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Herr Zetland hatte recht, – Herr Furst war ohnmächtig geworden. Im ersten Augenblick standen wir ratlos da und wußten nicht, was wir tun sollten. Der Detektiv eilte hinweg, um Wasser zu holen, und ich trat an den alten Herrn, um ihm seinen Halskragen zu öffnen, denn ich hatte gehört, daß das in derartigen Fällen von Nutzen sein soll.
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, mein Herr,« ließ sich die Stimme eines hinzugekommenen Passanten auf englisch vernehmen, »will ich mich mit vorliegendem Falle befassen. Ich bin Arzt und ich hoffe, hier bald alles wieder in Ordnung bringen zu können. Unter diesem Himmelsstrich ist die Hitze für Leute aus unserem Lande zu anstrengend.«
Und ohne noch ein Wort mehr zu sprechen, hatte der fremde Herr bereits Herrn Fursts Krawatte aufgebunden, aus seiner Rocktasche holte er einen Flakon hervor, aus dem er ein paar Tropfen in einen Trinkbecher goß, die er seinen Patienten hinunterschlucken hieß.
Während er dies tat, konnte ich ihn mir näher ansehen. Er war ein starker, hübscher Mann von mittlerer Größe und im Alter von vierzig bis fünfzig Jahren. Er hatte hellblondes Haar und sein Schnurrbart war bereits grau meliert. Er sprach zwar sehr ruhig und drückte sich auch recht höflich aus, in seiner Stimme lag aber etwas Abstoßendes.
Einen Grund dafür vermag ich nicht anzugeben, aber vom ersten Augenblick an flößte er mir Mißtrauen ein.
»Na, mein Herr, jetzt ist Ihnen doch schon etwas wohler,« sagte er in leiser, tiefer Stimme und entnahm gleichzeitig seinem Fläschchen eine neue Auflage der stärkenden Tropfen. »Ruhen Sie sich noch ein Viertelstündchen aus, und dann hoffe ich, Sie für geheilt erklären zu können. Ihr Herz ist schwach, mein Herr, deswegen brauchen Sie sich aber durchaus nicht zu beunruhigen, denn neun Zehntel aller Menschen leiden an schwachem Herzen. Nichts hilft dagegen so gut als ein kleines Reizmittel, und deswegen führe ich, wie Sie gesehen haben, stets Kognak bei mir, denn Kognak halte ich für die beste Medizin in der ganzen Welt. Ihr Wohl, meine Herren!«
Dieses Mal ließ er den Kognak seine eigene Kehle hinuntergleiten; nachdem er sodann das Fläschchen sorgfältig verkorkt hatte, steckte er es wieder fort.
»Ich bin Ihnen in der Tat zu größtem Dank verpflichtet, mein Herr,« begann Herr Furst.
»Hat nichts zu sagen, hat nichts zu sagen. Sie gestatten indessen, daß ich mich Ihnen vorstelle, mein Name ist Doktor Atterbutt, bin gewöhnlicher praktischer Arzt, nicht etwa Spezialist, und fühle mich immer glücklich, wenn ich jemand dienen kann.«
»Sie sind aus England hierher übergesiedelt, Herr Doktor?« fragte Herr Zetland.
»Das wohl, aber seitdem ich mir mein Diplom erwarb, bin ich soviel in der Welt herumgekommen, daß ich kaum glaube, daß Sie meinen Namen jetzt noch im »Medizinal-Kalender« finden werden. Wie Sie sich aber selbst überzeugt haben, meine Herren, habe ich mein altes Handwerk doch noch nicht vergessen. Und wenn ich fragen darf, was hat wohl außer der drückenden Hitze von Monte Carlo diesen Ohnmachtsanfall verschuldet?«
»Wir sprachen von einem Morde,« antwortete Herr Zetland kurz.
»Von einem Morde!« wiederholte Doktor Atterbutt. »Ich glaubte bisher stets, daß die Sitten und Gebräuche der glücklichen Bewohner der arkadischen Gefilde nun eben auch – arkadisch wären. Lieber Gott, ein Mord! Das ist etwas ganz Außergewöhnliches!«
»Und doch sind derartige Fälle auch schon früher vorgekommen,« bemerkte ich trocken.
Sehr gemächlich betrachtete mich Doktor Atterbutt vom Scheitel bis zur Zehe, als wollte er wissen, mit was für einem Menschen er es zu tun habe. Meine Erscheinung schien indessen keinen besonderen Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
»Sie haben vollkommen recht, mein Herr, auch schon früher sind derartige Fälle vorgekommen. Ja, wir lesen sogar so oft davon, daß sie uns gleichgültig lassen, wenn wir sie hören. Und wie verhalten sich die näheren Umstände dieses besonderen Falles? Wo hat er sich zugetragen?«
»In einem Hotel, das wir von hier aus sehen können,« entgegnete der Detektiv. »Wenn ich im übrigen auch von einem Morde gesprochen habe, so will ich damit noch lange nicht gesagt haben, daß der Mord auch schon bewiesen ist, die Geschichte sieht aber einem Morde verzweifelt ähnlich.«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Doktor. »Habe ich vielleicht die Ehre, mit einem Herrn Kollegen zu sprechen?«
»Nein, Herr Doktor, ich bin kein Arzt. Mein Name ist Zetland von der Kriminalabteilung der Londoner Polizei.«
»Sehr angenehm. Sind Sie in der Mordangelegenheit amtlich tätig?«
»O nein. Ein ganz anderer Fall hat mich hierher geführt, aber selbstverständlich interessiert mich auch der Mord, obwohl ich leider fürchten muß, daß ich darüber nicht allzuviel in Erfahrung bringen werde. Ich möchte sogar behaupten, der Besitzer des Hotels tut sein möglichstes, um die fatale Geschichte zu vertuschen.«
»Zu vertuschen!« meinte Herr Doktor Atterbutt mit einem kurzen, gellenden Lachen. »In Monaco etwas vertuschen wollen! Wenn der Besitzer des Hotels das fertig zu bringen glaubt, kann er noch nicht lange sein Geschäft im Fürstentum betreiben, denn hier ist nur wenig Aussicht vorhanden, eine derartigen Fall verheimlichen zu können. Die hiesigen Behörden rühmen sich ihrer Gerechtigkeit und Wachsamkeit. Freilich, es ist ja schließlich auch unrecht, zu spielen, aber vom Spielen abgesehen, ist Monaco eines der moralischsten Länder der Welt.«
»Sie glauben also, daß eine Untersuchung stattfinden wird?« fragte Herr Furst, wie mir scheinen wollte, etwas nervös erregt.
»Die muß stattfinden, mein lieber Herr, die muß stattfinden. Ich bin sehr überrascht, daß der Wirt des Hotels dem Gouverneur noch keine Meldung gemacht hat. Er war dazu verpflichtet. Man würde ihm gewiß einen Gefallen tun, wenn man ihn darauf aufmerksam machen wollte, und wenn Sie sich inzwischen vollkommen erholt haben, will ich mich gern dieser Aufgabe unterziehen.«
Das Gesicht des Doktors zeigte ein recht unheilvolles Aussehen, während er dies sagte.
»Ich fürchte, daß diese Untersuchung den Hotelgästen große Unannehmlichkeiten verursachen wird,« bemerkte Herr Furst.
»Durchaus nicht, mein lieber Herr, durchaus nicht. Es ist nur eine reine Formalität. Der Untersuchungsrichter erscheint im Hotel und stellt an die, die im Hotel anwesend waren, einschließlich der Dienerschaft, verschiedene Fragen. War der Verstorbene ein Fremder, so setzt sich der Untersuchungsrichter noch mit dem Konsul seines Landes in Verbindung, damit er seine Effekten, die versiegelt werden, entweder in Verwahrung nehmen oder sie seinen Angehörigen aushändigen kann. Ich werde sofort zum Wirte gehen.«
»Ich begleite Sie,« rief ich.
»Mit größtem Vergnügen. Je mehr, desto besser.« Wir schritten jetzt auf das Hotel zu.
Den ersten Teil des kurzen Weges legten wir schweigend zurück, dann fragte mich der Doktor, ob ich im Hotel wohnte.
»Gewiß,« antwortete ich, »ich wohne nicht nur im Hotel, sondern nehme sogar ein Zimmer ein, welches an das, in dem sich die Tragödie abspielte, anstößt.«
»Was Sie sagen!« äußerte mein Begleiter. »Dann werden Sie sicherlich auch als Zeuge vernommen werden. Was für ein Mensch war der Verstorbene? Kannten Sie ihn schon lange?«
»Ich habe ihn überhaupt nicht gekannt.«
»Was Sie sagen!« bemerkte wiederum Herr Doktor Atterbutt. Inzwischen hatten wir das Büreau des Hotels erreicht.
Der Wirt sah mich vorwurfsvoll an, stand aber sofort von dem Pulte, an dem er saß, auf und begrüßte uns durch. eine tiefe Verbeugung.
»Habe die Ehre, meine Herren. Womit kann ich dienen?«
»Ich habe bloß einmal hier hineinsehen wollen,« erklärte der Doktor in gemessenem Tone, »um Sie zu fragen, wann Sie das Erscheinen des Untersuchungsrichters erwarten. Ich bin Arzt und bei der Untersuchung dürften vielleicht meine Dienste erwünscht sein.«
»Ich war eben im Begriff, an den Gouverneur zu schreiben, obwohl die Polizei von dem Falle bereits unterrichtet ist,« antwortete der Wirt, dem man die Bestürzung recht gut anmerken konnte. »Wie dieser Herr weiß, wurde der Mord erst heute früh entdeckt.«
»Der Mord?« wiederholte Doktor Atterbutt erstaunt. »Warum nennen Sie diesen plötzlichen Tod einen Mord? Niemand vermag zu sagen, unter welchen Umständen jemand gestorben ist, solange nicht die Leiche von sachkundiger Hand genau untersucht worden ist.«
Der Wirt sah den Sprecher scharf an, und die beiden schienen einander zu verstehen.
»Vielleicht darf ich Sie um einige nähere Mitteilungen bitten?« fuhr Doktor Atterbutt fort. »Den Herrn, der so liebenswürdig war, mich hierher zu begleiten, brauchen wir wohl nicht noch länger aufzuhalten?«
»Gewiß nicht, Herr Doktor,« beeilte sich der Wirt zu erwidern. »Sobald der Herr Untersuchungsrichter erscheint, werde ich es dem Herrn sagen lassen. Der Herr wird wohl als Zeuge vernommen werden; wie ich jedoch bereits die Ehre hatte, ihm zu erklären, wird diese Vernehmung mit keinerlei Weiterung für ihn verbunden sein.«
Die ruhige Art und Weise, mit der man mich loszuwerden suchte, hätte mir sogar Spaß machen können, und ich hielt es erst gar nicht der Mühe wert, dagegen Einwendungen zu machen. Ich entfernte mich also aus dem Büreau, in dem sich der Wirt mit dem Doktor zu eingehender Beratung einschloß.
»So wird also doch noch eine Untersuchung stattfinden,« äußerte Herr Zetland zu mir, als ich aus dem Vestibül in den Garten trat. »Ich bedaure das gewiß nicht, es sieht immer so kultiviert aus, wenn nach einem Morde eine Untersuchung statt hat. Freilich fürchte ich, daß diese Ausländer mit ihrer Untersuchung etwas Schönes zusammenbrauen werden.«
»Wann haben Sie Herrn Furst verlassen?« fragte ich.
»Gleich nach Ihnen. Uebrigens an diesen Doktor vermag ich nicht recht zu glauben. Ich bilde mir nicht ein, im Gesicht eines Menschen lesen zu können, denn Sie werden es selbst wissen, Herr Anwalt, daß wir Kriminalisten nur zu leicht geneigt sind, in all und jedem einen Verbrecher zu sehen, aber bei diesem Menschen stimmt irgend etwas nicht. Wie kommt er dazu, sich in die Angelegenheit einzumischen? Was geht das ihn an?«
»Das werden wir gleich sehen,« antwortete ich, »denn er hat sich selbst als Sachverständiger angeboten.«
»So, so, das ist ein abgekartetes Spiel,« erwiderte der Detektiv und pfiff dabei leise vor sich hin. »Ich glaube nicht, daß er der Mann ist, der etwas umsonst tut.«
»Und was halten Sie von Herrn Furst?«
»Ueber den wollte ich gerade mit Ihnen sprechen,« antwortete Herr Zetland. »Er zitterte wie ein kleines Kind am ganzen Körper, als ich von ihm fortging. Ich kann Ihnen nur sagen, daß, wenn ich nicht selbst aus Erfahrung wüßte, daß die erste Spur, die man verfolgt, immer die falsche ist, so möchte ich behaupten, daß der Mann selbst am Morde beteiligt war. Wäre die Geschichte vor zwanzig Jahren in England passiert, so würde ich ihn auf meinen Verdacht hin verhaftet haben. Je älter man aber wird, desto klüger wird man auch, und das Schlimmste, was man tun kann, ist, nach Aeußerlichkeiten zu urteilen. Aber auffallend bleibt die Geschichte doch, und sein Blick will mir nicht gefallen.«
»Unsinn!« rief ich erregt. »Herr Furst, ein Millionär, einer der ehrenwertesten Männer, die es überhaupt geben kann, soll bei einem Morde die Hand im Spiele haben! Und noch dazu in Monte Carlo! Der reine Blödsinn!«
»Nun, Herr Anwalt, Sie sind ein Rechtsgelehrter und müssen es ja besser wissen,« entgegnete Herr Zetland in recht ärgerlichem Tone. »Ich für meinen Teil sehe in einer derartigen Vermutung durchaus keinen Blödsinn, sondern sogar eine gute Portion Verstand. Millionäre und ehrenwerte Leute pflegen nicht in Ohnmacht zu fallen und neugeborenen Kindern gleich wie Espenlaub zu zittern, wenn in ihrer Gegenwart von einem Morde gesprochen wird. Dahinter muß etwas stecken. Das geht mich aber nichts an, denn ich bin hier nicht amtlich tätig.«
»Nein, nein, lieber Herr Zetland,« suchte ich ihn zu beruhigen, »seien Sie nur nicht böse. Ich weiß, daß Sie eine so große Erfahrung, wie sie kaum zum zweiten Male zu finden ist, besitzen, und ich bin gewiß der allerletzte, der Ihr Urteil nicht mit gebührender Achtung und Anerkennung annimmt, Herr Furst ist aber ein solch hochachtbarer Mann und dabei jeder pekuniären Sorge enthoben, daß ich die Möglichkeit, ganz abgesehen von der Wahrscheinlichkeit, nicht einsehen kann, daß er mit dieser Geschichte irgend etwas zu tun haben soll. Und wenn Sie die Sache nur ruhiger betrachten möchten, dann bin ich überzeugt, daß Sie meiner Auffassung beipflichten würden. Oder sind Sie anderer Meinung?«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, und das ist recht böse.«
Der Detektiv verließ mich und ich begab mich daher wiederum zu Herrn Furst. Ich fand ihn noch immer sehr aufgeregt und er fragte mich sofort, ob eine weitere Untersuchung stattfinden würde.
»Jawohl,« antwortete ich ihm. »Was uns vorhin Doktor Atterbutt gesagt hat, scheint richtig zu sein. Die Bewohner Monacos sind doch nicht solche Heiden, wie man wohl glauben sollte, und ein plötzlicher Todesfall, als dessen Ursache man einen Mord vermuten darf, läßt sich auch hier nicht ohne weiteres vertuschen.«
»Dann werden wohl auch Zeugen vernommen werden?« fragte Herr Fürst mit demselben Eifer, der mir schon bei seiner ersten Frage aufgefallen war.
»Das hoffe ich,« antwortete ich ihm.
»Wissen Sie auch bereits, wer vernommen werden soll?«
Ich sah Herrn Furst scharf ins Gesicht und sagte zu ihm:
»Ich halte es für höchst wahrscheinlich, daß auch Sie vernommen werden.«
Als wäre meine Auskunft von gar keiner Bedeutung für ihn, erwiderte er gleichgültig: »Ganz recht, ganz recht, aber wer, Ihrer Meinung nach, sonst wohl noch?«
»Das werden wir gleich sehen,« antwortete ich ernst, »denn wenn ich mich nicht täusche, kommt uns dort ein Bote holen, damit wir bei der Verhandlung zugegen seien.«
Ich hatte mich auch nicht geirrt, denn in demselben Augenblicke meldete uns unter vielen Bücklingen ein Hausdiener aus dem Hotel, daß der Herr Untersuchungsrichter uns in einem für die gerichtliche Prozedur reservierten Zimmer des Hotels erwarte.
Unserer Auffassung nach hatte der doch immerhin bedeutungsreiche Fall im Hotel doch nur sehr geringe Aufregung hervorgerufen, und in dem Betriebe des Hotel Blanc schien keine ernstliche Störung eingetreten zu sein.
Der Besitzer war in seinem Büreau nicht anwesend, das war aber nichts Außergewöhnliches, und er hatte ja auch einen Stellvertreter. Ein Kellner führte Herrn Furst und mich in einen parterre gelegenen Salon, den gewöhnlich ein englischer Lord oder ein russischer Fürst inne hatte.
An einem großen Tische saß der Untersuchungsrichter, ein alter, höflicher Herr; vor sich hatte er eine Mappe liegen, und er war eifrig mit Schreiben beschäftigt; wie ich vermute, brachte er die Aussagen der Zeugen, die vor uns vernommen worden waren, zu Protokoll.
»Von vornherein möchte ich mir die Bemerkung erlauben,« begann er, »daß es der Wunsch der Regierung ist, die Herren Reisenden so wenig als möglich zu stören. Für die allgemeine Sicherheit ist es aber unbedingt erforderlich, daß bei einem Todesfall, dessen Ursache nicht mit Sicherheit feststeht, dieselbe, soweit es eben möglich ist, erforscht werden muß. Im vorliegenden Falle ist aber zweifellos die Art und Weise, in der der Tod eingetreten ist, in Dunkel gehüllt, und unsere Aufgabe muß es sein, nach bestem Wissen und Können dieses Dunkel zu lüften. Das soll auch geschehen, ohne daß dadurch jemand Ungelegenheiten entstehen. Der Regierung liegt es fern, die Bürger und die Gäste dieses Landes auch nur im geringsten zu belästigen, sie kann und darf es aber andererseits auch unter keinen Umständen dulden, daß hierzulande etwas verhehlt oder verheimlicht wird.«
Während seiner Rede sah der Richter mehrmals den Hotelbesitzer an, der indessen seine vorwurfsvollen Blicke mit einem vielsagenden Achselzucken erwiderte.
Mir schien es, als ob die Verzögerung der vorgeschriebenen Meldung des Todes an den Gouverneur von seiten des Untersuchungsrichters sehr mißfällig aufgenommen worden war.
»Und da uns jetzt,« fuhr der bereits ergraute Beamte, der sich selbst sehr gern sprechen zu hören schien, »die Aussagen der Hotelangestellten so ziemlich vollständig vorliegen, wollen wir uns nunmehr behufs weiterer Informationen an eine andere Quelle wenden, und zwar müssen wir die Herren Reisenden, die die heutige Nacht im Hotel geschlafen haben, um ihr Zeugnis bitten. Habe ich die Ehre, mit Herrn Alexander Mac Gregor zu sprechen?«
Kaum erkannte ich meinen ehrlichen Namen wieder, so schlecht sprach er ihn aus. Ich antwortete ihm jedoch durch eine höfliche Verbeugung. Der Richter dankte auf gleiche Weise.
Herr Furst, der neben mir stand, flüsterte mir ins Ohr:
»Um Himmels willen, sagen Sie nur so wenig als irgend möglich.«
In einem solch ernsten Tone sprach er, daß ich davon ganz erschreckt wurde, und meine Ueberraschung vergrößerte sich noch, als ich seine unverkennbare Aufregung gewahrte. Er schien am ganzen Körper zu zittern. »Robert ist hier,« fuhr er fort. »Weswegen mag wohl Robert hier sein?«
Sein Sohn war in der Tat auch anwesend und schien seiner Vernehmung mit größtmöglichster Gleichgültigkeit entgegenzusehen. Zu langem Nachsinnen hatte ich jedoch keine Zeit, denn der Untersuchungsrichter bat mich höflichst, näher zu treten.
»Wie ich gehört habe, mein Herr, hatten Sie das Zimmer inne, welches an das, in dem die Leiche gefunden wurde, anstößt?« fragte er, indem er eine neue Feder und ein unbeschriebenes Blatt Papier sich vornahm.
Ich bejahte seine Frage und erzählte ihm die Geschichte meiner unfreiwilligen Gefangenschaft, eine Geschichte, die von dem Wirte und mehreren seiner Angestellten in jedem Punkte bestätigt wurde.
»Sie können von Glück sagen, mein Herr,« bemerkte lachend der Richter, denn jeder schien sich darüber zu freuen, daß ich eingesperrt gewesen war. »Sie können von Glück sagen, daß dieser allem Anschein nach gänzlich unvorhergesehene Zwischenfall sich ereignet hat. Es wäre töricht, es leugnen zu wollen, daß bei einem Tode, der von solch fatalen Umständen begleitet wird, wie es bei dem uns vorliegenden Falle geschieht, stets ein gewisser Verdacht auf die Personen fällt, deren Zimmer an das des Verstorbenen angrenzt. Da Sie aber in Ihrem Zimmer eingesperrt waren, kann man Sie unmöglich verdächtigen. Ich nehme an, daß es für den Herrn auch vollkommen ausgeschlossen war, aus seinem Zimmer in das andere durch die Verbindungstür zu gelangen?«
Ich konnte nicht umhin, einen Blick mit Herrn Zetland zu wechseln, der auch zugegen war, und dem diese Aussage viel Spaß zu machen schien.
»Natürlich! natürlich!« bestätigte der Richter und machte sich eine Notiz davon. »Ich hatte diese Frage auch nur der Form wegen gestellt. Und mit Ihrer gütigen Erlaubnis will ich mich jetzt an den Herrn wenden, der das dem Sterbezimmer von der anderen Seite benachbarte Zimmer inne hat. Wer wohnt in Nummer 89?«
Der Wirt setzte sein Pincenez auf und sah in seiner Liste nach. Dann sprach er leise mit dem Untersuchungsrichter.
»Mir wird eben gesagt,« fuhr der Beamte fort, »daß Nr. 89 Herrn Furst jr. überlassen war. Ob er in demselben heute nacht aber anwesend war oder nicht, wird Gegenstand der ferneren Untersuchung sein müssen.«
Herr Furst, der noch immer neben mir stand, ergriff mich am Arm und sagte mir ins Ohr:
»Robert war im Nachbarzimmer? Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«
Sein seltsames Benehmen jagte mir wiederum einen Schreck ein, und dieses Mal hielt ich es für angebracht, ihm Vorstellungen zu machen. Ich wandte mich um und sagte leise zu ihm:
»Sie scheinen vollständig zu vergessen, Herr Furst, daß Sie zu einem Barrister sprechen. Als solcher bin ich ein Vertreter und Beamter des Gesetzes, – ich meine des englischen Gesetzes, – und, wie Ihnen zweifellos bekannt ist, ist es die Pflicht der gerichtlichen Beamten in England, bei gewissen Gelegenheiten gewisse Warnungen zu erteilen. Es würde mir aufrichtig leid tun, wenn Sie jetzt mir gegenüber eine Aeußerung fallen ließen, die Sie später Anlaß hätten, zu bereuen.«
Er sah mich verwundert an, als hätte er nicht verstanden, was ich sagen wollte, dann übermannte ihn der Zorn und er wurde feuerrot im Gesicht, doch bald machte diese Nöte einer tödlichen Blässe Platz.
»Was soll das heißen?« sprach er leise vor sich hin. »Was soll das heißen?«
Und ich bemerkte jetzt, daß das Verhör von Robert Furst bereits begonnen hatte.
»Sie hatten also Zimmer Nr. 89 inne, mein Herr?« fragte der Richter in einem Tone, der zwar höflich, aber nicht gerade herzlich klang.
»Ich hatte es und hatte es auch nicht,« antwortete Robert, die Hände in seinen Hosentaschen.
»Entschuldigen Sie gütigst, aber Ihre Antwort widerspricht sich,« entgegnete der alte Beamte, den Roberts rücksichtsloses Benehmen zu ärgern schien. »Ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, daß Sie hier vor Gericht stehen, und wenn Sie auch einer fremden Nationalität angehören, so sind Sie doch dem Gesetz unterworfen, das die Macht besitzt, zu strafen und auch freizusprechen.«
»Was will er denn von mir?« fragte Robert, sich zu mir wendend. »Wollen Sie nicht so gut sein, mir zu helfen, Herr Mac Gregor? Im Salon krieg' ich das Französisch-Parlieren ganz gut fertig, aber hol' mich der Henker, wenn ich auch nur ein Wort von dem Kauderwelsch des gerichtlichen Französisch verstanden habe.«
»Sie brauchen ja nur zu erzählen, wie und wo Sie die letzte Nacht verbracht haben,« sagte ich zu ihm. »Und können Sie das nicht tun, ohne daß Sie den alten Herrn zum besten haben? Im Auslande versteht man derlei Dinge oft falsch. Es sollte doch einfach genug sein.«
»Schwer ist es gewiß nicht,« antwortete er lachend. »Es ist mir aber riesig unangenehm, daß ich das vor dem Alten erzählen muß. Er wird wütend sein, wenn er hört, daß ich wieder einmal meinen »Koller« hatte. Jedoch, ich kann's nicht ändern. Also los!«
Und in einem so abscheulichen Französisch, wie man es sich ärger kaum vorstellen kann, trug Robert seinen Alibibeweis vor. Er erzählte, daß er zeitig am Abend, bevor der Tod des Kreolen eingetreten war, das Hotel verlassen habe und dann erst wiedergekehrt wäre, nachdem der Tod bereits entdeckt worden war.
Der Tagesportier hatte ihn fortgehen sehen, der Nachtportier hatte ihn nicht eingelassen. Der Zimmerkellner hatte seinen Zimmerschlüssel in die Loge des Portiers gebracht, und dort war er von ihm erst am nächsten Morgen verlangt worden. Es war also sonnenklar erwiesen, daß er zur Zeit des Mordes nicht im Hotel war.
»Auch Sie, mein Herr, darf ich beglückwünschen,« sagte der Richter, der durch die Darlegung dieser entlastenden Tatsachen besser gestimmt worden war, zu Robert. »Es trifft sich in der Tat sehr glücklich, daß sowohl der Herr von Nr. 87 als auch der von Nr. 89 so überzeugend ihre Unschuld nachweisen konnten. Denn ich muß offen gestehen, daß bei gewalttätigen Verbrechen wir stets in den angrenzenden Zimmern oder Wohnungen nach dem Täter suchen. Wie Sie aber sich selbst überzeugt haben werden, meine Herren, hätten wir vergeblich gesucht. Aber dessenungeachtet liegt der Fall dennoch recht trübe. Ein starker Verdacht ist vorhanden, und die Untersuchung wird deswegen so lange offen gehalten werden müssen, bis eine neue Entdeckung, die eine befriedigende Lösung des Falles gibt, zutage getreten ist. Sind noch mehr Zeugen zu vernehmen?«
»Ich glaube nicht, Herr Richter,« antwortete der Wirt, an den sich der Beamte mit seiner Frage gewandt hatte. »Sie haben meine sämtlichen Angestellten, viele Gäste und mich selbst vernommen. Dieser Herr hier ist Herr Furst senior, der Vater des jungen Herrn, den Sie eben verhört haben. Er hatte in der letzten Nacht ein parterre gelegenes Zimmer inne, das von dem im dritten Stock gelegenen Sterbezimmer recht weit entfernt liegt. Wenn Sie indessen einige Fragen an ihn richten wollen, so bin ich überzeugt, daß es ihm ein großes Vergnügen bereiten wird, sie Ihnen zu beantworten.«
Ich sah auf Herrn Furst. Und wiederum war ich überrascht, denn so aufgeregt er vor zehn Minuten auch gewesen war, jetzt war er vollkommen gefaßt.
»Es würde mir in der Tat zu größtem Vergnügen gereichen, Ihnen jede gewünschte Auskunft zu geben, die in meiner Macht steht,« erklärte er. »Aber leider weiß ich rein gar nichts von dieser fatalen Geschichte. Erst einige Stunden nach dem Verscheiden des unglücklichen Kreolen habe ich von seinem Tode erfahren.«
»Ich meine, daß die Aussage eines Gliedes der Familie uns genügen sollte,« erwiderte der Richter mit einer höflichen Verbeugung. »Der Herr ist durch seinen begabten Herrn Sohn würdig vertreten worden. Und jetzt glaube ich, daß unsere Untersuchung zu Ende ist. Ihr Ergebnis ist leider nicht zufriedenstellend, und deswegen sehe ich mich leider genötigt, dieses Etablissement für die nächste Zeit »unter spezielle Aufsicht der Regierung« ( sous surveillance) zu stellen.«
»Aber, geehrter Herr Richter,« rief der Besitzer des Hotels in einem sehr bekümmerten Tone, »das dürfte doch sicherlich nicht erforderlich sein?«
»Unter spezielle Aufsicht der Regierung,« wiederholte der würdige Beamte, ohne die Unterbrechung des Wirtes irgendwie zu beachten. »In gewissen Fällen müßte ein Hotel, in dem ein derartiges Ereignis vorgekommen ist, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit geschlossen werden, im vorliegenden Falle halte ich indessen die »öffentliche Aufsicht« für genügend. Und da nun alle Zeugen vernommen sind, wenig genug haben sie freilich ausgesagt, erkläre ich hiermit die Sitzung für geschlossen.«
Der Richter ordnete seine Papiere und setzte den Hut auf.
»Um Verzeihung, mein Herr,« bemerkte Herr Doktor Atterbutt, der während der letzten Rede des Untersuchungsrichters in das Zimmer getreten war. »Verzeihung, mein Herr, ich kann Ihnen nicht beistimmen. Die Sitzung sollte erst dann geschlossen werden, wenn Sie die Aussage, die ich zu machen im Begriff stehe, zu Protokoll genommen haben.«
»Ihre Aussage? Wer sind Sie?«
»Hier ist meine Karte!« antwortete Doktor Atterbutt in seiner tiefen Baßstimme. Und, seinen langen Schnurrbart streichend, fügte er selbstbewußt hinzu: »Sie können selber lesen, wer ich bin.«
Der Richter sah auf die ihm überreichte Karte, schien aber von dem darauf stehenden Namen keineswegs erbaut zu sein.
»Ach ja, Herr Doktor Atterbutt, Ihr Name ist mir recht gut bekannt. Irre ich nicht sehr, so halten Sie sich bereits seit längerer Zeit in unserem Fürstentume auf?«
»Ganz recht,« antwortete der Doktor mit einem feinen Lächeln, »meine Praxis beschränkt sich jedoch fast ausschließlich auf den Besuch der Spieltische.« Und sich an Herrn Furst wendend, erklärte er diesem: »Ich muß leider fürchten, daß meine Vorliebe für das Roulette mich die Pflichten meines Berufes vernachlässigen läßt.«
»Und Sie meinen also, Herr Doktor, daß unsere Untersuchung nicht zu Ende ist, so lange Sie nicht Ihre Aussage zu Protokoll gegeben haben?«
»Das meine ich allerdings,« bemerkte Doktor Atterbutt auf eine recht unverschämte Art. »Ich habe das übrigens schon einmal gesagt.«
Und als ich mir jetzt diesen Menschen näher ansah, empfand ich ein Gefühl des Ekels gegen ihn, das mir geradezu unerklärlich war. Ich kann nicht einmal sagen, daß er schlecht aussah. Im Gegenteil, manch einer Köchin oder Schneidermamsell würde er sogar als ein »schöner Mann« erschienen sein.
Er hatte eine frische Gesichtsfarbe und sein stellenweise schon kahles Haupt ließ seinen starken, dicken Hals nur noch deutlicher hervortreten. Unwillkürlich erinnerte er mich an einen Coupletsänger, den ich in einem Spezialitätentheater einst gehört hatte, und ich möchte beinahe glauben, daß sich der würdige Doktor in einer solchen Rolle ganz gut ausgenommen hätte.
Ohne daß ich imstande wäre, einen genügenden Grund dafür angeben zu können, wiederhole ich, daß ich diesen Menschen verabscheuen mußte. Und ich schäme mich eigentlich, dieses Geständnis ablegen zu müssen, denn trotz seines frechen Lachens und seines dicken Halses hatte der Mann etwas Komisches in seinem Aussehen, das mich lachen machte. Und es ist gewiß nicht hübsch, wenn man Leute verabscheut, die einem Stoff zur Heiterkeit geben.
Der Untersuchungsrichter öffnete von neuem seine Aktenmappe und erklärte: »Ich will Ihr Anerbieten annehmen. Ich muß zugeben, daß, sobald es sich um Angelegenheiten der öffentlichen Sicherheit handelt, ich nicht das Recht habe, die Annahme eines Zeugnisses zu verweigern, das mir aus freien Stücken angeboten wird, und –«
»Sicherlich sind Sie auch meiner Ansicht nach nicht dazu berechtigt.«
»Und da Sie nun einmal da sind,« fuhr der Beamte fort, ohne sich durch die Unterbrechung stören zu lassen, »wollen Sie mir gefälligst Ihre Ansicht äußern.«
»Gern, Herr Richter. Ich verlange als Sachverständiger gehört zu werden. Wie Sie aus meiner Karte ersehen haben, bin ich ein rite promovierter praktischer Arzt.«
»Ich habe durchaus keinen Grund, Ihre Behauptung in Zweifel zu ziehen, und sollte sich wirklich noch Anlaß bieten, für dieselben einen Beweis erbringen zu müssen, so wird der Herr Konsul Ihres Landes gewiß in der Lage sein, mir jedwede Auskunft geben zu können, die ich benötigen sollte.«
»Ganz recht. Und nachdem nun die Einleitung glücklich erledigt ist, können wir wohl endlich zu unserem Geschäft kommen. Ich habe die Leiche, untersucht und bin hinsichtlich der Todesursache zu einem Schlusse gekommen.«
»Und der wäre?«
»Daß der Herr sich selbst das Leben genommen hat.«
Eine solch, unerwartete Antwort mußte allgemeines Erstaunen erregen. Vielleicht ist mit »allgemeines Erstaunen« doch ein wenig zu viel gesagt, denn es fiel mir auf, daß der Ausdruck der Ueberraschung, der sich auf dem Gesichte des Wirts kundgab, mehr geheuchelt als echt zu sein schien.
Ich sah auf Herrn Furst, und mir war es, als ob sich sein Gemüt jetzt erleichtert fühlte.
Herr Zetland drehte sich weg, pfiff leise vor sich hin und sah dann auf den Doktor. Er mußte lachen, und in seinem Gesicht malten sich Vergnügen und Bewunderung.
»Sie meinen also, es handelt sich hier um einen Selbstmord?« wiederholte der Untersuchungsrichter.
»Zweifellos,« erklärte Doktor Atterbutt mit Bestimmtheit. »Freilich, mit absoluter Sicherheit läßt sich in solchen Fällen nie etwas sagen. Soweit aber meine Erfahrung reicht, und ich besitze gerade in solchen Fällen eine sehr große Erfahrung, glaube ich mit Sicherheit behaupten zu dürfen, daß er sich in einem Tobsuchtsanfalle selbst erwürgt hat.«
»Ich will zwar nicht behaupten, daß auch ich etwas von Medizin verstehe, indessen –« begann der Richter.
»Das will ich gern glauben,« unterbrach ihn Doktor Atterbutt.
Abermals war der Richter taktvoll genug, die Unterbrechung zu ignorieren, und fuhr fort: »Indessen vermag ich beim besten Willen nicht zu verstehen, wie ein Mensch sich im Schlaf erwürgen kann? Haben Sie auch gesehen, daß das eine Ohr zerrissen war? Geschah das auch während des Schlafs?«
»Wenn Sie mir die Ehre erwiesen hätten, genau auf das zu hören, was ich gesagt habe, so hätte es Ihnen nicht entgehen können, daß ich kein Wort davon gesagt habe, daß die Tat im Schlafe geschehen sei. Ich habe nur meiner Auffassung dahin Ausdruck gegeben, daß die Todesursache in den selbst beigebrachten Verletzungen zu finden ist, die sich der Verstorbene in einem Tobsuchtsanfalle beigebracht hat. Mit der Wunde am Ohr fing er an, und erst dann hörte er auf, als seine Finger seine eigene Kehle fest umklammert hielten.«
»Das ist zum mindesten eine recht merkwürdige Theorie.«
»Meiner Ansicht nach nicht. Ich will indessen in meinem Gutachten eine kleine Einschränkung machen. Wenn ich vorhin Ihre Frage, ob der Herr Selbstmord begangen hat, bestätigt habe, so war das nicht ganz korrekt, ich kann nur erklären, daß er von eigener Hand starb. Mehr habe ich nicht zu erklären.«
Während einer kurzen Zeit besprach sich der Richter mit dem Gerichtsschreiber, der ihn begleitet hatte, und schloß sodann seine Mappe.
»Ich habe mit großer Freude dieses Gutachten vernommen, denn es ist der Wunsch unserer Regierung, ein Geheimnis, wie es das vorliegende ist, von Grund aus aufzuklären. Es ist ohne allen Zweifel, daß wir hier eine direkte Spur nicht verfolgen können, ein Verdacht fällt auf niemand, und dazu Protokoll gegeben worden ist, daß der Tod durch Verletzungen erfolgt ist, die der Verstorbene sich selbst beigebracht hat – das scheint auch mir eine sehr einleuchtende Erklärung des bedauerlichen Vorfalls zu sein –, erkläre ich hiermit die Untersuchung für geschlossen.«
Nach diesen Worten hatte das Zimmer sich rasch geleert. Der Untersuchungsrichter verbeugte sich gegen jeden der anwesenden Engländer, doch mit Ausnahme von Doktor Atterbutt, und entfernte sich sodann in Gesellschaft der Herren, die ihn begleitet hatten.
Herr Furst hing seinen Arm zärtlich in den seines Sohnes, mit dem er sich in gedämpfter Stimme unterhielt, und auch die beiden gingen weg.
Die Dienerschaft nahm auf Anordnung des Wirts ihre gewohnte Beschäftigung wieder auf. Der letztvernommene Zeuge steckte sich eine Zigarette an und schlenderte recht befriedigt davon. In den nächsten Minuten befand ich mich in der alleinigen Gesellschaft des Vertreters der Londoner Kriminalpolizei im Salon.
»Nun, was halten Sie davon?« fragte ich Herrn Zetland.
»Offen gestanden, weiß ich nicht, was ich jetzt denken soll,« gab er mir zur Antwort. »Was für einen Grund mag dieser Arzt wohl haben, sich in die Sache einzumischen, und ein solch befremdendes Gutachten abzugeben?«
»Sie nennen es befremdend?«
»War es etwa nicht befremdend? Ich habe in meinem Leben in gar manche Dinge meine Nase hineingesteckt, und auch von Medizin verstehe ich ein wenig, aber von solch merkwürdiger Sache habe ich doch noch nie gehört. Ich bin überzeugt, wenn Herr Doktor Atterbutt sein Gutachten an den »Lancet« oder die »Medizinal-Zeitung« senden würde, so würde er nur wenig Leser finden, die seiner Theorie beistimmen möchten. Ich meinerseits glaube, daß er richtiger Doktor Münchhausen heißen sollte,« und über diese Aeußerung, die er wohl für einen guten Witz halten mochte, mußte er selbst von Herzen lachen.
»Sind Sie der Ansicht, daß er selbst an seine Theorie glaubt?«
»Auch darüber habe ich meine Zweifel. Ich kann nur das eine sagen, daß der Besitzer des Hotels sich gratulieren kann, daß Herrn Doktor Atterbutts Gutachten so lautete. Hätte er nicht seinen Mund aufgetan, dann wäre das Hotel Blanc ein gebrandmarktes Haus gewesen, und der Besitzer eines solchen gebrandmarkten Hauses ist auch in Monte Carlo nicht immer auf Rosen gebettet.«
»Glauben Sie also, daß Doktor Atterbutt sozusagen gekauft war?«
»Ich bin viel zu klug geworden, um jemand alles zu sagen, was ich denke. Nicht einmal Ihnen, Herr Anwalt, will ich es sagen, obwohl wir beide doch derselben »Fakultät« angehören. Deswegen aber nichts für ungut.«
»Sicherlich nicht, Herr Zetland,« entgegnete ich ihm. »Sie haben vollkommen recht, wenn Sie Ihre Gedanken für sich behalten, denn nichts ist so ärgerlich und kostspielig, als eine Klage wegen Verleumdung.«
»Darin stimme ich Ihnen vollkommen bei. Das, eine noch kann ich Ihnen indessen sagen: Das letzte Wort in dieser fatalen Angelegenheit haben wir noch nicht gehört, und wenn mich meine Erfahrung nicht sehr täuschen sollte, so werden wir dem Doktor Atterbutt noch mal bei einer späteren Geschichte, die aber mit dieser in einem ursächlichen Zusammenhang steht, begegnen. Hierin kann ich ja unrecht haben, ich kann aber auch recht haben.« Und mit dieser gewiß sehr richtigen Bemerkung verließ er mich.
So kam es, daß der Tod des unglücklichen Kreolen weiter keine Aufregung hervorrief. Die am Orte erscheinenden Zeitungen brachten über die Tragödie im Hotel Blanc nur kurze Notizen, und so fanden auch die großen Organe der öffentlichen Meinung in den Weltstädten keinen Anlaß, große Abhandlungen über die Verderblichkeit des Spieles, das schon wieder ein hoffnungsvolles Leben in den Tod getrieben habe, zu veröffentlichen.
Gemäß den im Fürstentum herrschenden gesetzlichen Vorschriften wurde die Leiche innerhalb achtundvierzig Stunden nach dem Tode beerdigt.
Als ich zusammen mit Familie Furst, die ebenfalls über Paris nach London wollte, abreiste, war das Hotel Blanc bis auf das letzte Zimmer besetzt. In Paris beabsichtigte sich meine Reisegesellschaft etwa vierzehn Tage bis drei Wochen auszuhalten, während ich schon früher nach London zurück wollte.
Wir waren bereits in den Zug gestiegen, als Herr Doktor Atterbutt herantrat und unsere Damen höflichst begrüßte.
»Ich hoffe, Sie wiederzusehen,« meinte er, »denn ich sehne mich nach London zurück. Leider muß ich aber fürchten, daß, so lange mein Geld reicht, ich meine Kraft und Zeit dem Roulette opfern muß.«
Er ließ es sich nicht nehmen, uns allen zum Abschied die Hand zu reichen.
»Adieu!« rief er, sich an Herrn Furst wendend. »Sie werden mich bestimmt wiedersehen.«
Ich meinerseits trug kein Verlangen, ihm wieder zu begegnen, und als ich ihn aus dem Perron stehen und dem sich in Bewegung setzenden Zug mit seinem teuflischen Lächeln nachblicken sah, wäre ich am liebsten aus dem Wagen gesprungen und hätte ihn zu Boden geschlagen.
Hier muß ich einen Augenblick inne halten und offen bekennen, daß ich mich in einer recht trüben Stimmung befinde. Nicht ohne Absicht habe ich die vorhergehenden Seiten niedergeschrieben, und zwar habe ich das in einem Zuge getan. Jetzt bin ich verlobt, freilich nur insofern, wie sich jemand »verlobt« nennen darf, der erst seinen Weg in die Welt machen muß, bevor er hoffen darf, heiraten zu können.
Wer mir die Ehre erwiesen hat, meiner Erzählung bis hierher zu folgen, wird auch ohne zu große Mühe herausfinden, wer die Dame ist, auf die die Wahl meines Herzens gefallen ist.
Die Stunden, während deren wir von Nizza nach Paris fuhren, werden mir ebenso unvergeßlich bleiben, wie der glückselige Augenblick, in dem mir meine liebe Florence zu verstehen gab, daß ich ihr nicht gänzlich gleichgültig war. Den süßesten Hoffnungen ergeben, hielt ich mich ein paar Tage im Grand Hotel auf, bevor ich mich der Göttin Themis von neuem in die Arme warf. In ihrer Gesellschaft besuchte ich den Louvre, Versailles, das Luxembourg-Palais und noch viele andere Sehenswürdigkeiten, und schließlich faßte ich mir ein Herz, um »mit Papa zu sprechen«.
»Ich habe Sie sehr gern,« sagte Herr Furst zu mir, »und ich hätte auch nichts gegen Sie als Schwiegersohn einzuwenden. Indessen werden Sie sich selbst sagen müssen, Herr Mac Gregor, daß bei Florences vielen Vorzügen sie doch wohl ein wenig höher sehen dürfte.«
»Höher?« wiederholte ich erstaunt, denn schon fühlte sich mein angeborener Stolz verletzt.
»Nun ja, ich meine, mit dem großen Vermögen, das sie von mir mitbekommt, könnte sie wohl auch einen Herzog heiraten. Einem Herzog halten Sie sich wohl doch nicht für ebenbürtig?«
»Darüber habe, offen gestanden, noch nicht viel nachgedacht, Herr Furst. Ich zweifle nicht im geringsten, daß es viele höchst ehrenwerte Herzöge geben mag, die sich schon mehrere Jahrhunderte hindurch ihres edlen Blutes rühmen dürfen, aber, wie Sie wohl wissen werden, waren schottische Geschlechter, zu denen auch das der Mac Gregors gehört, schon vor der Eroberung Englands durch die Normannen im Lande ansässig.«
»Nun ja,« erwiderte Herr Furst freundlich lächelnd, »nun ja, Sie mögen gewiß alle Ursache haben, auf Ihre Ahnen stolz zu sein; darf ich aber fragen, was Sie selbst bereits geleistet haben?«
»Nicht viel,« mußte ich bekennen. »Jetzt bin ich freilich viel ärmer als Sie es sind, Herr Furst, aber das kann sich auch noch ändern.«
»Nein, ich kann wenigstens nicht einsehen, weswegen das gerade sein müßte. Hören Sie, lieber junger Freund, lassen Sie sich nicht mit solchen Sachen ein, die mir mein Vermögen erworben haben. Ich habe aus dem Glücksbeutel einen Gewinn gezogen, Tausende aber gibt es, denen das Schicksal nicht so hold ist. Und wer keinen Gewinn gezogen hat, der soll sich nicht in den Kopf setzen, durchaus einen ziehen zu müssen. Bleiben Sie also in Ihrem Beruf, lieber Herr, und ich wünsche Ihnen, daß Sie in demselben recht gut fortkommen möchten.«
»Sie sind sehr gütig, Herr Furst, aber Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Nein, das habe ich auch noch nicht,« entgegnete er und änderte jetzt den Ton, indem er zu mir sprach: »Alick, mein lieber Junge, ich habe Sie sehr gern, und deswegen will ich auch offen mit Ihnen reden. Ich fürchte, meine Frau wird Sie nicht als Schwiegersohn haben wollen; wir lieben aber beide unsere Tochter aufs innigste, und wenn Florence Sie durchaus heiraten will, nun dann, so sollte ich wenigstens denken, muß sie es auch.«
»Lieber Herr Furst!« rief ich mit größter Dankbarkeit.
»Nein, mein junger Freund, so weit sind wir noch nicht. Hören Sie mich erst zu Ende an. Ihr seid beide noch recht jung, und ich sollte glauben, daß Ihr noch ein wenig warten könntet. Für meine Tochter wäre es gewiß recht gut, wenn sie sich erst noch ein bißchen die Welt ansieht, bevor sie sich einen Gatten wählt, denn bisher hat sie nur Bewohner unserer Kolonie zu Gesicht bekommen. Und ein guter Schlag Menschen ist das ja, aber dennoch wäre es möglich, daß ihr das heimische Gewächs besser gefällt.«
»Für Fräulein Furst kann ich stehen.«
»Nennen Sie sie nur ruhig Florence, denn so heißt sie doch wohl in Ihren Gedanken. Also, mein lieber junger Freund, wir wollen die Sache auf ein Jahr hinausschieben. Eine förmliche Verlobung soll jetzt noch nicht stattfinden. Gefällt sie Ihnen nach einem Jahr noch und Sie auch ihr, dann wollen wir weiter darüber sprechen.«
»Darf ich sie in der Zwischenzeit sehen?«
»Warum denn nicht? Ich werde Sie wie jeden anderen Herrn, der bei uns verkehrt, behandeln. Und die Verzögerung liegt nicht allein im Interesse meiner Tochter, sondern auch in Ihrem eigenen. Sie sind ein kluger junger Mann mit glänzenden Aussichten. Innerhalb eines Jahres können Sie sich schon einen Namen gemacht haben. Nun sagen Sie selbst: Klingt es besser, daß der berühmte Herr Mac Gregor Fräulein Furst heiraten will, oder daß das reiche Fräulein Furst sich an eine Null von einem Mann wegwerfen will?«
»Wenn Sie mich als eine Null von einem Mann betrachten, Herr Furst,« rief ich höchst aufgebracht, »dann ist es doch wohl besser, wenn wir über die Sache nicht weiter reden.«
»Pst! Ist das wohl der richtige Ton, Alick? Weil ich Ihren Stolz verletzt habe, wollen Sie gleich Florence über Bord werfen!«
Ich fühlte mich beschämt und sagte ihm das auch.
»Ja, ich kenne Euch Schotten und sehe Euch auch vieles nach. Weil einer aus Eurem Geschlecht vor vielen hundert Jahren in irgend einer Schlacht tapfer gekämpft hat, meint Ihr, ein jeder aus Eurer Familie müßte mit derselben Achtung und Ehrerbietung behandelt werden, als ob er selber den elektrischen Telegraphen oder das Schießpulver erfunden hätte. Na, Sie brauchen nicht die Stirn zu runzeln, es ist ja doch nur Scherz. Ein bißchen Familienstolz schadet gar nichts. Ich muß sogar selbst sagen, daß ich mich von Stolz auf meinen Ahnherrn Fitzurse nicht ganz frei fühle, obwohl er weiter nichts getan hat, als seinen Nachkommen einen Fluch als Erbteil zu hinterlassen. Wir wollen das also als abgemacht betrachten: Ein Jahr Wartezeit, und wenn Ihr beide Euren Sinn dann nicht geändert habt, wollen wir weiter darüber sprechen.«
Ich wollte mich verabschieden. Herr Furst hielt meine Hand einige Zeit in der seinen.
»Ja, mein lieber Junge, noch ein anderer Grund läßt mir diesen Aufschub wünschenswert, erscheinen. Ueber uns schwebt ein düsterer Schatten, doch ist es ein Schatten, der sich noch verziehen kann. Ich bete zu Gott, daß Sie seine Natur niemals erfahren möchten.«
»Ich glaube erraten zu können, was Sie drückt, Herr Furst,« antwortete ich. »Sie haben mir erzählt, daß Sie Ihr Vermögen schnell erworben haben, und Sie mögen nun fürchten, es ebenso rasch wieder zu verlieren. Ich hoffe aber, daß Sie meiner Versicherung, daß ich mich bei meiner Werbung nicht durch finanzielle Beweggründe habe leiten lassen, Glauben schenken werden. Auch wenn Florence keinen einzigen Pfennig im Vermögen besäße, würde ich dessenungeachtet sie mit demselben Stolz zu meiner Gattin machen, als wenn sie Hunderttausende von Pfunden besäße. Und ich hoffe zuversichtlich, noch so vermögend zu werden, daß ich ihr ein bequemes und luxuriöses Leben werde bieten können, wie sie es mit Recht beanspruchen darf. Ja, ich würde es sogar lieber haben, wenn sie ohne Mitgift die Meine werden könnte.«
»Auf mein Wort, ich glaube Ihnen,« rief Herr Furst, mir fest in die Augen sehend. »Ja, ich glaube Ihnen. Aber damit, lieber Herr, wäre der nächsten Generation nicht sehr gedient. Nein, wenn es erst so weit sein wird, daß wir vom Ehekontrakt sprechen können, dann soll Florence auch eine Mitgift haben, die meiner Tochter würdig ist. Inzwischen aber arbeiten Sie tüchtig, damit Sie sich einen Namen machen und eine Stellung bekommen.«
»Den Namen habe ich wohl schon,« konnte ich nicht umhin zu bemerken.
»Gewiß haben Sie einen Namen, und sogar einen von recht gutem Klang,« versetzte Herr Furst. »Ich will nur noch bemerken, daß der Schatten, von dem ich gesprochen habe, mit meinem Vermögen nichts zu schaffen hat. Mehr darüber vermag ich nicht zu sagen, und wenn er größer werden sollte, müssen wir ihm mutig entgegentreten und ihn zu vertreiben suchen.«
Mit solchen Vereinbarungen zwischen uns verabschiedete ich mich bald darauf von Herrn Furst. Der Familie gegenüber durfte ich mich wohl als »versprochen« betrachten, der Welt gegenüber war ich noch frei, mit Herz und Seele war ich aber dem Abgotte meines Lebens aufrichtig ergeben.
Auf Florences Wunsch habe ich meine Erzählung wieder aufgenommen. Es ist mein erster Versuch, die Leiter, die zu Ruhm und Ehre führt, zu erklimmen.
Was aus dieser Erzählung noch werden wird, vermag ich nicht zu sagen, ja, ich weiß überhaupt noch nicht, ob sie jemals zu Ende geführt werden wird. Sollte sie aber eines Tages doch noch im Druck erscheinen, so wird sich niemand durch ihren Inhalt verletzt fühlen können, denn Namen, Personen und auch die Handlung selbst sind derart verändert, daß sie kaum wiederzuerkennen sind. Die Geschichte selbst ist aber wahr, nur ihre Charaktere sind einigermaßen umgemodelt.
Also zur Sache. Ich hatte die Fursts in Paris verlassen und befand mich in meinem Londoner Büreau. Dasselbe war sehr schön gelegen, und von seinen Fenstern aus bot sich eine hübsche Aussicht auf die Gartenanlagen, die sich jetzt auf der Südseite des Viktoria Embankment erstrecken.
Zu meinem aufrichtigen Bedauern muß ich gestehen, daß ich gerade nicht sehr von Prozessen in Anspruch genommen war. Die wenigen, die ich zu führen hatte, waren überdies auch nur sogenannte »leichte Sachen«.
Vor mehreren Jahren hatte ich das Glück gehabt, einen sehr bedeutenden Erbschaftsprozeß für den Inhaber eines großen Handlungshauses in der City zu gewinnen, und dieser Herr bewies mir dadurch seine Dankbarkeit, daß er oft durch seinen Schreiber meinen juristischen »Rat« in Anspruch nahm und mir sämtliche Prozesse, die in seinem Geschäfte vorkamen, zuwies.
Ich mußte das um so höher schätzen, als sich darunter auch viele Prozesse fanden, die gar nicht der Hilfe eines »Barristers« bedurften, sondern auch recht gut von einem »Sollicitor« allein hätten zu Ende geführt werden können.
Eben hatte ich mich in ein Aktenstück vertieft, als ich an die äußere Tür klopfen hörte. Nach einer kleinen Weile erschien mein »Klerk«, der die Funktionen des Schreibers und Büreauvorstehers in sich vereinte, in meinem Zimmer und legte eine Karte vor mich hin. Sie trug nur die Inschrift: »John Crawshaw«, ohne weiteren Titel und Adresse.
»Kennen Sie den Herrn?« fragte ich ihn.
»Nein,« erwiderte der Klerk. »Der Herr sagte selbst, sein Name würde Ihnen nicht bekannt sein, er sei aber von Herrn Wormwood an Sie empfohlen.«
»Lassen Sie ihn nur gefälligst eintreten,« sagte ich zu meinem Klerk. Ich erinnerte mich, daß Wormwood ebenfalls wie ich ein »Einpauker« war, und da er wahrscheinlich zurzeit genügend Schüler hatte, wollte er wahrscheinlich einen weiteren Bewerber einem Kollegen zuweisen.
Ich erhob mich und ging meinem Besucher entgegen. Er war ein junger Mann von ungefähr dreiundzwanzig Jahren und hatte einen auffallend dunklen Teint. Ich mußte sofort an den jungen Kreolen in Monte Carlo denken, dem er nicht unähnlich sah. Ich forderte meinen Gast auf, Platz zu nehmen.
Etwas befangen begann der junge Mann: »Zwei verschiedene Kommissionen haben mich zu Ihnen geführt, Herr Anwalt. Die erste ist einfacher Natur. Herr Wormwood, an den ich mich zuerst gewandt habe, sagte mir, daß auch Sie, Herr Mac Gregor, sich damit befassen, Herren, die sich der juristischen Laufbahn widmen wollen, auszubilden und auf das Examen vorzubereiten.«
»Kollege Wormwood hat hierin ganz recht, wenn ich mir auch nicht schmeicheln darf, nach dieser Richtung hin eine so große Praxis als er selbst zu besitzen. Immerhin darf ich mich einiger Erfolge rühmen, und wer sich fest vornimmt, unter meiner Leitung ernst und stetig zu arbeiten, braucht, wie ich wohl sagen darf, sich vor dem Examen nicht zu ängstigen. Wünschen Sie mit Ihrem Kursus sofort zu beginnen?«
»Wenn es möglich ist – wenn Sie jetzt gerade noch einen Schüler aufnehmen können?«
»Das ginge wohl,« antwortete ich. »Ich habe jetzt zufällig weniger als sonst zu tun. Auch habe ich gegenwärtig keinen Zögling, doch erwarte ich bereits für nächste Woche einen neuen.«
»Dann würde ich mich glücklich schätzen, wenn ich von Ihrer Güte Nutzen ziehen könnte. Ich würde sehr gern mit dem anderen Herrn Zusammenarbeiten. Ich besitze gute Vorkenntnisse, im römischen Recht bin ich ziemlich bewandert und auch über unser hier geltendes Recht habe ich schon mehrere Lehrbücher durchstudiert. Werde ich noch viel nachzuholen haben, um dem anderen Herrn in seiner Ausbildung gleichzukommen?«
»So weit ich ihn kenne, möchte ich eher glauben, daß Sie auf ihn zu warten haben werden,« entgegnete ich lachend. »Der junge Herr Furst besitzt nur eine sehr oberflächliche Vorbildung.«
»Furst!« rief er erstaunt aus.
»Ja, das ist der Name Ihres Mitschülers. Kennen Sie ihn vielleicht?«
»Sein Name ist mir bekannt,« antwortete er gezwungen, »und der bringt mich auch auf den anderen Zweck meines Besuchs: Ich bin vor kurzem erst aus Monte Carlo zurückgekehrt.«
»So?« entgegnete ich. »Entschuldigen Sie gütigst, darf ich indessen fragen, was das mich angeht?«
»Nur das: Ich habe dort einen gewissen Doktor Atterbutt getroffen und dieser Herr sagte mir, daß Sie, Herr Anwalt, mir über den Tod meines Onkels Näheres würden mitteilen können. Nach der Erzählung des Herrn Doktors wohnten Sie gerade zu der Zeit im Hotel Blanc, als mein Onkel sich dort das Leben nahm.«
Die Aehnlichkeit mit dem Kreolen war also leicht erklärt. Ich erwiderte ihm:
»Das tat ich allerdings. Hat Ihnen aber Herr Doktor Atterbutt nicht gesagt, daß es sich hier um eine felode-se oder vielmehr um einen Tod handelte, der infolge selbst beigebrachter Verletzung veranlaßt wurde?«
»Nein, das hat er nicht getan. Im Gegenteil, er sprach von der ganzen Geschichte recht geheimnisvoll. Herr Mac Gregor, um offen zu sein, muß ich Ihnen erklären, daß ich meinem Onkel persönlich gar nicht nahe stand. Meines Wissens habe ich ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, und damals war ich noch ein kleiner Junge. Da ich aber durch seinen Tod zu Vermögen gelangt bin, so halte ich es für meine Pflicht, mich für sein trauriges Geschick einigermaßen zu interessieren. Er sowohl, als auch seine Schwester, meine Mutter, waren portugiesischer Abstammung und in Brasilien geboren. Ich bin als Engländer erzogen worden, denn mein Vater gehörte der britischen Nation an. Ich möchte mir nur die eine Frage erlauben: Glauben Sie, daß bei dem Tode meines Onkels nicht alles mit rechten Dingen zuging?«
»Es hat doch eine regelrechte Untersuchung stattgefunden,« erklärte ich ihm, »und soweit ich urteilen konnte, ist auch alles getan worden, was getan werden konnte, um die Todesursache Ihres Herrn Onkels zu ergründen. Der Untersuchungsrichter schien darüber beruhigt zu sein; er hat sich übrigens auf Herrn Doktor Atterbutts Gutachten verlassen, das dessen feste Ueberzeugung aussprach, daß der Tod von eigener Hand erfolgt wäre.«
»Das ist aber doch recht merkwürdig,« versetzte Crawshaw, »denn, wie ich bereits erwähnt habe, hat mir der Herr Doktor ausdrücklich gesagt, daß er selbst ernste Zweifel hegen müßte.«
»Wirklich? Weswegen mag er aber diese Zweifel wohl während der Untersuchung verhehlt haben? Ich muß leider fürchten, Ihnen hierbei nicht von großem Nutzen sein zu können. Wäre es doch nicht besser, wenn Sie das Geheimnis ein Geheimnis bleiben ließen?«
»Mag sein. Der brasilianische Konsul, der meines Onkels Verwandte nicht ermitteln konnte, machte seinen Tod in den gelesensten Blättern der Welt bekannt, und durch diese Anzeigen wurde es mir als nächstem Verwandten ermöglicht, eine sehr bedeutende Erbschaft anzutreten.«
»Dazu gratuliere ich. In Monte Carlo war es allgemein bekannt, daß der Kreole, – entschuldigen Sie gütigst, ich wollte sagen, Ihr Herr Onkel, kurz vor seinem Tode recht beträchtliche Summen in dem Roulette gewonnen hatte. Und wenn man zugeben will, daß hinter seinem Tode ein Verbrechen steckt, so war es höchst rätselhaft, daß sein vieles Geld vom Mörder augenscheinlich gar nicht beachtet worden war. Ist er ermordet worden, so kann das Motiv des Mordes nur glühende Rache gewesen sein.«
»Und ich habe immer sagen hören, daß mein Onkel einer der gutmütigsten und liebenswürdigsten Menschen gewesen ist. Sein einziger Fehler soll nur seine übergroße Gutmütigkeit und Großmut gewesen sein, und einen Feind soll er nie gehabt haben.«
Unser Gespräch wandte sich dann der Beschäftigung zu, der sich Crawshaw zur Vorbereitung für sein Examen würde hinzugeben haben.
Später habe ich meinen neuen Schüler zwar sehr häufig gesehen, aber nie wieder spielte er auf den geheimnisvollen Tod seines Onkels an. Ich erkannte in Jack Crawshaw bald einen recht liebenswürdigen jungen Mann; er war ruhig, gutmütig und auch ziemlich intelligent.
So verging die Zeit; ein Tag folgte dem anderen, eine Woche der anderen, und endlich kam auch der Tag heran, an dem die Fursts nach London übersiedelten.
Auf Betreiben von Frau Furst hatte ihr Gemahl ein neu erbautes, in vornehmster Gegend belegenes, palastähnliches Haus gemietet. Es war ein sehr großes Gebäude, das mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet war. Es hatte elektrische Beleuchtung, bequeme Fahrstühle (Lifts), Türen und Fenster mit neuem Patentverschluß und dergleichen mehr.
Das Haus war nach den Angaben eines Herrn erbaut worden, der einen verbesserten Stiefelknecht erfunden und durch geschicktes Inserieren seine nützliche Erfindung so bekannt zu machen verstanden hatte, daß er sich damit ein ungeheures Vermögen erwerben konnte.
Später kaufte er sich in der Provinz ein Gut und siedelte mit seiner Familie dorthin über; um nun sein Londoner Palais nicht leer stehen zu lassen, vermietete er es mit gesamter Einrichtung und Mobiliar an Familie Furst.
Eines Nachmittags hatte ich mich der sehr angenehmen Beschäftigung, die man mit dem Ausdruck »Luftschlösser bauen« bezeichnet, hingegeben und ließ mir dabei von meiner lieben Florence helfen, als plötzlich mein zukünftiger Schwager ins Zimmer stürmte, sich auf einen Schaukelstuhl setzte und mich fragte, wann er endlich einmal ernstlich mit seinen Studien anfangen würde.
»Sobald Sie nur wollen, lieber Junge,« antwortete ich ihm, »wenn Sie Lust haben, können Sie sogar jetzt gleich anfangen. Ich habe hier Akten in meiner Tasche, die zwar für den jungen Crawshaw bestimmt sind. Wenn es Ihnen indessen recht ist, können Sie sich damit in das Bibliothekzimmer zurückziehen. Wir wollen Ihnen gern versprechen, Sie dort während der nächsten Stunden nicht zu stören.«
»Das glaube ich schon,« antwortete Robert. »Sie wollen mich gern los werden, das aber gibt's nicht. Jetzt anfangen will ich gerade nicht, ich verspüre keine Neigung dazu, und wenn es Ihnen sonst recht ist, will ich Sie lieber morgen in Ihrem Büreau besuchen. Ich möchte behaupten, daß ich nur dann vorwärts kommen kann, wenn ich meine ganze Zeit und Arbeit dem Studium widme.«
»Sehr richtig bemerkt, darin stimme ich Ihnen vollkommen bei. Wenn Sie aber jetzt keine Lust zum Arbeiten haben, brauchen Sie uns hier auch gerade nicht zu »schwächen«.«
»Ich Euch schwächen! Einbildung! Tu ich ja gar nicht. Aber sagen Sie doch mal, Alick, was ist denn das für ein Hecht, den Sie da ins Schlepptau genommen haben? Es soll ja ein reiner Nigger sein.«
»Unsinn! Er ist durchaus nicht schwärzer als sein Onkel, der, wie Sie sich wohl noch erinnern werden, während unseres Aufenthaltes in Monte Carlo dort plötzlich starb.«
»O, der ist es? Der ist ja ein bekannter Sportsmann. Also morgen soll ich ihn kennen lernen!«
Und er lernte ihn auch kennen. Am folgenden Tage erschien Robert, ich war gerade damit beschäftigt, eine Arbeit von Crawshaw durchzusehen.
»Ich freue mich sehr, Ihre werte Bekanntschaft zu machen, Herr Crawshaw,« sagte Robert, ihm kräftig die Hand schüttelnd. »Ich hoffe, wir werden gute Freunde werden.«
»Das hoffe und wünsche ich auch,« entgegnete Crawshaw, und von der Stunde an wurden die beiden jungen Leute fast unzertrennliche Freunde.
Wenn sie nicht gerade über ihren Büchern saßen, bekam ich sie nur wenig zu sehen, denn, um die Wahrheit zu gestehen, war ich für meine freie Zeit vollständig in Anspruch genommen: wie aber, das wird sich meine schöne Leserin schon selber denken können.
Ich habe schon wiederholt angedeutet, daß meine Praxis nicht sehr bedeutend war, doch hatte ich wenigstens etwas zu tun, und gelegentlich führte mich ein Prozeß auch nach dem Kriminalgericht. Ich kann jedoch nicht behaupten, daß ich für Kriminalprozesse eine besondere Vorliebe hatte.
Ein Freund von mir, dessen Büreau in demselben Hause lag wie das meinige, hatte auf längere Zeit nach der Provinz reisen müssen und mich mit seiner Vertretung beauftragt. Diese Vertretung schloß auch eine Kriminalsache in sich ein, die aber von keiner großen Bedeutung war.
Ein Mann, der seine Frau auf unmenschliche Art geschlagen hatte, sollte sich unter meinem Beistande vor zwölf seiner Mitbürger und dem Vertreter der Stadt London seines schändlichen Betragens wegen verantworten.
Ich tat mein möglichstes für ihn, unterwarf die gegnerischen Zeugen einem scharfen Kreuzverhör und jammerte über die traurigen Verhältnisse, die einen von Natur aus gutmütigen Menschen so umgewandelt hatten, daß er sich tatsächlich, wie ich zu meinem Bedauern leider zugeben mußte, seiner Frau gegenüber als ein »roher Patron« gezeigt hatte. Aber alle meine Bemühungen waren vergebens. Mein unglücklicher Klient wurde für schuldig befunden und zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt.
Es tut mir leid, berichten zu müssen, daß mein Klient die Verkündung seiner Strafe nicht mit dem Gleichmut eines Stoikers aufnahm. Im Gegenteil, eine Flut der gemeinsten Schimpfworte schüttete er über den Richter aus, und als ein kleines Zeichen seiner Dankbarkeit für meine geschickte Verteidigung versuchte er es, mir einen seiner Stiefel an den Kopf zu werfen. Unter diesen Umständen hielt ich es für geraten, mich schleunigst zurückzuziehen. Auf dem Wege zur Garderobe redete mich jemand an, dessen Gesichtszüge mir wohl bekannt vorkamen, auf dessen Persönlichkeit ich mich jedoch im Augenblick nicht entsinnen konnte.
»Kennen Sie mich wirklich nicht mehr?« fragte der Fremde.
»Ich muß gestehen, ich weiß nicht mehr, wo ich Sie hin tun soll? Wo sind wir uns schon begegnet?«
»In Monte Carlo, Herr Anwalt!«
»Bomben und Granaten!« rief ich. »Natürlich kenne ich Sie. Sie sind ja Herr Zetland.«
»Von der Kriminalabteilung der Londoner Polizei. Ich habe noch immer die Ehre, derselben anzugehören,«
»Und wie schlagen Sie sich durch in dieser bösen Welt?«
»Danke, recht gut. Es ist mir sehr lieb, daß ich Sie getroffen habe, denn ich hätte gern wieder einmal ein bißchen mit Ihnen geplaudert. Ich wollte Sie schon einmal in Ihrem Büreau aufsuchen, ich hatte aber in der letzten Zeit furchtbar viel zu tun, und ich hatte immer gehofft, daß ich Sie schon einmal im Dienste umrennen würde. Und das habe ich auch, wie Sie ja sehen, und da wir uns einmal durch einen glücklichen Zufall getroffen haben, könnten wir ja auch gleich ein Rendezvous verabreden.«
»Ich freue mich von ganzem Herzen, Ihnen wieder einmal zu begegnen, mein lieber Herr Zetland. Kann ich Ihnen in irgend etwas dienen?«
»Ich danke Ihnen vielmals. Indessen darf ich vielleicht sagen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Ich hoffe eher, Ihnen von Nutzen sein zu können.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Ja, das ist eine ziemlich lange Geschichte, und ich sehe, Sie haben heute ebensoviel zu tun wie ich selbst. Könnten Sie mir vielleicht Freitag nachmittag, sagen wir zwischen drei und vier Uhr, ein halbes Stündchen schenken?«
»Mit größtem Vergnügen. Ich bin um diese Zeit in meinem Büreau. Sie wissen doch, wo sich dasselbe befindet?«
»Gewiß. Oak Apple Buildings, Temple. Ich bin pünktlich dort.«
Und damit gingen wir auseinander. Ich begab mich nach der Garderobe, vertauschte dort die mittelalterliche Amtsgewandung mit dem modernen Alltagskleid und schlenderte die Fleet-Straße hinunter.
Ich war noch nicht weit gegangen, als es mir einfiel, lieber über das Victoria Embankment nach meinem Büreau zu gehen. Ich ging daher eine der Straßen, die zur Themse führen, hinunter und war bald am Strome angelangt.
Es war im Spätherbst oder vielmehr schon im Anfang des Winters, und von den Bäumen war bereits das Laub gefallen. Ein Nebel verhüllte die Boote, die auf dem Flusse verkehrten und die im übrigen auch nur mit wenig Personen besetzt waren.
Ich muß gestehen, auf mich übt der Strom stets einen eigenen Zauber aus, und ich kann nie müde werden, seinen Verkehr zu beobachten.
Ich stand am Geländer, das Gesicht nach Westminster zugekehrt, als ich der Anwesenheit zweier Herren bewußt wurde, die in meiner nächsten Nähe standen und sich eifrigst unterhielten.
»Ich kann Ihnen nur sagen,« ließ sich die Stimme des einen vernehmen, »daß es Ihre Pflicht ist, die Sache nicht ruhen zu lassen. Sie haben eine Spur gefunden, und die müssen Sie auch verfolgen. Nicht eher dürfen Sie den Mörder loslassen, als bis Sie ihn in Newgate hängen sehen.«
»Darin kann ich Ihnen nicht beistimmen,« erwiderte der andere, wie mir scheinen wollte, in ärgerlichem Tone. »Ich kann noch nicht einsehen, daß hier irgend welcher Beweis vorliegt. Und außerdem bin ich jetzt ein Freund der Familie und ich möchte derselben nicht gern ein Leid zufügen.«
Schon die erste Stimme war mir bei den ersten Worten bekannt vorgekommen; jetzt waren aber auch die geringsten Zweifel beseitigt. Ich wußte, daß die zweite Stimme meinem Schüler Jack Crawshaw gehörte. Ich drehte mich um und begrüßte ihn.
»Was tun Sie denn hier?« fragte ich ihn in einem so strengen Tone, als er mir nur zu Gebote stand. »Sie sollten lieber dort drüben bei Ihren Büchern sitzen und tüchtig arbeiten. So werden Sie Ihren Aufsatz: »Ueber die Formalitäten bei der Todeserklärung »Verschollener« freilich nicht fertig bekommen.«
»Ich wollte mir nur von diesem Herrn, der, wie ich glaube, Ihnen auch bekannt sein wird, eine Auskunft erbitten.«
»O gewiß, Herr Alick Mac Gregor ist ein alter Freund von mir, und ich freue mich, seine Bekanntschaft zu erneuern.«
»Herr Doktor Atterbutt!« rief ich aus, als ich meinen Bekannten aus Monte Carlo erkannte.
»Wie Sie sehen, in höchsteigener Person. Zero hat mir einen Streich gespielt und ich hatte »Pech«. Ich hatte ein prächtiges »System«, eins, womit man unfehlbar gewinnen mußte. Da trat die böse Zero dazwischen und trat alle meine Berechnungen über den Haufen. So habe ich nun glücklich mein ganzes Geld verspielt, und ich bin jetzt nach London gekommen, um frische Zufuhr zu holen.«
Da mir jetzt der Doktor von meinem Schüler, den ich sehr hoch schätzte, vorgestellt worden war, so gab ich mir die größte Mühe, seine Vertraulichkeiten mit einer gewissen Herzlichkeit zu erwidern. Ich muß jedoch fürchten, daß mir das nur schlecht gelang, denn ich fühlte eine Abneigung gegen ihn, die ich mir zwar selbst nicht erklären, die ich aber auch nicht überwinden konnte.
Ich stammelte einige konventionelle Phrasen, in denen ich mich nach seinem Befinden erkundigte.
»Danke bestens. Ich befinde mich so ziemlich wohl, nur die Londoner Nebel kann ich nicht leiden, und ich muß gestehen, daß ich doch viel lieber an der Riviera geblieben wäre. Was soll man aber tun? Denn es handelt sich doch nur um eine reine Geldfrage, und wenn ich meine Börse wieder gefüllt haben werde, was, wie ich hoffe, bald geschehen sein wird, fahre ich wieder zurück.«
Ich erwiderte mit irgend einem Gemeinplatz und fragte dann Crawshaw, ob er mich in mein Büreau begleiten wollte, um dort seine Studien fortzusetzen.
»Lassen Sie sich durch mich nicht in Ihrer Arbeit abhalten,« meinte Herr Doktor Atterbutt. »Ich habe Ihnen meine Meinung über den Gegenstand, den wir miteinander besprachen, gesagt. Schließlich ist es ja doch nur eine Geschäftssache. Eile ist dabei gar nicht vorhanden. Also brauchen Sie sich jetzt darüber nicht zu sehr den Kopf zu zerbrechen. Auf baldiges Wiedersehen!«
Mir noch freundlich zunickend, trollte sich der Doktor davon, und Crawshaw und ich schlugen den Weg nach meinem Büreau ein.
Eine Zeitlang gingen wir schweigend nebeneinander. Dann hielt ich es für geraten, die Unterhaltung zu eröffnen.
»Sie dürfen keineswegs glauben, Crawshaw, daß es in meiner Gewohnheit liegt, fremde Gespräche zu belauschen. Ohne daß ich es indessen wollte, war ich Ohrenzeuge von dem, was Herr Doktor Atterbutt zu Ihnen sagte. Was meinte er mit seiner Anspielung auf die Tragödie von Monte Carlo?«
»Darüber möchte ich lieber nicht sprechen,« erwiderte er stockend. »Er gab mir einen Rat, den ich jedoch nicht zu befolgen gedenke.«
»Sie müssen ja selber am besten wissen, was Sie tun,« erwiderte ich, der ich über seine Zurückhaltung verstimmt war. »Mich geht die Sache im übrigen auch gar nichts an. Sind Sie sich denn schon über den Unterschied zwischen einer Erbschaft und – nun sagen wir – einem zufälligen Anheimfallen klar geworden?«
»Ich muß fürchten, daß Sie mich für recht undankbar halten werden, ich weiß aber in der Tat nicht, ob ich ein Recht habe, mit Ihnen über die Angelegenheit, über die ich mich mit Herrn Doktor Atterbutt unterhielt, zu sprechen. Sie werden selbst wissen, daß, seitdem ich die Ehre habe, bei Ihnen verkehren zu dürfen, ich nicht nur Bob Furst, sondern auch dessen Fräulein Schwester kennen gelernt habe.«
Er brachte die Worte nur zögernd hervor, besonders aber bei der Stelle, als er Florences Erwähnung tat.
Ich sah ihn scharf an. Wenn ich auch bei mir behaupten darf, daß ich von dem Fehler der Eifersucht frei bin, so muß ich doch gestehen, daß sich in diesem Augenblick meiner ein Gefühl der Eifersucht bemächtigte. Mein Verhältnis zu Florence war ganz eigener Art.
Gemäß den mit ihrem Vater getroffenen Vereinbarungen war unsere quasi Verlobung eine Sache, die vollständig unter uns blieb. Trafen wir uns in Gesellschaft oder in Gegenwart dritter, so war ich »Herr Mac Gregor« und sie »Fräulein Furst«, und wir gaben uns Mühe, uns eines recht steifen Benehmens einander gegenüber zu befleißigen. Denn nur durch ein solches Benehmen konnten wir die Bedenken, die Herr Furst gegen jedwede Begegnung von uns beiden hatte, beseitigen.
Selbstverständlich hatte ich auch kein Recht, Crawshaw sagen zu dürfen, daß, wenn alles in Ordnung sei, ich nach Ablauf eines Jahres der Gemahl von Florence sein würde.«
»Ja, Fräulein Furst hat mir erzählt, daß Sie ihr vorgestellt worden sind,« entgegnete ich. »Haben Sie auch Herrn Furst senior kennen gelernt?«
»Noch nicht,« erwiderte er lachend. »Ich kann mir den Grund hierfür nicht erklären, aber es will mir so scheinen, daß sowohl Frau Furst als auch Fräulein Florence es stets mit Absicht so einzurichten wußten, daß ich dem alten Herrn Furst noch nie, begegnet bin. Heute abend hoffe ich aber, daß mir der Vorzug werden wird, ihn kennen zu lernen. Bob hat mich eingeladen, im engsten Familienkreise am Diner teilzunehmen. Sie kommen doch auch, nicht wahr?«
»Gewiß,« antwortete ich. »Wir werden uns also auch später wiedersehen. Was? Sie wollen jetzt nicht zu Ihren zivilrechtlichen Studien zurückkehren?«
»Nein, ich habe heute keine Lust. Schon den ganzen Tag über quälen mich entsetzliche Kopfschmerzen, und ich bin daher zum Arbeiten nicht aufgelegt. Offen gestanden, Herr Mac Gregor, muß ich Ihnen gestehen, daß mich Herr Doktor Atterbutt mit dem, was er mir sagte, stutzig gemacht hat, und ich möchte mir die Sache ordentlich durch den Kopf gehen lassen.«
»Ich verstehe, und da ich Ihnen dabei nicht helfen kann, müssen Sie schon allein damit fertig zu werden suchen. Aber folgen Sie meinem Rate, Crawshaw: Tun Sie nichts ohne vorherige sehr reifliche Ueberlegung. Ich kann nichts gegen Herrn Doktor Atterbutt sagen, außer daß ich sehr mißtrauisch gegen ihn bin, und weswegen ich ihn so wenig leiden mag, ist mir eigentlich selbst ein Rätsel.«
»Sie können überzeugt sein, Herr Mac Gregor, daß, wenn ich irgendwie in Verlegenheit kommen sollte, ich mich an Sie wenden werde, nicht nur als Freund, sondern auch als einen Anwalt, auf dessen Rat und Urteil man sich unbedingt verlassen kann.«
»Adieu. Wir treffen uns also in Richmond Gardens.«
Meine Zeit füllte ich so gut aus, wie ich konnte, bis die Stunde herankam, in der ich Toilette machen mußte. Ich war recht übel gelaunt.
Weswegen versuchten Florence und ihre Mama eine Begegnung Crawshaws mit Herrn Furst zu verhindern? Als ich mir die Unterhaltung mit meinem Schüler ins Gedächtnis zurückrief, kam ich auch zu der Ueberzeugung, daß meine Braut tatsächlich nichts zu Herrn Crawshaw gesagt hatte, was mir auch nur im entferntesten Grund zur Eifersucht hätte geben können.
Jetzt fiel es mir auch ein, daß sie mir gegenüber seiner Erwähnung getan hatte, und da wir für gewöhnlich angenehmere Themata in unserer Unterhaltung behandelten, so war es gewiß nicht weiter auffällig, daß eine solche gelegentliche Erwähnung keinen bleibenden Eindruck auf mich gemacht hatte.
Um sieben Uhr fand ich mich in Richmond Gardens, wo Familie Furst wohnte, ein. Florence und Frau Furst erwarteten mich im Salon und schienen sich, ebenso wie Robert, über mein Erscheinen sehr zu freuen.
»Hör' mal, verehrte Frau Mama,« begann der vielversprechende junge Mann, »meinem alten Herrn habe ich für heute abend eine Ueberraschung zugedacht. Ich habe Jack Crawshaw zum Diner eingeladen.«
Auf Frau Furst wirkte diese Ankündigung höchst sonderbar. Ihre Züge verfärbten sich, bevor sie aber noch ein Wort erwidern konnte, trat ihr Gemahl in den Salon.
Er war sehr gut aufgelegt und gesprächig. Die Geschäfte, die ihn nach der City geführt hatten, schienen einen guten Verlauf genommen zu haben, und infolgedessen befand er sich bei bester Laune.
»Ich habe eben der Mama gesagt,« wandte sich Bob an ihn, »daß ich einen lieben Kameraden, Herrn Jack Crawshaw, für heute zum Diner eingeladen habe.«
»Freue mich stets, wenn ich Deine Freunde kennen lerne, lieber Junge. Und wie geht es Ihnen, mein lieber Herr Mac Gregor? Noch immer nicht als Kandidat für das Parlament aufgestellt?«
In diesem Augenblick meldete ein Diener: »Herr Jack Crawshaw«. Herr Furst, der zur Tür schritt, um seinen Gast zu bewillkommnen, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Ich konnte sein Gesicht im Spiegel sehen; er war kreideweiß geworden. Er verstand es jedoch, seine Erregung zu bemeistern, und das Diner nahm den üblichen Verlauf. Außer, daß er vielleicht etwas mehr Wein trank, als es wohl sonst seine Art war, war an Herrn Furst nichts Auffälliges zu bemerken. Wir verweilten bis gegen elf Uhr und wollten dann aufbrechen.
»Mac Gregor,« sagte Herr Furst zu mir, nachdem er sich von Crawshaw verabschiedet hatte, »würden Sie die Güte haben, sich auf fünf Minuten nach meinem Arbeitszimmer zu bemühen. Ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen.«
Ich folgte ihm in sein Allerheiligstes. Hilflos ließ er sich in einen Lehnsessel fallen, und während der nächsten Minuten war er keines Wortes mächtig.
Er sah sehr bekümmert aus, und kaum hörbar sprach er vor sich hin:
»Wird denn das nie aufhören?«
Dann goß er sich ein Glas Kognak aus einer Flasche ein, die in einem Service vor ihm auf dem Tische stand. Rasch stürzte er ihn hinunter und sagte dann zu mir:
»Mac Gregor, ich weiß nicht, wie dieser Mensch meinem Sohne begegnen konnte, aber um des Himmels willen bitte ich Sie, bringen Sie sie auseinander –, bringen Sie sie wieder auseinander.«
Und dann ließ er sich wiederum in seinen Sessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Es war ein schrecklicher Anblick für mich, ihn so schwach zu sehen!