch Herablassung kund gab, während das Benehmen des jungen Mannes einfach das eines Menschen war, der sich bemüht, ein Geschäft, für welches er angestellt ist, pünktlich zu besorgen, ohne jede Vertraulichkeit oder Unterwürfigkeit. Es war in der That das Betragen eines Soldaten auf seinem Posten, jedoch ohne die militärische Steifheit.
Als der junge Mann das Zimmer verlassen hatte, sagte ich: »Ich muß mich immer wieder wundern, solch' einen jungen Mann so zufrieden in der Stellung eines Dienstboten zu sehen.«
»Was ist das für ein Wort: ›Dienstbote‹?« sagte Edith. »Ich habe es nie gehört.«
»Es ist jetzt veraltet,« bemerkte ihr Vater. »Wenn ich es recht verstehe, so bezog es sich auf diejenigen Personen, welche Arbeiten für andere vollführten, die diesen ganz besonders unangenehm und widerwärtig erschienen und deshalb etwas Verächtliches in sich trugen. Nicht wahr, Herr West?«
»So ist es ungefähr,« sagte ich. »Persönliche Dienste, wie bei Tische aufwarten, galt als Gesindedienst und wurde zu meiner Zeit als so herabwürdigend betrachtet, daß gebildete Leute eher jedes Ungemach erduldet haben würden, als sich dazu zu erniedrigen.«
»Welch merkwürdig verkünstelte Idee,« rief Frau Lette verwundert aus.
»Aber diese Dienste mußten doch geleistet werden,« sagte Edith.
»Natürlich,« erwiderte ich. »Aber wir legten sie den Armen auf oder denjenigen, die sonst keine andere Wahl hatten, als Hungers zu sterben.«
»Und vergrößerten die Last, die Sie ihnen auferlegten, noch dadurch, daß Sie Ihre Verachtung hinzufügten,« bemerkte Dr. Lette.
»Ich kann mir nicht denken, daß ich Sie recht verstehe,« sagte Edith. »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie es zuließen, daß Menschen Ihnen Dienste leisteten, wegen deren sie dieselben verachteten, oder daß Sie Dienste von ihnen annahmen, die Sie ihnen nicht in der gleichen Weise hätten erwidern wollen? Das können Sie doch nicht gemeint haben, Herr West?«
Ich mußte zugestehen, daß dies in der That der Fall gewesen sei. Dr. Lette jedoch kam mir zu Hilfe.
»Um Ediths Erstaunen zu begreifen,« sagte er, »müssen Sie wissen, daß es gegen unsere moralischen Grundsätze ist, von einem andern einen Dienst anzunehmen, den man nicht, wenn es nötig wäre, in der nämlichen Art erwidern würde. Das wäre ebenso, als wenn man borgen wollte mit der Absicht, seine Schuld niemals zu bezahlen; während das Unterfangen, einen solchen Dienst zu erzwingen, indem man die Armut oder Not einer Person ausnutzt, eine Ausschreitung wie der Raub sein würde. Das schlimmste bei jedem System, welches die Menschen in Klassen oder Kasten einteilt oder eine solche Einteilung zuläßt, ist dies, daß es das Gefühl des gemeinsamen Menschentums schwächt. Die ungleiche Verteilung des Reichtums und noch viel wirksamer die ungleiche Gelegenheit, Erziehung und Bildung zu erlangen, zerriß die Gesellschaft zu Ihrer Zeit in Klassen, welche einander in vielen Beziehungen als verschiedene Rassen betrachteten. Im Grunde besteht hinsichtlich der gegenseitigen Dienstleistungen zwischen unseren und Ihren Vorstellungen gar kein solcher Unterschied, wie es zunächst scheinen könnte. Die Damen und Herren der gebildeten Klassen Ihrer Zeit würden eben so wenig von Personen ihrer eigenen Klasse sich haben Dienste erweisen lassen, die sie zu erwidern verschmähen würden, als wir dies thun. Auf die Armen und Ungebildeten jedoch blickten sie herab, als wären sie eine andere Klasse von Wesen. Der gleiche Reichtum und der gleiche Bildungsgrad, deren sich jetzt alle erfreuen, haben uns einfach alle zu Mitgliedern einer Klasse gemacht, die der am meisten begünstigten Klasse Ihrer Zeit entspricht. Bevor nicht diese Gleichheit der Lebensbedingungen herbeigeführt war, konnte die Vorstellung der Solidarität und Verbrüderung aller Menschen niemals die wirkliche Überzeugung und der praktische Grundsatz des Handelns werden, wie sie es heute ist. Zu Ihrer Zeit wurden in der That dieselben Ausdrücke gebraucht, aber sie waren nur Phrasen.«
»Wird man Kellner auch infolge freiwilliger Wahl dieses Berufes?«
»Nein,« antwortete Dr. Leete. »Die Kellner sind junge Leute aus derjenigen Abteilung des Arbeiterheeres, welche noch nicht einer bestimmten Berufsklasse zugeteilt ist. Den Angehörigen dieser Abteilung werden alle möglichen Arbeitsleistungen zugewiesen, für die es einer besonderen technischen Fertigkeit nicht bedarf. Tischbedienung ist eine dieser Arbeiten, und jeder Rekrut muß eine Zeitlang als Kellner dienen. Ich selbst wartete vor ungefähr vierzig Jahren einige Monate in diesem selben Speisehause auf. Sie müssen wiederum daran denken, daß kein Unterschied der Würde in den von der Nation verlangten Arbeiten anerkannt wird. Ein Mann, der andere bedient, betrachtet weder sich selbst als deren persönlichen Diener, noch wird er von anderen als solcher angesehen; auch ist er in keiner Weise von ihnen abhängig. Es ist immer die Nation, der er dient. Kein Unterschied wird anerkannt zwischen den Leistungen eines Kellners und denen irgend eines anderen Arbeiters. Die Thatsache, daß es ein Dienst ist, der von Person zu Person geleistet wird, ist von unserem Gesichtspunkte aus gleichgültig. Beim Arzte ist der Fall der nämliche. Ich würde ebenso gut erwarten, daß unser heutiger Kellner auf mich herabblicken werde, weil ich ihm als Arzt diente, als daran denken, auf ihn herabzublicken, weil er mir die Dienste eines Kellners leistet.«
Nach der Mahlzeit führten mich meine Wirte durch das Gebäude, dessen Ausdehnung, prächtige Architektur und reiche Ausstattung mich in Erstaunen setzten. Es schien nicht bloß eine Speisehalle zu sein, sondern auch ein großes Vergnügungshaus und der gesellige Sammelpunkt für den Bezirk, und keine Einrichtung, die zur Unterhaltung oder Erholung beitragen konnte, fehlte.
Als ich meine Bewunderung ausdrückte, sagte Dr. Leete: »Sie finden hier erläutert, was ich Ihnen bei unserer ersten Unterhaltung sagte, als Sie über die Stadt blickten: in Bezug auf die Pracht unseres öffentlichen und gemeinsamen, im Vergleiche mit der Einfachheit unseres privaten, häuslichen Lebens steht unser zwanzigstes Jahrhundert zu dem neunzehnten in einem großen Gegensatze. Um uns unnütze Lasten zu ersparen, haben wir zu Haus so wenige Gerätschaften um uns, als sich mit unserer Behaglichkeit verträgt; unser geselliges Leben aber hat einen Schmuck und einen Luxus, wie die Welt nie ähnliches zuvor gesehen hat. Alle gewerblichen und anderweitigen Berufsgenossenschaften haben Klubhäuser in einem Umfange wie dieses, und ebenso Häuser auf dem Lande, in den Bergen und an der Seeküste, um sich dort während der Ferien zu erholen.«
Anmerkung. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam es an einigen Universitäten der Vereinigten Staaten häufig vor, daß arme Studenten während der langen Sommerferien in den Hotels Stellungen als Kellner annahmen, um die Mittel zu ihrem Studium zu erwerben. Denjenigen gegenüber, welche, den Vorurteilen der Zeit entsprechend, behaupteten, daß Personen, welche freiwillig eine solche Beschäftigung übernähmen, keine Gentlemen sein könnten, ward geltend gemacht, daß sie Lob verdienten, weil sie durch ihr Beispiel die Würde jeder ehrlichen und notwendigen Arbeit verteidigten. Die Benutzung dieses Arguments ist eine Illustration zu einer gewissen Gedankenverwirrung, die unter meinen früheren Zeitgenossen herrschte. Das Geschäft, bei Tische aufzuwarten, bedurfte eben so wenig der Verteidigung, wie die meisten anderen Beschäftigungen, durch welche man damals seinen Lebensunterhalt gewann; aber unter dem damals herrschenden System von einer Würde der Arbeit zu reden, war verkehrt. Seine Arbeit für den höchsten Preis verkaufen, den man dafür erlangen kann, ist nicht mehr würdevoll, als Waren für den höchsten Preis verkaufen. Beides waren Handelsangelegenheiten, die vom Geschäftsstandpunkte aus zu beurteilen waren. Indem der Arbeiter für seinen Dienst einen Geldpreis forderte, nahm er das Geld als den Maßstab dafür an und verzichtete auf jede Berechtigung, nach einem andern beurteilt zu werden. Den Schmutzfleck, welchen diese Notwendigkeit selbst den höchsten und edelsten Formen des Dienstes mitteilte, empfanden die feineren Seelen schmerzlich; aber man konnte ihm nicht ausweichen. Wie erhaben auch die Art des Dienstes war, die Notwendigkeit, um seinen Marktpreis zu feilschen, hatte keine Ausnahme. Der Arzt mußte sein Heilen und der Apostel seine Predigten verkaufen. Der Prophet, welcher den Willen Gottes geahnt hatte, mußte um den Preis der Offenbarung schachern, und der Dichter mit seinen Gedanken auf dem Büchermarkte hausieren. Wenn ich das Glück nennen sollte, durch welches sich dieses Zeitalter von dem, in welchem ich geboren bin, am meisten unterscheidet, so würde ich sagen, daß es mir in der Würde zu bestehen scheine, welche man der Arbeit jetzt dadurch gegeben hat, daß man sich weigert, einen Preis auf sie zu setzen, und daß man sie so dem Markte für immer entzieht. Indem man von jedem sein Bestes verlangt, hat man Gott zu seinem Aufseher bestellt, und indem man die Ehre zum einzigen Lohn für jedes tüchtige Werk gemacht, hat man allen Dienstleistungen jene Auszeichnung mitgeteilt, welche zu meiner Zeit denen des Soldaten eigentümlich war.