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[5.]

Das Gefühl des Abscheus, mit dem ich den Worten des Mannes, der sich fälschlich Doktor Atterbutt genannt, zugehört hatte, machte beim Lesen des Briefes, den er mitgebracht hatte, dem der Furcht Platz.

Ich wußte wohl, daß Herr Furst sich in einem Zustande nervöser Aufgeregtheit befand, zu einem solch dringenden Hilfeschrei konnte ihn aber nur eine plötzlich hereingebrochene und ihn unmittelbar bedrohende, große Gefahr veranlaßt haben.

In größter Eile beendete ich die Arbeit, die ich gerade vorhatte, und verließ dann mein Büreau.

Als meine Droschke in Richmond Gardens vorfuhr, fiel mir schon der ernste Ausdruck des Dieners auf, der mir die Tür öffnete.

»Der Herr ist sehr krank und darf niemand sehen,« erzählte er. »Der Arzt hat aufs strengste anbefohlen, daß er nicht gestört werden darf.«

»Dann melden Sie mich gefälligst Fräulein Furst.«

Der Diener führte mich in den Salon und zog sich auf mein Geheiß zurück.

Ungeduldig ging ich im Zimmer auf und ab. Nach einigen Minuten kam Florence zu mir, und an ihren dicken Augenlidern konnte ich sehen, daß sie geweint hatte.

»Was ist denn bei Euch los, mein lieber Schatz?«

»Ach, teuerster Alick, Papa ist so krank. Eben ist der Arzt weggegangen. Ich weiß nicht, was wir machen sollen. Er phantasiert und erkennt keinen von uns. Fortwährend wiederholt er Bobs Namen, und wenn das eine Weile gedauert hat, ruft er nach Dir. Ich habe bis jetzt an seinem Bette gesessen, und das Herz will mir brechen, wenn ich ihn so hören und sehen muß.« Und von neuem brach das arme Mädchen in Tränen aus.

Soweit ich es vermochte, suchte ich sie zu trösten.

»Du solltest mich haben rufen lassen, Schatz,« sagte ich im Tone leisen Vorwurfes zu ihr.

»Der Arzt wollte das nicht erlauben. Er meinte, daß es besser wäre, wenn Mama und ich an seinem Krankenbette säßen und kein Fremder zu Papa käme. Ja, nicht einmal eine Pflegerin durften wir nehmen. Und wenn Du kämest, soll ich Dir vom Doktor bestellen, daß Du ihn besuchen mögest.«

»Dann, lieber Schatz, wäre es wohl das beste, wenn ich jetzt gleich zu ihm ginge,« meinte ich.

Mit tränenerstickter Stimme erzählte sie weiter: »Da muß irgend ein furchtbares Geheimnis sein, von dem wir nichts wissen. Die arme Mama ist ganz außer sich vor Kummer und Gram. Ach, was sollen wir tun, was sollen wir tun?«

»Hat Bob schon Papa gesehen?«

»Nein, Herr Doktor Aunsett hat es ausdrücklich verboten, daß er das Krankenzimmer betreten soll. Der arme Junge ist deswegen ganz traurig. Und fortwährend ruft Papa: »Was wird er tun? Was wird er tun?« Es ist schrecklich, das mit anhören zu müssen.«

»Du darfst nicht vergessen, lieber Schatz, daß Papa nicht weiß, was er sagt. Im Fieberwahn irrt der Geist umher, das Gehirn vermag nur unvollständig seine Funktionen auszuüben, und was die Zunge in einem solchen Zustande spricht, ist absolut wertlos.«

»Ja, das mag ja so sein, aber furchtbar schrecklich bleibt es nichtsdestoweniger doch. Wie bekommst Du es fertig, dabei so gefaßt zu erscheinen und so ruhig zu sprechen, Alick?«

»Ist es nicht viel besser, wenn ich ruhig und gefaßt bin? Es handelt sich hier vielleicht um nichts Geringeres als um Papas Leben, und brauchen wir nicht da alle unsere Kräfte, um die Gefahr abzuwehren, die ihn bedroht? Sei tapfer, mein liebes Mädchen!«

»Ach, lieber Alick, ich weiß ja selber, daß ich ungerecht, daß ich unvernünftig bin. Ich fühle mich aber so schrecklich elend.«

»Halt' nur den Kopf hoch, mein Liebchen,« tröstete ich sie, »es wird schon alles wieder gut werden. Schon seit lange ist Papa krank. Es ist gar kein Zweifel, daß das Geräusch und der Lärm des Stadtlebens mit seiner unvermeidlichen Aufregung ihn angegriffen hat. Ich darf mich aber nicht länger verweilen, denn wenn der Arzt mich zu sprechen wünscht, muß ich sofort zu ihm.«

»Du willst mich verlassen?«

»Aber Florence!«

»Nein, – nein. Ich weiß ja, Du hast recht. Aber was sollen wir tun, – was sollen wir tun?«

»In den zukünftigen Tagen, lieber Schatz, wenn wir beide vereint den Kampf des Lebens zu führen haben werden, werden wir auch manche Prüfung zu bestehen haben. Auch das ist eine Prüfung; wir wollen sie zusammen zu ertragen suchen.«

»Ich will tapfer sein, Alick; ja, ich will tapfer sein,« rief sie. »Ich will jetzt in Papas Zimmer gehen und der armen Mama helfen. Du kannst Dir aber gar nicht denken, wie entsetzlich sich sein Schreien anhört!«

»Sag' mir doch, bitte, wo Herr Doktor Aunsett wohnt?«

Sie gab mir seine Adresse. Beim Abschiede versuchte zwar das arme Mädchen zu lächeln, es wollte aber nicht gehen. Mit einem unterdrückten Seufzer sagte sie mir Lebewohl.

Das Haus, in dem Doktor Aunsett wohnte, lag in der Nähe. Ich wurde in sein Sprechzimmer gewiesen.

An den Wänden standen mit Büchern gefüllte Regale; auf dem Schreibtische lagen verschiedene Papiere. Aus der tadellosen Ordnung, in der sich Bücher und Papiere befanden, gewann ich die Ueberzeugung, daß Doktor Aunsett ein ruhiger und wohl auch pedantischer Herr sein mochte.

Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, erschien Herr Doktor Aunsett. Er war ein ernst aussehender Mann in den besten Jahren.

Er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und nahm sich dann selbst einen Stuhl.

»Herr Alexander Mac Gregor?« redete er mich an, nachdem er einen Blick auf meine Karte geworfen hatte. »Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Fräulein Furst, die Tochter eines Ihrer Patienten, sagte mir, daß Sie mich zu sprechen wünschen, Herr Doktor.«

»Ja, ja, ich erinnere mich,« antwortete er in einem gemessenen Tone, der zu der erregten Stimme von Florence in einem auffallenden Gegensatze stand, »ich erinnere mich, daß ich es nicht erlaubt habe, daß Sie das Krankenzimmer betreten sollten. Der Fall ist sehr ernst und erfordert die sorgsamste Behandlung.

Ich möchte Sie jedoch nicht glauben lassen, mein verehrter Herr, daß meinem Verbote irgend eine Unhöflichkeit oder ein Mißtrauen gegen Sie zugrunde liegt. Es liegt mir das vollkommen fern. Nur im Interesse meines Patienten habe ich diese Anordnung treffen müssen.«

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen wünschten, Herr Doktor?«

Durch seine doppelten Augengläser fixierte er mich scharf, als ob er in meiner Seele lesen wollte, dann spielte er mit seiner Uhrkette.

»Nein, es ist nicht alles, was ich Ihnen zu sagen wünschte. Würden Sie es mir gütigst verzeihen, wenn ich mir die Freiheit nehme, Ihnen einige Fragen vorzulegen. Sie wissen doch, daß Aerzte und Geistliche in dieser Beziehung ein gewisses Vorrecht besitzen. Ich hoffe, Sie werden meine Fragen nicht indiskret finden, wenn ich Ihnen hiermit die ausdrückliche Versicherung gebe, daß mein Beruf mich dazu veranlaßt, und daß sie sämtlich im Interesse meines Patienten liegen.«

Ich gab ihm meine Zustimmung durch eine Verbeugung zu erkennen.

»Herr Furst ist mein Patient,« fuhr er fort, noch immer mit seiner Uhrkette spielend, »und ich betrachte ihn nur als einen »Fall«, allerdings als einen sehr interessanten und selten vorkommenden Fall. Seine Privatangelegenheiten gehen mich nichts an, meine Aufgabe ist es nur, ihn am Leben zu erhalten zu suchen. Er hat eine Frau und eine Tochter.«

»Auch einen Sohn,« warf ich ein.

»Ganz recht, auch einen Sohn, und um ihretwillen glaube ich nicht meine Pflichten als Mensch zu überschreiten, wenn ich mich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen befasse. Aus Ihrer Karte ersehe ich, daß Sie Rechtsanwalt sind?«

»Ich bin Barrister.«

»Sie unterscheiden ja sehr genau,« bemerkte er mit einem ironischen Lächeln. »Als Barrister sind Sie also ein Mann, der das Gesetz kennt, und ich hoffe, daß Sie mir beistimmen werden, wenn ich Ihnen sage, man kann nie vorsichtig genug sein.«

Die gemessene und umständliche Art, in der sich der Doktor auszudrücken beliebte, machte mich nervös; ich hielt jedoch an mir und erwiderte nur, daß ich ihm beistimme.

»Darf ich fragen, in was für einem Verhältnisse Sie zur Familie Furst stehen? Sind Sie schon lange mit ihnen befreundet?«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Nein, das sind Sie also nicht. Können Sie sich aber vielleicht erklären, weswegen Herr Furst so häufig Ihren Namen in seinen Phantasien nennt?«

»Weil ich eines Tages, vorausgesetzt, daß sich bis dahin gewisse Bedingungen erfüllt haben werden, ein Glied seiner Familie zu werden hoffen darf.«

»Dann sind Sie also jetzt noch nicht verheiratet?«

»Nein!« Nach einer kleinen Pause fuhr ich fort: »Ich darf Sie wohl daran erinnern, Herr Doktor, daß wir hier eine vertrauliche Unterhaltung pflegen?«

»Jede Unterhaltung, Herr Anwalt, die ich in diesem meinem Sprechzimmer führe, betrachte ich als vertraulich.«

»Ich hoffe, eines Tages sein Schwiegersohn zu werden.«

»Und Herr Furst ist damit einverstanden?«

»Ich will offen mit Ihnen reden, Herr Doktor.«

»Ich bitte darum.«

»Meine Verlobung soll nach Jahresfrist offiziell werden, wenn es dann noch der Wunsch der jungen Dame ist, sich mit mir verloben zu wollen.«

»Hm, hm, ich verstehe. Und die Eltern der jungen Dame billigen dieses Übereinkommen?«

»Vollständig. Ich möchte indessen glauben, Herr Doktor, daß diese Erörterungen überflüssig sind.«

»Das glaube ich nicht, denn jetzt habe ich noch ein anderes Interesse außer demjenigen, das mir mein Beruf auferlegt hat, zu wahren, – nämlich Ihr eigenes.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Doktor,« antwortete ich stolz, »ich sollte aber meinen, daß ich Sie meinetwegen nicht zu bemühen brauche.«

»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Anwalt, aber darüber zu entscheiden müssen Sie mir schon gestatten. Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis will ich meine Fragen fortsetzen. Ich werde Ihre Geduld nicht mehr lange in Anspruch nehmen, denn nur noch über einige wenige Punkte möchte ich Sie um Auskunft bitten. Hatten Sie jemals einen Streit mit Herrn Furst?«

»Nie, im Gegenteil. Wir standen stets miteinander auf freundschaftlichem Fuße.«

»Seltsam, sehr seltsam,« sagte er zu sich. »Dabei wiederholte er fortwährend Ihren Namen.«

»Wenn Sie darüber irgend welchen Zweifel haben,« bemerkte ich, »so bitte ich Sie, diesen Brief zu lesen, der mir erst vor einer Stunde überbracht worden ist.«

Gleichzeitig überreichte ich ihm das Billet, das der falsche Doktor Atterbutt auf meinem Schreibtische hatte liegen lassen.

Doktor Aunsett öffnete das Couvert und las den Brief recht langsam und bedächtig. Dann steckte er ihn wieder in das Couvert.

»Wie ich sehe, sind Ihnen diese Zeilen nicht durch die Post zugegangen?«

»Nein. Es hat sie mir ein Herr überbracht, den Herr Furst um diesen Dienst gebeten hatte.«

Erst jetzt schien er an unserer Unterhaltung ein reichliches Interesse zu nehmen, denn bisher hatte er sie in recht sorgloser Weise geführt.

»Können Sie mir auch sagen, wie der Herr heißt, der Ihnen den Brief überbracht hat?«

»Nein,« erwiderte ich, »obgleich ich ihn recht gut kenne.«

»War es ein Bedienter?«

»Nein, ein Herr, den ich zufällig in Monte Carlo kennen gelernt habe.«

»Leute, die man zufällig in Monte Carlo kennen lernt, pflegen sehr häufig nicht die ehrenwertesten und achtbarsten unserer Bekannten zu sein. Dieser Herr mag aber vielleicht eine Ausnahme von dieser Regel bilden?«

»Durchaus nicht. Nach dem, was ich von diesem Menschen gesehen habe, nehme ich keinen Anstand, ihn als einen vollendeten Schurken zu bezeichnen. Und meine Meinung über ihn wird auch dadurch unterstützt, daß, wie ich inzwischen erfahren habe, der Name, unter dem ich ihn in Monte Carlo kennen lernte, ein angenommener war. Er gab sich dort als Doktor Atterbutt aus.«

»Wie ich bemerke, haben Sie bereits erfahren, daß Doktor Atterbutt, der arme Kerl, vor drei Jahren gestorben ist. Glauben Sie vielleicht, daß dieser Bote auf Herrn Furst irgendwelchen Einfluß ausübt?«

»Das weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, daß bei einer gerichtlichen Untersuchung, bei der wir unser Zeugnis abzugeben hatten, er auch vernommen wurde.«

»Und was war das für eine Untersuchung, bei der Sie und er Zeugenaussagen zu machen hatten?«

»Ein Herr in dem Hotel, in dem auch wir wohnten, war eines Morgens tot in seinem Bett aufgefunden worden, und bei der üblichen gesetzmäßigen Untersuchung, die eingeleitet wurde, hielt man dafür, daß der Mann sich das Leben genommen hatte.«

»Sie sagen: »Hielt man dafür?« Weswegen sagen Sie »hielt«?«

»Weil der Beweis, der dafür erbracht wurde und der ausschließlich auf Indizien beruhte, nicht überzeugend war.«

»Was kann es denn aber sonst gewesen sein, wenn es kein Selbstmord war?«

»Nun, es hätte auch ein Mord gewesen sein können.«

Es entstand jetzt eine Pause in unserer Unterhaltung. Herr Doktor Aunsett spielte wiederum mit seiner Uhrkette, und nachdenklich zog er die Stirn in tiefe Falten.

»Herr Mac Gregor,« nahm er endlich das Wort, »ich muß Ihnen bemerken, daß jeder, der dieses Zimmer betritt, fast immer meinen Rat in Anspruch nimmt, heute muß ich aber fürchten, daß die Sache umgekehrt liegt. Ich muß Sie nämlich um Ihren Rat bitten. Setzen wir einmal den Fall, Herr Anwalt, daß wir entdeckt haben, daß der in Rede stehende Selbstmord tatsächlich ein Mord war, und daß wir den Mörder entdeckt haben, wäre es dann unsere Pflicht, ihn den Gerichten zu übergeben?«

»Wenn wir uns in Monaco aufhielten, müßten wir es tun; in England brauchen wir es aber nicht. Würde aber der Mörder der fremden Regierung ausgeliefert, so würden wir wohl als Zeugen vorgeladen werden und müßten der Aufforderung auch Folge leisten. Aber weswegen fragen Sie?«

»Weil ich so genau weiß, wie man etwas überhaupt genau wissen kann, daß der Unglückliche, von dem Sie gesprochen haben, ermordet worden ist, und daß ich auch einen Mitschuldigen an seinem Morde ausfindig gemacht habe.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Dann, verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit, sind Sie entweder schwer von Begriffen, oder Sie lassen Ihre persönlichen Empfindungen über Ihr Urteil die Oberhand gewinnen. Kurz, ich müßte mich sehr täuschen, wenn Herr Furst, Ihr zukünftiger Schwiegervater, nicht an jenem Morde beteiligt war.«

»Unmöglich!« rief ich empört.

»Unmöglich nicht – vielleicht unwahrscheinlich – aber nicht unmöglich.«

»Eines derartigen Verbrechens ist er übrigens vollkommen unfähig,« wandte ich weiter ein, »und er hat auch nicht das Opfer vom Sehen gekannt. Irgend ein Grund zu einem solchen Verbrechen lag nicht vor. Ich wette um mein Leben, daß er unschuldig ist.«

»Haben Sie vielleicht je erfahren, was Spielen in Monte Carlo bedeutet? Sie sprechen so zu mir, Herr Mac Gregor, als ob Sie der Bräutigam von Herrn Fursts Tochter und nicht ein Rechtsanwalt wären, der doch gewohnt ist, Tatsachen zu prüfen und daraus seine Schlüsse zu ziehen.

Verzeihen Sie mir, wenn ich so deutlich mit Ihnen rede, aber Sie müssen sich, ebenso wie ich es bin, vollkommen darüber klar werden, daß es sich um eine Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit, um eine Frage über Leben oder Tod handelt. Beruhigen Sie sich, bitte, und lassen Sie uns vollkommen leidenschaftslos über diesen Fall sprechen. Sie sagten, daß Herr Furst den Mann kaum vom Sehen kannte. Zeigte er sich etwa aufgeregt, als er den Todesfall erfuhr?«

Ich gab hierauf keine Antwort, denn ich mußte daran denken, daß Herr Fürst in Ohnmacht fiel, als er von der Tragödie hörte.

»Nun, ich will nicht weiter in Sie dringen. Sie sehen selbst, wie der Fall liegt. Aus den Reden, die er in seinen Fieberphantasien führt, habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß er jedes Detail des Mordes kennt. Wie kann er die aber erfahren haben? Entweder hat er mit eigenen Augen gesehen, wie der Mord begangen wurde, oder aber –, nun, die andere Möglichkeit sich auszumalen, will ich Ihnen lieber selbst überlassen.«

Auch jetzt antwortete ich nicht, denn die Worte des Doktors hatten mich doch stutzig gemacht. Kann es wirklich möglich sein? Nein und tausendmal nein! Mein Inneres empörte sich bei diesem Gedanken.

»Herr Doktor, ich meinerseits habe die feste Ueberzeugung, daß Ihr Verdacht vollständig unbegründet ist. War das alles, was Sie mir zu sagen hatten?«

»Nein, das war noch nicht alles, mein lieber Freund, denn ich gestatte mir, Sie so zu nennen, weil ich an Ihrer schmerzlichen Lage den gleichen innigen Anteil nehme, den ich auch Frau Furst und ihren Kindern entgegenbringe. Es ist eine sehr ernste Sache. Sie haben recht, es ist ja möglich, daß mein Patient vollkommen unschuldig und weder mit diesem noch mit einem anderen Verbrechen etwas zu schaffen hat. Und ich würde Gott danken, wenn ich auch so denken könnte.

Jetzt aber spreche ich als Arzt zu Ihnen. Auf seiner Seele lastet ein schreckliches Geheimnis. Er ist nicht mehr er selbst, und ich muß Ihnen leider erklären, daß, wenn er sich auch nochmals von seinem jetzigen schweren Wahnsinnsanfalle erholen sollte, er doch für immer geistig gestört bleiben wird. Nur eine einzige Möglichkeit gäbe es, die seinen Geist wieder ins Gleichgewicht bringen könnte. Das wäre die Entdeckung des Mörders. Würden Sie sich vielleicht der schwierigen Ausgabe unterziehen wollen, den Mörder ausfindig zu machen?«

»Ich würde nichts tun, das im Interesse liegt eines –«

»Aber, es liegt doch auch in Ihrem Interesse, und deswegen tun Sie es vielleicht doch,« unterbrach er mich. »Bedenken Sie wohl, daß, wenn mein Verdacht sich bewahrheiten sollte, so wird das, was jetzt noch bloße Vermutung ist, zur Gewißheit. Ich habe Vorkehrungen getroffen, daß niemand, die eigenen Familienglieder ausgenommen, sich dem Patienten nahen darf. Es wird ein gefährliches Experiment sein – ein sehr gefährliches Experiment sogar.«

»Herr Doktor, ist es vielleicht möglich, daß es sich hier um eine Selbsttäuschung handelt? Kann es wohl sein, daß die Ereignisse jener schrecklichen Nacht den Geist Ihres Patienten getrübt haben? Ich habe von solchen Fällen schon gehört.«

»Gewiß ist es möglich, aber im höchsten Grade unwahrscheinlich.«

»Ist das auch möglich, daß der Mord vielleicht in einem bewußtlosen Zustande des Täters verübt worden ist?«

»Meiner Meinung nach ganz entschieden nicht. Ich kenne jedoch wenigstens einen Kollegen, der meiner Auffassung darüber widerspricht. Nach Doktor Schwinks Ansicht freilich – Aber weswegen erschrecken Sie bei Nennung dieses Namens so sehr?«

»Weil dieser Herr Doktor Atterbutts Sozius in Nettleford war, und ich mir bereits vorgenommen hatte, ihn zu besuchen – natürlich in einer anderen Sache.«

»Dann können Sie ja zwei Fliegen mit einem Schlage töten. Da ich Ihnen aber jetzt alles gesagt habe, was ich Ihnen sagen wollte, so muß ich das Weitere Ihrem eigenen Ermessen überlassen.

Was Herrn Furst anbetrifft, so werde ich selbstverständlich alles, was in meinen Kräften steht, für ihn tun, und ich hoffe noch, daß sein Fall vielleicht doch nicht sich so ernst erweisen wird, wie ich ursprünglich fürchtete. Jedenfalls ist es aber besser, wenn Sie und sein Sohn ihn vorerst noch nicht sehen. Er erkennt auch niemand. Beiläufig gefragt, hat der Sohn auf seinen Vater Verdacht?«

»Selbstverständlich nicht.«

»Dann halten Sie ihn gefälligst fern von Herrn Furst. Für Ihre Handlungsweise brauchen Sie ihm ja keinen Grund anzugeben. Das beste wäre es sogar, wenn Sie beide die Stadt verließen. Gehen Sie aufs Land oder noch besser ins Ausland. Wenn Sie mir freundlichst Ihre jeweilige Adresse geben wollten, so würde ich mir gern das Vergnügen machen, Sie über das Befinden meines Patienten auf dem Laufenden zu erhalten. Und nun gestatten Sie, daß ich Ihnen Adieu sage. Wenn Sie es wünschen, wollen wir beim Verlassen dieses Zimmers unser Gespräch als vollkommen vergessen betrachten.«

Er drückte mir herzlich die Hand, und wir verabschiedeten uns.

Ich sprach nochmals in Richmond Gardens vor, um Florence von dem Resultat meiner Unterredung mit dem Doktor Kenntnis zu geben.

Ich fand das arme Mädchen jetzt zwar gefaßter, aber sie war doch noch immer sehr betrübt.

Mit der ihrem Geschlecht eigentümlichen Neugier wollte sie durchaus wissen, was Herr Doktor Aunsett zu mir gesagt hatte, ich hielt es aber für geraten, unsere Unterhaltung lieber als ein Geheimnis anzusehen.

Ich sagte ihr nur, daß der Arzt wünschte, ich solle ihm helfen, Bob vom Krankenbette seines Vaters fern zu halten, da seine Anwesenheit im Krankenzimmer einen nachteiligen Einfluß auf die Genesung des Patienten haben könnte.

Es wäre auch leicht möglich, daß ich in Geschäften nach dem Kontinent reisen müßte, und wenn dies der Fall sein sollte, möchte ich ihr vorschlagen, sie sollte ihren Bruder bitten, mich zu begleiten.

»Du wirst mich aber doch nicht gerade jetzt verlassen, Alick?« stammelte sie.

Ich suchte ihr klar zu machen, daß das für uns alle das beste wäre, und ich bat sie, mir über alles, was während meiner Abwesenheit mit ihrem Papa vorginge, getreulich zu berichten.

»Als ob ich Dir nicht sowieso täglich schreiben würde, Alick!« antwortete sie vorwurfsvoll.

Tags darauf fuhr ich nach Nettleford, einer kleinen, in der Nähe von Chelmsford gelegenen Ortschaft.

Nettleford ist bloß ein Dorf, das aber durch eine dort befindliche große höhere Schule eine gewisse Bedeutung erhalten hat.

Sämtliche dortigen Geschäfte sind auf die Bedürfnisse der Schüler eingerichtet, und die große Kirche verdankt demselben Wohltäter ihre Entstehung, der auch die Schule gestiftet hat.

Der kleine Fluß, der sich zwischen den Hecken dahinschlängelte, war stellenweise eingedämmt, um den lieben Schuljungen eine bequeme Gelegenheit zum Baden zu bieten.

Auf meinem Wege durch die »Hauptstraße« – ganz Nettleford schien aus einer »Hauptstraße« zu bestehen – begegnete ich einer Anzahl » gentlemanlike« aussehender junger Leute, die nach dem Fechtboden wanderten, der recht passend in der nächsten Nähe des vom Doktor bewohnten Hauses gelegen war.

An dem Gartentor des letzteren befand sich ein nagelneues Metallschild. Dessen Inschrift besagte jedoch, daß die Villa einem Herrn Jones, Mitglied des »Königlichen Kollegiums der Wundärzte«, gehörte.

Dem Anschein nach stand also dieser Herr zu Herrn Doktor Schwinks Firma in keiner Beziehung.

Herr Jones selbst lehnte an seiner Gartentür. Er hatte einen schweren Ueberzieher an, auf dem Kopfe eine Lawntennis-Mütze und rauchte eine kurze Pfeife.

»Würden Sie wohl die Güte haben, mir zu sagen, wie ich zu Herrn Schwink komme?« redete ich ihn an.

»O ja,« antwortete er zögernd. »Der alte Herr wohnt am anderen Ende des Dorfes. Wenn es sich um einen dringenden Fall handelt, darf ich vielleicht für ihn eintreten?«

»Danke vielmals, Herr Doktor,« erwiderte ich, »ich wollte den Herrn nur in einer Privatangelegenheit sprechen.«

»Ich verstehe schon,« antwortete er in einem Tone, der erkennen ließ, daß sich sein Interesse um mindestens zwei Drittel vermindert hatte. »Gehen Sie nur in derselben Richtung weiter, aus der Sie gekommen sind. Jeder, den Sie darum fragen, kann Ihnen Doktor Schwinks Haus zeigen. Im übrigen habe ich mir nur deswegen die Freiheit genommen, Ihnen meine Dienste anzubieten, weil der alte Herr tatsächlich schon lange nicht mehr praktiziert.«

Und damit drehte er mir den Rücken zu, klopfte die Asche aus seiner Pfeife und trat ins Haus. Seiner Weisung folgend, erreichte ich auch bald die Villa, in der der Doktor wohnte, den ich suchte.

Ebenso wie Herrn Jones Residenz war auch sie mit einer Metallplatte verziert; der Glanz des Metalls war aber auch bereits verblichen, und das ganze Haus zeugte davon, daß es mit der Laufbahn seines Besitzers zu Ende ging, daß er sich von seiner Praxis – oder diese sich von ihm – zurückgezogen hatte.

Auf mein Klopfen öffnete eine alte Frau. Sie sagte mir, daß ihr Herr zu Hause wäre, und wenn ich es wünschte, ich ihn auch sprechen könnte.

Der kurze Wintertag neigte seinem Ende zu. Zwar war es erst drei Uhr, aber dennoch dämmerte es bereits und drohte rasch dunkel zu werden.

Ich wurde in ein unsauberes kleines Speisezimmer geführt, das nur recht dürftig möbliert war. An den Wänden hingen ein Paar bunte Bilder aus illustrierten Journalen, und auf dem Fußboden lagen verschiedene alte Bücher, Stöße von alten Zeitungen waren in einer Ecke aufgestapelt, und über dem Kamin war eine Kollektion Pfeifen um eine übermalte Photographie gruppiert.

Ein alter Herr in einem langen Schlafrock und einem Käppchen auf dem Haupte trat ins Zimmer.

In der einen Hand hielt er einige Korrekturbogen, mit deren Durchsicht er wohl beschäftigt gewesen sein mochte, als ihm mein Besuch angemeldet worden war.

»Es würde mir sehr leid tun, wenn ich Sie gestört hätte, Herr Doktor,« begann ich.

»Durchaus nicht, durchaus nicht,« erwiderte der alte Herr, der sein Englisch mit einem leichten deutschen Akzent sprach. »Ich bin immer sehr froh, wenn mich mal jemand besucht. Nettleford ist sehr langweilig.«

»Herr Jones hat mir den Weg nach Ihrem Hause gewiesen.«

»Herr Jones!« wiederholte er verächtlich. »Sie sind also auch Jones in die Hände gelaufen. Er ist nicht mein Freund, überhaupt niemandes Freund. Ich darf wohl annehmen, daß er auch Ihnen erzählt hat, ich wohne am Ende der Welt und habe mich von meiner Praxis zurückgezogen. Nicht wahr, das tat er?«

»Nun, ich muß bekennen, daß er wenigstens etwas dergleichen gesagt hat.«

»Natürlich hat er das gesagt! Er sagt das immer! Das tut er mit Absicht. Er möchte sich am liebsten jedem vorstellen. Das ist unanständig, das ist unkollegialisch! Als ich hierher kam, es war das vor einigen Jahren, ich sehnte mich damals nach dem ruhigen Landleben, da habe ich für meine Praxis gezahlt.

Zu meinem lieben Sozius Doktor Atterbutt sagte ich: »Atterbutt, Sie haben sich hier eine Praxis geschaffen, ich will Ihnen die Hälfte davon abkaufen. Wir wollen Ihre Bücher nachsehen, lieber Atterbutt, und den Verdienst der letzten drei Jahre zusammenrechnen. Die Summe wollen wir dann halbieren und die Hälfte will ich Ihnen zahlen.« Diese Summe habe ich ihm auch gezahlt, groß war sie freilich nicht.«

»Sie haben wohl Herrn Doktor Atterbutt sehr gut gekannt?«

»Ja, ich sollte meinen, freilich habe ich ihn sehr gut gekannt. Als mein lieber Freund Doktor Atterbutt starb, übernahm ich seine gesamte Praxis. Bedeutend war sie nicht. Hätte aber mein lieber Sozius einen Sohn gehabt, und dieser Sohn wäre zu mir gekommen, so würde ich ihm seines Vaters Anteil bezahlt haben.

Der arme Atterbutt hatte aber weder einen Sohn noch sonstige Verwandte, so konnte ich also niemand dafür zahlen. Das war doch ein anderes Benehmen, wie das Benehmen von Herrn Jones. Dieser Herr Jones, den niemand kennt, kommt hierher, zahlt nichts für seine Praxis und sucht noch, mir meine paar Patienten wegzuschnappen.«

»Aber, geehrter Herr Doktor, so etwas dürfen Sie nicht sagen. Wenn Herr Jones Sie gehört hätte, könnte er Sie wegen Verleumdung gerichtlich belangen.«

»Und wenn er es schon täte, was würde dabei für ihn herauskommen? Viel nicht, denn ich bin arm. Es gab eine Zeit, wo ich reich war, jetzt aber bin ich arm. Einst hatte ich auch einen Sohn, jetzt aber habe ich keine Kinder mehr. Nun, was liegt daran? Viel nicht. Bah, ich habe das Leben satt.«

»Ich bin in der Absicht zu Ihnen gekommen, Herr Doktor, um mich nach einem Herrn zu erkundigen, der, wie ich glaube, früher einmal Assistent von Herrn Doktor Atterbutt gewesen ist.«

»Ich habe nie davon gehört, daß er jemals einen Assistenten gehabt hat. Er mag ja einen gehabt haben, ich weiß es aber nicht. Aber vielleicht weiß das Frau Bangles, es ist das die Frau, die Ihnen die Tür geöffnet hat. Frau Bangles führte zuerst bei Herrn Doktor Atterbutt die Wirtschaft, dann bei der Firma und jetzt bei mir. Wir wollen Sie einmal fragen, und sie kann Ihnen auch Tee bei dieser Gelegenheit bringen.«

»Sie sind sehr liebenswürdig; mache ich Ihnen aber auch keine Umstände?«

»Durchaus nicht, durchaus nicht. Mir macht es immer großes Vergnügen, wenn ich einmal ein neues Gesicht zu sehen bekomme. Nettleford ist furchtbar einsam, und es mögen wohl schon gegen zwei Jahre her sein, daß ich einen Fremden gesehen habe, mit dem ich mich so gut unterhalten konnte, wie ich mich jetzt mit Ihnen unterhalte. Seit damals nicht, als mich mein Sohn verließ.«

»Ihr Sohn?« rief ich, »Sie hatten einen Sohn?«

»Ja. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß er das war, was Atterbutt »eine schlechte Nummer« zu nennen pflegte. Solide war er sicherlich nicht, und ich würde jetzt reicher sein, wenn er nicht so verschwenderisch gewesen wäre. Aber, lieber Herr, er war mein einziger Sohn.

Und wenn ich meine gesamten Ersparnisse an Wucherer und Halsabschneider zu zahlen hatte, so tröstete ich mich damit, daß er sein Erbteil vorweg nahm. Nach meinem Tode wäre es ihm doch zugefallen.«

In diesem Augenblick erschien Frau Bangles im Zimmer und brachte auf einem Tablett Tee und geschmierte Butterbrote.

»Frau Bangles,« fragte sie Doktor Schmink, »Frau Bangles, wissen Sie vielleicht, ob Herr Doktor Atterbutt jemals einen Assistenten gehabt hat? Als ich hierher kam, waren Sie ja wohl schon seit zwanzig Jahren oder noch länger bei ihm, und Sie werden es uns daher wohl sagen können.«

»Jawohl, er hatte einen. Ich erinnere mich noch genau, ein italienisch aussehender junger Herr war es, er hatte eine große Nase, ein dickes Kinn und kam direkt aus Oxford hierher. Er war groß und schlank, und. wenn ich mich recht erinnere, hieß er Nookes.

Er heiratete die Kellnerin in der »Glocke«, und deswegen zankte er sich mit Herrn Doktor Atterbutt. Die Folge davon war, daß Herr Nookes von hier fortzog. Er soll sich dann bei seiner Mutter aufgehalten haben, die sich dadurch, daß sie den ersten Stock ihres Hauses wieder vermietete, recht anständig ernährte.«

Da diese Beschreibung des Ehemanns der Kellnerin aus der »Glocke« nicht auf den famosen ärztlichen Sachverständigen in Monte Carlo paßte, so hielt ich mich damit nicht lange auf, sondern fragte vielmehr, ob nicht Herr Doktor Atterbutt noch einen anderen Assistenten gehabt hätte.

»Nein, mein Herr, einen anderen hatte er nicht,« antwortete Frau Bangles. »Bis Sie hierher kamen, Herr Doktor Schwink, ging es hier recht einsam zu, dann freilich wurde es hier lustiger, besonders aber, als Herr Silas zu Besuch kam.«

»Herr Silas! Wer war denn dieser Herr Silas?«

»Mein Sohn,« erwiderte Doktor Schwink. »Ich muß mich sehr wundern, Frau Bangles, daß Sie seinen Namen in meiner Gegenwart erwähnen.«

»Er mag so schlecht sein, wie er will, Herr Doktor, er ist und bleibt doch mal Ihr eigen Fleisch und Blut. Und ein schöner Mann war er auch! Na, na, ich wollte Ihnen nicht wehe tun.«

Dann wandte sie sich wieder zu mir und wiederholte nochmals:

»Nein, mein Herr, außer dem Herrn Nookes hat Herr Doktor Atterbutt nie einen anderen Assistenten gehabt.«

Und indem sie dem alten Doktor einen Blick zuwarf, der sagen zu wollen schien: »Ich hab' doch recht,« verließ sie das Zimmer.

»Sie müssen es mir verzeihen, mein Herr, wenn ich über meinen Sohn so hart urteile, er ist aber »eine schlechte Nummer«, »eine sehr schlechte Nummer« sogar. Erst hat er mich fast vollständig zu Grunde gerichtet, und dann ist er weggelaufen. Ich bin jetzt so arm, weil er alles, was ich besaß, von mir herausgezogen hat. Wir wollen aber lieber nicht mehr von ihm sprechen. Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?«

»Sie sind sehr gütig, Herr Doktor. Den einen Zweck meines Besuches habe ich bereits erreicht. Ich habe erfahren, daß ein gewisser Jemand sich den Namen des Herrn Doktor Atterbutt beigelegt und auch dessen Karten benutzt hat. Ich nahm an, daß dieser Herr vielleicht ein Assistent Ihres verstorbenen Herrn Sozius gewesen sein mag, ich sehe aber, daß dies doch nicht sein kann, da, wie ich eben höre, Ihr Herr Sozius nur einen Assistenten gehabt hat, und zwar bereits vor zwanzig Jahren.«

»Im übrigen scheint auch dieser Assistent dem Herrn, dessen Vorleben ich mich nach Kräften zu erforschen bemühe, in seiner äußeren Erscheinung in keiner Weise zu ähneln.«

»Sie sprechen von dem »einen Zweck«. Darf ich fragen, welches die anderen sind, die Sie zu mir geführt haben?«

»Ich hatte eine Unterredung mit Herrn Doktor Aunsett. Sie kennen ihn doch?«

»Oho, ein sehr gescheiter Herr.«

»Er sprach zu mir davon, daß Sie eine Theorie aufgestellt hätten, laut der ein Mörder seine Tat in einem bewußtlosen Zustande begehen kann.«

»Gewiß kann er das,« bestätigte der alte Herr, indem er eine lange Tabakspfeife von der Wand nahm. »Herr Doktor Aunsett hat Ihnen jedenfalls auch erzählt, daß diese Theorie mein Steckenpferd ist, nicht wahr?«

»Er ließ durchblicken, daß Sie Ihrer Sache sehr sicher wären, Herr Doktor!«

»Aha! Ich weiß, daß er sogar erzählte, ich hätte mich in diese Theorie vernarrt. Und so ganz unrecht hat er damit nicht, denn ich lasse mich davon nicht abbringen. Und warum nicht? Weil ich weiß, daß ich recht habe.«

Er sah mich lachend durch seine Brille an und beschäftigte sich inzwischen damit, aus einem Tabaksbeutel seine Pfeife zu füllen, die er dann ansteckte.

»Aber weswegen nehmen Sie an einem solchen, doch immerhin recht heiklen Gegenstand Interesse?«

»Weil mir sehr viel daran liegt, einen mutmaßlichen Mörder zu entdecken.«

»Lieber Gott! Sie sind wohl gar ein Detektiv?«

»Nein, das nicht, aber ein Mann, der verliebt ist.«

Ich erzählte sodann Herrn Doktor Schwink die Tragödie, die sich im Hotel Blanc abgespielt hatte. Er hörte mit größter Aufmerksamkeit zu und schmauchte dabei aus seiner Pfeife.

Ab und zu unterbrach er mich, um eine Frage an mich zu richten, und wenn ich sie ihm beantwortet hatte, nahm er seine alte Haltung wieder ein, die das lebhafteste Interesse an meiner Erzählung verriet. Als ich zu Ende war, saß er eine Weile, mit seiner Pfeife beschäftigt, stumm da, und schien über das, was ich erzählt hatte, nachzudenken.

»Und ist das alles?« fragte er endlich.

»Alles. Nur das eine wäre noch zu erwähnen, daß seit jener Zeit ein lieber Freund von mir sehr mitgenommen worden ist. Und jetzt sogar redet er irre, und in seinen Phantasien spricht er von den Ereignissen, die ich Ihnen eben erzählt habe.«

»Scheinen seine Phantasien vielleicht davon Kunde zu geben, daß er mehr von der Geschichte weiß, als wie Sie mir erzählt haben.«

»Das kann ich nicht sagen. Herr Doktor Aunsett indessen, der ihn behandelt, hat den Eindruck, daß er nicht nur von dem Morde weiß, sondern sogar daran beteiligt gewesen ist.«

»Herr Doktor Aunsett ist ein sehr tüchtiger Arzt und ein recht gescheiter Herr. Wenn er aber glaubt, daß ich Ihnen bestätigen werde, daß Ihr Freund den Mord in bewußtlosem Zustande begangen hat, dann täuscht er sich.«

»Was Sie sagen!«

»Hören Sie zu, mein lieber Freund! Wenn ein Mensch ein derartiges Verbrechen begeht, so geschieht das in größter Hast, in einem Wahnsinnsanfalle, und in diesem Augenblicke ist der Mensch, der so etwas tut, auch wahnsinnig. Er weiß nicht, was um ihn herum vorgeht, und seine sämtlichen Gedanken konzentrieren sich nur auf den einen Punkt, nämlich die Gewalttat auszuführen.

Ist der Mord aber geschehen, dann legt sich die Leidenschaft, der Wahnsinn verschwindet wieder und mit ihm auch die Erinnerung an alles, was während seines Anfalles geschehen ist.«

»Dann meinen Sie also, daß mein Freund –«

»Entweder den Mord überhaupt nicht begangen, oder aber ihn wie jeder andere gewöhnliche Meuchelmörder begangen hat.«

»Und weswegen glauben Sie das, Herr Doktor? Liegt denn kein Grund zu der Annahme vor, daß er die Tat im Wahnsinn verübt haben kann?«

»Nein, und zwar deswegen nicht, weil er sich, vorausgesetzt, daß er mit dem Morde überhaupt etwas zu tun hatte, der Tat erinnert hat. Hätte er sein Opfer ermordet, während er selbst in einem bewußtlosen Zustande war, dann hätte sein Gedächtnis auch nicht die mindeste Erinnerung davon behalten können.«

Es entstand eine Pause. Ich war furchtbar niedergeschlagen, aber dennoch konnte ich nicht und wollte ich nicht glauben, daß Herr Furst schuldig sein sollte.

Das zu denken, war nicht nur zu schrecklich, sondern auch zu dumm.

Weswegen sollte er wohl einen Menschen, der ihm vollkommen fremd war, ermorden? Es widersprach das dem gesunden Menschenverstand.

»Noch einen Punkt möchte ich erwähnen,« nahm der Doktor wiederum das Wort. »Ein Mord, den ein Monomane, wie die Wissenschaft die an solchen fixen Ideen Leidenden nennt, begeht, wird gewöhnlich wiederholt. Wenn der Wahnsinnsanfall den unglücklichen Mörder von neuem packt, so kann er ihm nicht widerstehen, und die traurige Folge ist ein neuer Mord, genau unter denselben Umständen und wahrscheinlich auch an demselben Orte.«

»Was raten Sie mir, zu tun, Herr Doktor?«

»Wenn Sie vollkommen von der Unschuld Ihres Freundes überzeugt sind und das Verlangen haben, ihn zu rechtfertigen, so würden Sie meiner Ansicht nach gut tun, nochmals nach Monte Carlo zu gehen und dort die Nachforschungen nach dem Mörder wieder aufzunehmen. Geben Sie den Gedanken auf, daß es sich hier um etwas anderes handelt, als um einen gewöhnlichen Mord, wie er alle Tage vorkommen kann und auch vorkommt.

Solche Fälle aber, von denen ich zu Ihnen gesprochen habe, ereignen sich gewiß auch, aber doch nur äußerst selten. Mit einem Wort, mein lieber Freund, machen Sie den wahren Täter ausfindig und beweisen Sie damit, daß Ihr Freund nicht das Verbrechen begangen haben kann, weil es eben ein anderer begangen hat. Aus Grund eines falschen Gutachtens wurde, wie Sie ja erzählt haben, die Untersuchung seinerzeit eingestellt. Nehmen Sie sie bei diesem Punkte wieder auf und führen Sie sie zu einem siegreichen Ende durch.«

»Sie haben recht, Herr Doktor, Sie haben vollkommen recht. Ich will sofort nach Monte Carlo reisen und dort die Wiederaufnahme der Untersuchung betreiben.«

»Und ich wünsche Ihnen dazu den besten Erfolg. Inzwischen ist es aber ganz dunkel geworden, ich muß Ihnen zur Tür leuchten. Wollen Sie nicht über Nacht hier bleiben?«

»Tausend Dank für Ihre liebenswürdige Aufforderung, Herr Doktor. Ich muß aber jetzt gleich nach London zurück, denn je rascher ich nach Monte Carlo komme, desto besser ist es.«

»Sie sind sehr ungeduldig, man merkt, daß Sie verliebt sind.«

Er hatte das Licht angezündet, und ich konnte jetzt deutlich die Photographie sehen, die über dem Kamin hing.

Ich fuhr bei ihrem Anblick vor Ueberraschung zusammen. Es war das Bild des ärztlichen Sachverständigen in Monte Carlo!

»Wer ist der Herr?« fragte ich, auf das Bild zeigend.

»Ein sehr gefährlicher Mensch! Mein Sohn Silas Schwink. Und wenn er Ihnen jemals in den Weg kommen sollte, dann warne ich Sie, nehmen Sie sich vor ihm in acht, denn er ist ein gefährlicher, ein sehr gefährlicher Mensch.«


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