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[7.]

Ich drückte ihn in seinen Sessel nieder.

Von der Anstrengung, die ihm das Aufstehen gemacht hatte, erschöpft, fiel er in das Kissen zurück.

Unwillkürlich sagte ich mir, daß Doktor Aunsett einen großen Fehler gemacht haben müsse, daß er einem solchen Patienten eine so weite Reise erlauben konnte.

Florence hatte sich neben ihn gestellt.

»Florence,« sagte er zu ihr, »Du mußt so gütig sein und hinausgehen. Ich habe mit Alick unter vier Augen zu sprechen.«

»Ach, lieber Papa, laß mich doch hier bleiben.«

»Geh hinaus, Mädchen,« rief er, ungeduldig werdend.

Als er jedoch sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, änderte er den Ton seiner Stimme und sprach mit größerer Zärtlichkeit zu ihr:

»Du mußt uns allein lassen, liebes Kind. Was ich Alick zu sagen habe, darf er nur ganz allein hören.«

Ich begleitete sie noch bis zur Tür und sie flüsterte mir zu:

»Ach, Alick! Alick! Er ist so furchtbar leidend. Du glaubst doch etwa nicht, daß er jetzt sterben wird?«

»Nein, nein, lieber Schatz. Vergiß nicht, daß Doktor Aunsett gesagt hat, daß wir seinem Willen nachgeben müssen.

Wir müssen also tun, was er sagt. Alles wird noch gut werden.«

Sie verließ das Zimmer, in dem wir jetzt allein waren.

Herr Furst goß sich aus einer Flasche, die auf einem Tische neben seinem Sessel stand, ein Glas Kognak ein und trank es aus.

»Alick! Ich will Dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen, das ich bisher vor der ganzen Welt verborgen gehalten habe.

Ich würde es noch länger Geheimnis bleiben lassen, wenn ich nicht wüßte, daß bereits die Hand des Todes auf mir ruht. Ich werde bald sterben, und nach meinem Tode fällt Dir die Pflicht zu, Wächter meines Geheimnisses zu sein.

Gern würde ich es mit ins Grab nehmen, ich muß es aber offenbaren, um dadurch das Leben anderer zu retten. Du wirst mein Schwiegersohn werden.

In London habe ich kurz vor meiner Krankheit mein Testament gemacht, und aus demselben wirst Du ersehen, daß ich Dich darin wie einen Sohn, ja wie einen einzigen Sohn bedacht habe.«

»Aber Robert – Herr Furst, Robert ist doch Ihr Sohn. Ihn haben Sie doch etwa nicht vergessen?«

»Der arme Kerl! Nein, vergessen habe ich ihn nicht. Aber höre, was ich Dir sagen will.

Ich weiß, Du bist ein Ehrenmann, und ich brauche Dich daher nicht erst zu bitten, mein Vertrauen nicht zu mißbrauchen.

Ich verlange auch nicht von Dir, daß Du mir feierlich versprechen sollst, mir zu helfen. Du liebst Florence, und um ihretwillen, wenn nicht um meinetwillen, wirst Du mir beistehen.«

Ich drückte ihm stumm die Hand.

»Erinnerst Du Dich noch, Alick, als wir das vorige Mal in diesem Hotel wohnten? Du hast doch nicht den Tod des Kreolen vergessen?«

»Nein, Herr Furst, ich habe ihn noch nicht vergessen; ich bitte Sie aber, davon nicht weiter zu sprechen. Die Erinnerung regt Sie zu sehr auf.«

»Pst. Ich weiß, was Du sagen willst. Auch Du glaubst, weil mich die Krankheit übermannt hat, daß mein Gehirn nicht mehr richtig funktioniert, daß mein Geist getrübt ist, mit einem Wort, daß ich verrückt bin.«

»Nein, nein,« stammelte ich.

»Und ich sage Dir, ja – ja! Du täuschst Dich aber, Alick.

Und der beste Beweis, daß Du Dich täuschst, ist der Umstand, daß ich hier auf Anordnung von Doktor Aunsett Dir Aug' in Aug' gegenübersitze, um eine Angelegenheit mit Dir zu besprechen, von der Du mit Recht behauptest, daß sie mich aufregt. Hast Du vom Doktor Nachricht gehabt?«

»Ja,« antwortete ich. »Ich hatte ein Telegramm von ihm, in dem er aber nichts von Ihrer Reise nach Monte Carlo erwähnte.«

»Das war klug von ihm. Er wußte, daß das, was ich Dir zu sagen habe, sich nicht schreiben läßt. Du hattest London in der Absicht verlassen, das Rätsel, in das der Tod des Kreolen gehüllt ist, aufzuklären und seinen Mörder ausfindig zu machen, und zwar wolltest Du das in meinem Interesse tun.

Und auf einmal heißt Dich Doktor Aunsett die Hand davon und das Rätsel ohne Lösung zu lassen. Kannst Du Dir den Grund nicht denken?«

Ich antwortete ihm nicht, denn ich wagte es nicht, ihm meine Gedanken zu offenbaren.

Er war ein Sterbender, und die Todesstrafe hatte ihn bereits für sich in Anspruch genommen.

»Dann will ich es Dir sagen. Doktor Aunsett verbot es Dir, die Nachforschungen fortzusetzen, weil sie doch zu nichts geführt hätten.

Doktor Aunsett kennt den Namen des Mörders. Ich habe ihn ihm gesagt.«

Erschreckt fuhr ich zurück.

Ich hatte das zwar zu hören erwartet, als ich mich aber einem Mörder, der sich selbst angegeben hatte, gegenüber sah, packte mich das Entsetzen und es überlief mich kalt.

Mit traurigen Blicken sah er mich an, dann aber malte sich auf seinen Zügen Ueberraschung, die aber bald einer tiefen Traurigkeit Platz machte.

»Ah, ich kann Deine Gedanken lesen, aber auch jetzt täuschest Du Dich.

Fast – möchte – ich – jedoch – wünschen, daß Du recht hättest. Denn dann würde das Geheimnis mit mir sterben. Leider, leider kann das aber nicht sein.

Nein, lieber Alick, ich bin kein Mörder. Mein Leben war der Aufgabe gewidmet, Menschen zu retten, aber nicht zu morden.

Muß ich denn noch deutlicher werden? Kannst Du mich denn noch immer nicht verstehen?«

Nein, ich wußte nicht, was ich denken sollte.

Plötzlich aber wurde es in meinem Geiste Licht.

»Ihr Sohn!« schrie ich auf.

»Pst, pst,« flüsterte mir Herr Furst erschreckt zu. »Die Wände haben Ohren.

Ja, lieber Alick! Der arme Bursche kennt seine schreckliche Lage gar nicht. Er weiß nichts von diesen fürchterlichen Ausbrüchen.

Er führt ein Doppelleben. Du hast ihn als einen durchaus gutmütigen jungen Mann kennen gelernt, der niemand unrecht tun kann; ich aber habe in ihm einen Tollwütigen gesehen, der nach dem Blute eines Opfers lechzt.«

Und dann erzählte er mir, wie er von jener Zeit an diese Anfälle bei Robert wahrgenommen hatte, in der er aus den Kinderjahren in die Knabenjahre überging.

In Neuseeland war Robert mit einem Knaben befreundet gewesen, in dessen Adern gemischtes Blut floß, und trotz der Freundschaft hätte er ihn beinahe ermordet.

Sein Vater kam gerade dazu, wie er den Hals des Mischlings mit seinen Händen umklammert hielt und ihn erwürgen wollte.

Herr Furst hatte sie auseinandergerissen, und da Robert vollständig außer sich und nicht bei Sinnen zu sein schien, so hatte er von einer Bestrafung vorläufig Abstand genommen.

Am folgenden Morgen war Robert unbefangen beim Frühstück erschienen, und er hatte von dem Vorfall des vergangenen Tages, der um ein Haar so blutig geendet hätte, nicht die geringste Ahnung.

In einem zweiten Falle hatte Herr Furst dieselbe Entdeckung gemacht. Ein paar Jahre später hatte Robert wiederum einen Farbigen angefallen, und wiederum hatte der Vater, der jetzt auf der Hut war, das Opfer vom Tode gerettet.

Inkognito konsultierte Herr Furst sodann einen Arzt in einer von seiner Heimat weit entfernten Stadt.

Dieser Herr empfahl ihm, seinen Sohn in eine Anstalt zu geben. Von seinem einzigen Sohne vermochte sich indessen der Vater nicht zu trennen, und er hoffte, wenn er ihn unter strenger Aufsicht hielte, Ausschreitungen verhüten zu können, wenn der Unglückliche von seinem Wahne gepackt würde.

Später ereignete sich ein furchtbarer Mord in einem Hotel zu Basel.

Der Täter wurde nicht entdeckt, aus der Art aber, wie das Verbrechen vollbracht worden war, wußte Herr Furst nur zu gut, wer der Mörder war.

Einen Kreolen hatte man in seinem Bette erwürgt gefunden, und das rechte Ohr war ihm vollständig abgerissen worden.

Jetzt geriet Herr Furst in Angst, und er mußte sich sagen, daß, wenn er jetzt Vorbeugungsmaßregeln traf, diese auf Robert als den Mörder hinweisen müßten.

Um seines Sohnes Sicherheit willen unternahm Herr Furst nichts. Wollte er ihn aber vor dem Gefängnis oder noch schlimmer, vor dem Schafott bewahren, so durfte er nicht mehr länger zögern, ihn einer Irrenanstalt zu übergeben.

Und schließlich kam noch der rätselhafte Todesfall in Monte Carlo hinzu. Und wiederum schwebte der arme Vater in Todesangst, weil er fürchten mußte, man könnte seinen unglücklichen Sohn des Verbrechens überführen.

»Du wirst Dich noch erinnern, Alick, in welche Aufregung ich geriet, als ich erfuhr, daß Bob wiederum »gebummelt« hatte.

Nicht, daß ich nicht wüßte, daß junge Leute eben junge Leute sind, nein, in diesem »Bummeln« sah ich die echten Symptome des herannahenden Anfalls. Der Mord blieb ja unentdeckt, einen gab es indessen, der die Wahrheit vermutete; es war der Doktor Atterbutt.«

»Sie meinen den Menschen, der sich Doktor Atterbutt nannte.«

»Hieß er nicht so? Dieser Herr kam also zu mir und drohte mir. Er behauptete, ich selbst wäre der Mörder und müsse den Mord in einem unbewußten Zustande begangen haben. Er erbot sich, reinen Mund zu halten und wollte sogar als eine Art Begleiter oder Wärter stets um mich sein; ich sollte ihm dafür aber eine so bedeutende Summe zahlen, die mich reichen Mann vollständig zu Grunde gerichtet hätte. Die Aufregung warf mich aufs Krankenbett, und als ich einigermaßen wieder hergestellt war, erzählte ich Doktor Aunsett alles. Er meinte, es wäre da nur eins zu tun – nämlich Dir alles zu erzählen, wie ich es ihm erzählt habe. Und jetzt weißt Du alles.«

Erschöpft fiel Herr Furst in sein Kissen zurück. Seine Kräfte, die ihn wohl während der peinlichen Unterredung aufrecht erhalten hatten, ließen jetzt nach, und er war so schwach wie ein kleines Kind. Nach einer kleinen Pause richtete er seine Augen auf mich und fragte:

»Was sollen wir jetzt tun?«

Inzwischen hatte auch ich meine Fassung wiedergewonnen. Da ich in meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt manch rührende und schreckliche Geschichte von Verbrechen kennen gelernt hatte, so machte diese ergreifende Erzählung auf mich nicht den Eindruck, den sie wohl bei jemand, der nicht so sehr in den »Nachtseiten des menschlichen Lebens« bewandert ist, hervorgerufen haben würde. Mein Beruf kam mir hier zu statten; der Schwiegersohn machte dem Advokaten Platz.

»Zweierlei haben wir in Erwägung zu ziehen, Herr Furst – die Gegenwart und die Zukunft. Die Vergangenheit ist tot, und wir wollen sie begraben sein lassen. Denken wir nicht mehr daran.«

Er nickte zustimmend und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Was die Gegenwart anbetrifft, so müssen wir Bob, den armen Jungen, vor jeder Gefahr zu sichern suchen, und in der Zukunft darf er keine Gelegenheit mehr finden, anderen Schaden zuzufügen und sein eigenes Leben dabei aufs Spiel zu setzen.«

»Du wirst Dich nicht von ihm trennen, Du wirst ihn nicht in ein Irrenhaus einsperren lassen?«

»Nein, nein, ich will hoffen, daß das nicht notwendig werden wird. Ich glaube vielmehr, daß, wenn man einen geeigneten Wärter für ihn beschafft, er weiteres Unheil nicht wird anrichten können. Es mag aber auch sein – es ist dies nur meine Meinung, und ich bin hierin auch nur Laie –, es mag aber auch sein, daß diese Anfälle sich in Zukunft immer häufiger wiederholen werden, und dann wird man allerdings überlegen müssen, ob er sich nicht in einer Anstalt, die der Heilung von derartigen Kranken dienen soll, glücklicher und wohler befinden möchte. Darüber brauchen wir uns aber jetzt noch nicht den Kopf zu zerbrechen, für den Augenblick besteht unsere Aufgabe nur darin, ihn gesund und unbehelligt nach Haus zu bringen.«

»Ich muß Dir offen gestehen, daß ich mich jetzt, nachdem ich Dich gesprochen, viel besser und stärker fühle,« meinte Herr Furst, »jetzt, wo die furchtbare Last, unter der ich seufzte, von mir genommen ist, möchte ich fast nochmals zu hoffen wagen.«

»Das können und sollen Sie auch!« suchte ich ihn zu ermutigen, obwohl ich fühlte, daß die Tage des alten Herrn gezählt waren. »Das können Sie auch! Wir wissen, daß der arme Robert nichts Strafwürdiges begangen hat, denn Personen, die für ihre Handlungen nicht verantwortlich sind, kann auch das Gesetz nicht belangen. Sogar eine Frau kann Straflosigkeit beanspruchen, wenn sie den Nachweis zu führen vermag, daß sie von ihrem Manne zur strafbaren Tat gezwungen wurde! Und wieviel größer muß aber erst der Zwang sein, der in der menschlichen Natur selbst liegt!«

»Kann ich vielleicht Bob sehen? Ich hätte ihn sehr gern gesprochen. Ich fühle es, daß ich jetzt stark genug bin, ihn sehen zu können. Warum siehst Du mich so seltsam an? Du bist auf einmal so niedergeschlagen. Was hast Du denn?«

»Nichts!« antwortete ich unter großer Anstrengung.

»Ich kann mich vielleicht täuschen. Du siehst aber ebenso angegriffen aus, wie ich es selbst bin. Und eben erst hast Du noch so ruhig gesprochen. Bist Du auch überzeugt, daß sich alles in Ordnung befindet?«

»Ich bin davon vollkommen überzeugt.«

»Und darf ich nicht Bob sehen? Ich hätte ihn so gern gesprochen. Wo steckt er denn? Kann er nicht zu mir kommen?«

»Lieber Herr Furst! Ich kann mir nicht denken, daß es für Sie gut wäre, wenn Sie heute abend noch Bob zu sehen bekämen. Meine Unterredung mit Ihnen muß für Sie sehr anstrengend gewesen sein, und da Sie hier keinen Arzt haben, müssen Sie es mir schon gestatten, Ihr Arzt zu sein, und als solcher verordne ich Ihnen hiermit bis morgen früh vollständige Ruhe.«

In dem Tone eines reizbaren Patienten widersprach zwar Herr Furst, wie ein unartiges Kind ließ er sich aber leicht beruhigen.

Als ich ihm eine »Gute Nacht« wünschte, sah er mich scharf an und fragte:

»Du hintergehst mich doch etwa nicht? In Deinem Gesicht liegt etwas, das mich beunruhigt. Ich frage Dich nochmals, bist Du auch überzeugt, daß alles in Ordnung ist?«

»Vollständig überzeugt!« erwiderte ich kurz und verließ ihn.

In mein Zimmer zurückgekehrt, setzte ich mich nieder und dachte nach. Ja, mein Gesicht hatte mich verraten. Etwas war nicht in Ordnung, ganz und gar nicht in Ordnung.

Ich hatte mir Bobs gegenwärtige Geistesverfassung in das Gedächtnis zurückgerufen. Er befand sich in derselben Stimmung, in der er, wie ich mich noch gut erinnerte, bei unserem vorigen Besuche in Monte Carlo gewesen war. Jetzt wie damals war er aufgeregt und unruhig gewesen, und in diesem Augenblicke speiste er sogar mit denselben Herren zusammen, die in der verhängnisvollen Nacht, in der der Kreole ermordet wurde, seine Gesellschaft gebildet hatten. Was sollte ich tun?

Ich beschloß, ihn sofort aufzusuchen. Ich wollte in Kapitän Huggards Wohnung gehen und dieselbe nicht eher verlassen, als bis ich Bob sicher unter meinem Schutze mitnehmen konnte.

Ich zog meinen Ueberzieher an und verließ das Hotel. Des Kapitäns Wohnung lag in der Nähe des Bahnhofs. Zu meiner Ueberraschung fand ich das Haus zwar hell erleuchtet, hörte aber fast gar keinen Lärm darin. Es war dies um so auffallender, als es gerade beim Kapitän jeden Tag, oder richtiger gesagt jede Nacht, sehr laut zuging. Heute aber war es in der Wohnung des Kapitäns so ruhig wie in einem Mädchenpensionat während der Weihnachtsferien.

»Ich kann mir wohl denken, mein Herr, was uns die Ehre Ihres Besuches verschafft,« begrüßte mich der Besitzer der Wohnung, indem er auf mich zustolziert kam. »Wie ich annehme, kommen Sie als Freund von Herrn Furst hierher?«

»Das ist auch der Fall. Sein Vater ist soeben in Monte Carlo angekommen, und wenn möglich, möchte ich Herrn Furst gern sprechen. Würden Sie die Güte haben, ihn wissen zu lassen, daß ich hier bin?«

Der Kapitän sah auf einen Herrn, dessen Gesicht feuerrot und voller Pickel war und der einen zottigen Bart trug, und lachte ironisch.

»Frech, was, Fritz Juman? Was sagen Sie dazu? Diese Unverschämtheit!«

»Große Unverschämtheit!« wiederholte der mit dem roten Gesicht und drückte sein Taschentuch gegen die Augen. »Er war noch schlimmer als ein wilder Elefant!«

»Ich weiß wirklich nicht, was Sie damit sagen wollen, meine Herren,« versetzte ich. »Sie, Herr Kapitän Huggard, hatten die Liebenswürdigkeit, meinen Freund, Herrn Furst, und mich zum Diner einzuladen. Mein Freund hat Ihrer Aufforderung auch Folge geleistet, ich war leider verhindert. Ich muß meinen Freund sobald als möglich sprechen und glaubte, daß ich ihn hier treffen würde.«

»Das würden Sie auch vor ungefähr einer halben Stunde noch getan haben,« bemerkte ein dritter Herr, dessen Nase über ihre normale Größe bedeutend hinausgewachsen zu sein schien, »jetzt ist er aber nicht mehr da, nachdem er sich mit allen Anwesenden tüchtig herumgeprügelt hat. Herrn Rob Rey Smith hätte er fast totgeschlagen, und da können Sie selbst sehen, wie er mich zugerichtet hat.«

»Und wir glaubten daher,« schrie Kapitän Huggard, »wir glaubten daher, daß Sie im Auftrage Ihres Freundes – ein netter Freund das! – zu uns gekommen wären, um die Bedingungen eines Duells zu vereinbaren. Er hat das Recht, Genugtuung zu verlangen.«

»Das hat er freilich,« mischte sich eine Persönlichkeit ein, die bisher noch nicht gesprochen hatte, und in der ich Herrn Rob Rey Smith vermutete, »das hat er, denn er hat uns alle geschlagen. Er erinnerte mich an die schlechte Behandlung, die ich von den Chinesen erdulden mußte, bevor mich der Kaiser, dem ich zeitlebens dankbar sein werde, zu seinem Bibliothekar ernannte, als welcher ich die Pflicht hatte, ihm stets die Vordertür öffnen zu müssen.«

»Ich bedaure es auf das lebhafteste, meine Herren, wenn Herr Furst Sie beleidigt hat,« erwiderte ich. »Er ist in der letzten Zeit nicht gerade sehr kräftig gewesen, und es mag wohl sein, daß Ihre große Gastfreundschaft, Herr Kapitän, Ihre vorzüglichen Weine –«

»Nein, nein,« unterbrach mich Huggard, »das ist gerade das Schlimmste. Einem Herrn, der zu viel getrunken hat, sehe ich alles nach. Denn ich selbst bin manchmal betrunken. Oder bin ich es nicht?«

»Gewiß, gewiß – sehr häufig sogar,« antwortete Fritz Juman höflich.

»Natürlich bin ich es. Und wer ist es wohl nicht?« versetzte der Kapitän und warf dabei drohende Blicke um sich. »Ich frage, wer ist das nicht? Aber darum handelt es sich nicht. Ja, mein Herr, hol' mich der Teufel, aber Ihr Freund war vollkommen nüchtern.«

»Und was ist aus ihm geworden?«

»Wie können wir das wissen? Plötzlich schlug er wie ein Toller auf die ganze Gesellschaft los und stürzte dann davon. Nicht einmal eine gemütliche Partie Ecarté hat er abgewartet. Solche Unanständigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.«

Ich hielt es an der Zeit, mich zurückzuziehen, und nachdem ich ein paar Worte der Entschuldigung gestammelt hatte, verließ ich die Herren.

Obgleich es, im Grunde genommen, doch eine recht komische Szene gewesen war, der ich eben beigewohnt hatte, so wurde dadurch meine Unruhe doch noch um vieles größer. Hier war ein Beweis, daß Bob gemeingefährlich war. Dem Anschein nach war er nicht Herr seiner Handlungen.

In größter Eile kehrte ich nach dem Hotel zurück und fragte den Portier, ob Bob bereits da wäre.

Der Portier warf einen Blick auf die Schlüssel, die in Reihen an einem Brette hingen, und verneinte meine Frage; der Schlüssel von Bobs Zimmer hing an seinem Platze.

Nachdem ich bei einem Kellner eine Tasse Kaffee bestellt hatte, die mir in das Rauchzimmer gebracht werden sollte, begab ich mich dorthin.

Nur ein einziger Gast war im Rauchzimmer anwesend. Dem Kaminfeuer gegenüber saß Silas Schwink. Mit seinem falschen Lächeln nickte er mir zu und bot mir einen »Guten Abend«.

»Lassen Sie mich gefälligst sofort wissen, wann Herr Furst zurückkommt,« sagte ich zu dem Kellner, der mir den Kaffee brachte.

»Gern, mein Herr.«

»So, jetzt sind wir wieder einmal zusammen,« bemerkte Silas Schwink, nachdem der Kellner die Tür geschlossen hatte.

»Es scheint so,« erwiderte ich kurz.

»Und wie geht es Herrn Furst senior? Ich hoffe, daß die Luft in Monte Carlo und andere hiesige Zerstreuungen ihm gut tun werden. Als ich ihn das letzte Mal sah, war sein Befinden keineswegs gut. Sie haben ihm doch wohl gesagt, daß ich Ihnen seinen Brief übergeben habe?«

»Ja, ich habe ihm auch den Zweck Ihres Besuches bei mir erzählt. Silas Schwink, Sie sind ein durchtriebener Schurke!«

»Sie kennen also meinen Namen. Ich vermute, daß Ihnen denselben mein Herr Papa gesagt hat, denn ich habe gehört, daß Sie in Nettleford gewesen sein sollen. Was macht denn der alte Herr?«

In diesem Augenblick erschien der Schatten eines Vorübergehenden auf dem Rouleaux, das vor dem Fenster hing. Ich stand auf und sah hinaus.

Robert war es indessen nicht gewesen. Als ich mich wieder setzen wollte, entging es mir nicht, daß Schwink inzwischen auch aufgestanden gewesen war und, wie mir scheinen wollte, jetzt in größter Eile sich wieder setzte.

Hatte er etwa die Absicht gehabt, mich zu ermorden? Ein solcher Gedanke war doch wirklich zu dumm!

»Sie haben mir noch nicht erzählt, wie Sie meinen Vater angetroffen haben. Ich interessiere mich sehr für den alten Herrn. Wie geht es ihm?«

»Er hat mir genug erzählt, um Sie mit Grund als einen gefährlichen Menschen betrachten zu dürfen.«

»Er hat immer solche dummen Ideen. Es war freilich nicht anzunehmen, daß ich mich in einem solchen Loche, wie Nettleford, begraben würde. Aber warum trinken Sie Ihren Kaffee nicht? Er wird noch ganz kalt werden.«

Mechanisch brachte ich die Tasse an meine Lippen. Der Kaffee hatte einen recht merkwürdigen Geschmack.

»In diesem Hotel taugt der Kaffee nie etwas. Es ist das um so schlimmer, als wenn man von der Reise kommt, man nach einer anständigen Tasse Mokka Verlangen trägt. Sie trinken wohl Kaffee, weil, wie ich mir denke, Sie heute nacht aufpassen wollen?«

»Weswegen denken Sie sich das?« fragte ich, als ich den Kaffee ausgetrunken hatte und die leere Tasse niedersetzte.

»Weil,« erwiderte er, »wenn Sie so abergläubisch wären, wie ich es bin, Sie in der Versammlung, die sich wiederum in diesem Hotel zusammengefunden hat, mehr als einen blinden Zufall erblicken müßten. Es liegen heute genau die nämlichen Umstände vor, wie bei unserer ersten Begegnung. Es ist ja richtig, der Kreole ist jetzt weg – sehr weit weg sogar –, in bewundernswerter Weise wird er aber von seinem Neffen vertreten. Und auf meinen Rat kam dieser nach Monte Carlo. Ich stellte es ihm vor, daß es seine Pflicht wäre, den Mörder seines verehrten Verwandten ausfindig zu machen, und wie Sie sehen, ist er auch meinem Rate gefolgt.«

»War das Ihr einziger Grund?«

»Vielleicht nicht,« und indem er auf die vor mir stehende leere Tasse sah, fuhr er mit seinem kalten, höhnischen Lächeln fort:

»Warum soll ich Ihnen den anderen Grund nicht sagen. Ich bin ein Liebhaber von wissenschaftlichen Experimenten, und wie Sie aus meinem Gebrauch von Doktor Atterbutts Karten wohl gemerkt haben, pfusche ich gern ein bißchen in der Medizin herum, und gerade jetzt habe ich ein sehr interessantes Experiment vor. Ihr sehr verehrter Herr Schwiegervater hatte es für gut befunden, einen Vorschlag, den ich mir erlaubte ihm zu unterbreiten, abzulehnen, und jetzt bin ich auf den Ausgang meines Experimentes neugierig. Sie werden vielleicht zwischen diesen beiden Gedanken keinen Zusammenhang erkennen können, ich sehe ihn aber!«

»Sie Scheusal!« rief ich empört. »Wollen Sie damit etwa gesagt haben, daß Sie kalten Blutes einen Mord planen?«

»Ich verbitte mir jede Bezeichnung, auf Grund deren ich gegen Sie klagbar vorgehen könnte, mein lieber Herr Barrister. Es ist zwar niemand außer uns zugegen, und es würde daher schwer sein, Ihnen die Beleidigung nachzuweisen. Ich weiß aber nicht, ob ich Sie nicht auf Grund Ihrer Aeußerung wegen »Beschimpfung und Verleumdung« belangen könnte.«

»Sie scheinen ja im Strafgesetzbuche sehr bewandert zu sein?«

»Die Erwähnung des Strafgesetzbuches erinnert mich an die Kriminalpolizei und diese an Ihren Freund Zetland. Haben Sie diesen Herrn vielleicht in der letzten Zeit gesehen, und hat er sich nach mir erkundigt?

Doch, Scherz beiseite, ich kann nicht recht einsehen, wie Sie die Vornahme eines wissenschaftlichen Experiments »einen Mordplan« nennen können. Und wenn dem so sein sollte, so brauchten Sie doch nur den Mord zu verhindern. Sie wissen, wie die Dinge stehen. Warum passen Sie dann nicht auf?

Wie ich mich erkundigt habe, stößt Ihr Zimmer an das von Crawshaw; verriegeln Sie es aber heute nacht nicht. Man sagt, daß die Geschichte sich oft wiederholt: Ich möchte gern wissen, ob sie sich auch heute nacht wiederholen wird. Was? Sie wollen schon gehen? Dann gute Nacht! Und in Ihrem Schlafe – als Schutzengel dürften Sie zwar nicht schlafen –, wünsche ich Ihnen angenehme Träume.«

Ich verließ das Rauchzimmer und begab mich nach dem Büreau des Hotels.

Dort hinterließ ich, daß Robert, sobald er nach Haus käme, gesagt werden sollte, daß ich ihn sofort zu sprechen wünschte, nahm Licht und Zimmerschlüssel in Empfang und ging auf mein Zimmer.

Die Tür des anstoßenden Gemaches stand offen. Ich stellte das Licht auf den Kaminsims und trat dann in Crawshaws Gemach. Ich war nicht wenig erstaunt, ihn, halb ausgezogen, fest schlafend in seinem Bette liegen zu sehen. Auf dem Tische neben ihm lag der Revolver, von dem er gesprochen hatte.

»Crawshaw!« rief ich. »Crawshaw, wachen Sie auf! Ihr Leben ist in Gefahr! Wachen Sie auf, Mensch! So wachen Sie doch endlich auf!«

Er rührte sich nicht, sondern atmete nur schwer.

Barmherziger Himmel! Er war betäubt worden!

Ich schüttelte ihn heftig, und für einen Augenblick schien er auch sein Bewußtsein wieder zu erlangen. Er murmelte so etwas wie »Kaffee« und fiel dann fest im Schlaf wieder auf sein Bett zurück.

Es war alles nutzlos, ich konnte ihn nicht ermuntern. Ich nahm mir daher vor, aufzubleiben.

Ich ging in mein Zimmer zurück und saß dort nachdenklich da. Die Bewohner des Hotels herbeizurufen, erschien mir nicht ratsam.

Denn, wenn ich das getan hätte, hätte ich auch meinen Verdacht laut werden lassen müssen. Das hätte auch wieder die Frage des letzten Mordes von neuem aufgerollt. Und Gott weiß, was dann noch alles die Folge gewesen wäre.

Dann dachte ich daran, daß ich gut daran täte, die Tür von dem Zimmer des armen Menschen zu verschließen. Ich hatte den Schlüssel im Schlosse stecken lassen. Ich wollte gehen und ihn herumdrehen. Das konnte ihn vielleicht noch retten.

Ich erhob mich, aber mir war es, als ob sich das ganze Zimmer um mich drehte.

Das Licht auf dem Kaminsims konnte ich nur noch verschwommen erkennen. Ich entsann mich noch des Blickes, den dieser Schuft Schwink auf meine Tasse geworfen hatte; ich erinnerte mich noch des Wortes »Kaffee«, das ich eben gehört hatte.

Allmächtiger Gott! Auch ich war betäubt! Was konnte ich jetzt noch tun?

Auf alle Fälle wäre es doch das beste, Lärm zu schlagen und Leute herbeizurufen! Meine erste Pflicht war es, unter allen Umständen Crawshaws Leben zu retten.

Ich taumelte wie ein Betrunkener. Mit meinen Händen tastete ich mich die Wand entlang und suchte nach dem. Knopf der elektrischen Klingel. Umsonst!

Und während ich suchte, sah ich die verschwommene Gestalt Schwinks vor mir stehen, der mich mit seinem teuflischen Lächeln anstierte. Ich hörte ihn sagen:

»In diesem Hotel haben Sie Ihnen einen verdammt schlechten Kaffee gegeben, nicht wahr?«

Ich versuchte nach ihm zu schlagen und hörte noch ein höhnisches Gelächter.

Ich konnte nicht mehr sehen, ich konnte kaum noch hören; ich war auf das Bett zurückgefallen.

»Schadet nichts, ich werde das Licht für Sie auslöschen,« hörte ich wie im Traume noch Schwinks Stimme. »Gute Nacht!«

Dann wurde es mir schwarz vor den Augen und ich verlor die Besinnung.

Als ich wieder zum Bewußtsein kam, schien der Mond zum Fenster herein und ich konnte das Fensterkreuz erkennen. Ich fühlte mich schwach wie ein Kind, und während einer langen Zeit konnte ich mich nicht erinnern, wo ich denn eigentlich war.

Alles schien mir so undeutlich. Während ich den Mond betrachtete, der am wolkenlosen Himmel zu stehen schien, war es mir fast so, als ob sich an der Außenseite des Hauses, den Balkon entlang, an meinem Zimmer vorbei, eine Gestalt schlich. Das beunruhigte mich aber weiter nicht. Es erschien mir das genau so selbstverständlich, wie mir in jenem Augenblick alles andere natürlich erschien.

Ich gab mir die größte Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Wo war ich? Was tat ich? Ich lag in meinem Bett. Ja, aber angezogen!

Warum hatte ich aber meine Kleider noch an? Ich hielt doch keine Mittagsruhe, denn der Mond stand am Himmel. Und nochmals, wo war ich? Darauf vermochte ich mich nicht zu besinnen. Es war sehr kalt. Schön, dann würde ich aufstehen. Ich machte einen schwachen Versuch, mich zu erheben; die Anstrengung war indessen zu stark für mich, ich war so matt, daß ich gleich diesen Versuch als unausführbar aufgab.

Dann hörte ich, wie ein Fenster geöffnet und geschlossen wurde. Es schien das aber in einiger Entfernung von mir zu sein. Ich fragte mich, ob vielleicht wie draußen vor dem Fenster ein Balkon, so vielleicht vor der Tür ein Korridor entlangliefe. Eine merkwürdige Sache! Auf der einen Seite, unter freiem Himmel, ein Balkon, auf der anderen Seite, unter Dach und Fach, ein Korridor; dazwischen mein Zimmer. Das Ding machte mir Spaß. Es war sehr still, außer dem Zuschlagen des Fensters hatte sich kein Laut vernehmen lassen. Sehr still wär es in der Tat. Ich wunderte mich, wer das Fenster zugeschlagen haben mochte. Wo aber lag das Fenster? Vielleicht am Ende des Korridors?

Aber was ging das übrigens mich an? Ich fühlte mich hier recht behaglich. Indessen, so ganz sicher war ich hierüber doch nicht. Es war sehr kalt im Zimmer. Wenn es nicht am Nachmittage sein konnte, wie mir der ins Gesicht fallende Mondschein deutlich genug bewies, warum lag ich dann nicht ausgekleidet in meinem Bett?

Ich lag nämlich auf meinem Bett. Das Vernünftigste schien mir, aufzustehen, mich auszukleiden und ins Bett zu legen. Von neuem versuchte ich es, auszustehen. Dieses Mal gelang es auch besser als das vorige Mal. Ich konnte mich wenigstens aufsetzen. Den Kopf stützte ich auf meinen Arm, und diesen lehnte ich auf das Kissen, sehr anstrengend war es aber dessenungeachtet doch noch; viel bequemer blieb es, ausgestreckt zu liegen. Ich ließ mich also wiederum zurückfallen und lag nochmals ganz ausgestreckt auf meinem Lager.

Ich fühlte mich schläfrig, und ich mochte wohl gerade im Begriff sein, einzuschlafen, als ich einen heimlichen Fußtritt hörte. Barmherziger Himmel! Draußen auf dem Korridor ging jemand. Aber warum nicht? Ein nächtlicher Spaziergang ist doch noch kein Verbrechen. Ich selbst würde vielleicht auch spazieren gehen, wenn ich nicht so furchtbar müde wäre. Ich wollte indessen nicht aufstehen, da mir das Lager bequemer war. Viel bequemer sogar.

Der heimliche Fußtritt wurde deutlicher. Bei meinem Zimmer hörte er auf. Jetzt trat jemand ein. Warum sollte er auch nicht? Wenn er aber glaubte, daß ich mich bewegen würde, dann täuschte er sich.

Ich tue das nicht.

Was sagt aber einer dazu?

Bob Furst ist es ja, der ins Zimmer getreten ist.

Zweifellos, Bob Furst ist es, der Bruder meiner innigst geliebten Florence.

Jetzt ist er aber wieder fort. Ja, ich sehe mich mit meinen müden Augen im Zimmer um, kann ihn aber nicht mehr finden.

Nirgends ist er mehr zu finden. Was schadet das?

Morgen werde ich ihn schon sprechen. Aber weswegen betrat Bob Furst mein Zimmer?

Er sah so verstört aus. Und wie ein Blitz durchzuckte mich die fürchterliche Wahrheit!

Auf Bob Fursts Gesicht lag der Mord.

In einem Augenblick war ich im vollkommenen Besitz meiner Sinne.

Auf alles, auch den kleinsten Umstand, konnte ich mich erinnern. Den armen, betäubten Menschen im Nebenzimmer mußte ich retten!

Am Willen dazu fehlte es mir wahrlich nicht.

Ich versuchte aufzustehen, aber noch immer versagten mir meine Glieder den Dienst!

Großer Gott! Was sollte ich tun?

In meiner Todesangst schrie ich laut auf. Meine Stimme hatte ich wenigstens wieder erlangt.

»Crawshaw!« schrie ich, so laut ich konnte, »Crawshaw, um Himmels willen, schützen Sie sich!«

Im Nebenzimmer blieb es auch nicht mehr länger still. Ich konnte hören, wie dort auf Tod und Leben gekämpft wurde.

Leise Flüche und ein gurgelndes Geräusch, das die furchtbarsten Empfindungen in mir erweckte, konnte ich von dort aus vernehmen.

Ich fühlte, daß Bob jetzt den Kreolen an der Kehle gepackt hatte und das Leben aus ihm herauszudrücken suchte.

Mit Mühe kam ich auf meine Füße zu stehen.

Das Zimmer schien sich im Kreise um mich zu drehen. Das durfte mich aber nicht abhalten. Ich wollte dem Unglücklichen zu Hilfe kommen.

Dann gab es einen Fall, und ich hörte, wie wiederholt auf den Fußboden aufgestampft wurde.

Da war also noch Hoffnung für Crawshaw. Wahrscheinlich war es ihm geglückt, dem ersten Angriffe zu entwischen, und jetzt rangen die beiden miteinander.

Wer wird es wohl länger aushalten können?

Ich fühlte jetzt, daß meine Kräfte zunahmen. Ich wollte mich nach der Tür schleppen, die zum Korridor führte, als mir plötzlich ein Mann den Weg vertrat.

»Sie täten besser, es die beiden miteinander ausfechten zu lassen, sollt' ich meinen,« flüsterte mir Schwink zu.

Ich suchte diesen Elenden beiseite zu schieben; ich war aber zu schwach für ihn, er hielt mich zurück.

»Hund! Mörder!« schrie ich. »Hilfe! Hilfe!«

»Halt' Deinen Mund, Du Dummkopf!« rief er mit heiserer Stimme mir zu. »Sie werden noch das ganze Haus wach machen, und dann werden wir in die Geschichte mit hinein verwickelt. Hol' Dich der Teufel! Warum lassen Sie es die beiden nicht allein miteinander abmachen?«

Rechts und links auf dem Korridor wurden jetzt Türen geöffnet.

Dann hörte man einen Pistolenschuß, dann noch einen. Darauf ein tiefes Stöhnen und dann blieb es still.

Als Schwink merkte, daß die Türen geöffnet wurden, suchte er zu entfliehen; es war aber schon zu spät. Einer der ersten, der auf uns zukam, war Herr Zetland.

»Ich wollte Sie erst morgen festnehmen, mein lieber Doktor alias Atterbut,« erklärte der Detektiv, »heut nacht ist es mir aber ebenso recht.«

Jetzt endlich hatte ich den Gebrauch meiner Gliedmaßen vollkommen wieder erlangt, und in den Armen hielt ich meinen geliebten Schatz.

»Meine liebe, gute Florence, hier ist kein geeigneter Ort für Dich,« sagte ich zu ihr und empfahl sie der Obhut der gutmütig aussehenden englischen Dame, die sie teilnahmsvoll küßte und die arme, in Tränen aufgelöste Florence dann hinwegführte.

Das Herz wollte mir brechen, als ich den Schmerz des unglücklichen Kindes sah, mich rief aber meine Pflicht nach der »Kammer des Todes«, denn schon hatte im Nebenzimmer, zu dem die Tür jetzt weit offen stand, der Tod seine Ernte gehalten.

Die beiden jungen Leute lagen starr und kalt nebeneinander; geisterhaft sehen sie im blassen Schein des Mondlichtes aus.

Zwischen ihnen lag der Revolver. Gerade als ich noch einen letzten Blick auf sie warf, schleppte sich der alte Herr Furst in das Zimmer, und mit einem Schrei, der mir Zeit meines Lebens in den Ohren gellen wird, fiel er auf seine Kniee und bedeckte das kalte Antlitz seines Sohnes mit vielen Küssen.

Dann sank er bewußtlos neben der Leiche nieder.

Ich sprang sofort auf ihn zu; ein französischer Herr jedoch, der ein Bändchen im Knopfloch trug, und der mir gefolgt war, schob mich sanft beiseite.

»Entschuldigen Sie gütigst, mein Herr, ich bin aber Arzt.«

Er fühlte mit seiner Hand an das Herz des Herrn Furst und machte dabei ein recht ernstes Gesicht.

»Ist noch Hoffnung vorhanden, Herr Doktor?« fragte ich.

»Nein, mein Herr; er ist bereits tot.«

Vor mehreren Jahren habe ich die vorhergehenden Seiten niedergeschrieben.

Inzwischen hatte ich mich verheiratet und habe leider meine gute Frau schon wieder verloren, ohne daß sie mir Kinder geschenkt hätte.

Es war meine ursprüngliche Absicht gewesen, mein Manuskript als einen Roman zu veröffentlichen, der tragische Ausgang meiner Erzählung hat mich jedoch bisher davon abgehalten, meine Absicht zu verwirklichen.

Da aber die Namen verändert sind, und an einigen Stellen sogar auch der Schauplatz der Handlung, so könnte weiter kein großer Schaden entstehen, wenn diese Zeilen eines Tages bekannt werden würden.

Ich möchte das auch umso eher glauben, weil Verbrechen, die ebenso rätselhaft erscheinen, wie jener Mord in Monte Carlo, in den letzten Jahren auch in unserem Lande vorgekommen und die Täter noch nicht entdeckt worden sind.

Ich will indessen keine feste Bestimmung über die Veröffentlichung treffen.

Ich lege das Manuskript meinem Testament bei, und der Vollstrecker meines letzten Willens mag nach meinem Tode bestimmen, was damit geschehen soll.

London, Weihnachten 188.

A. Mac Gregor.

 

Ende. –

 


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