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Achter Abend.
Die Kundschafter.

Agamemnon suchte vergebens auf seinem Lager den erquickenden Schlummer. Tausend Bekümmernisse durchkreuzten seine Seele. Er dachte an Hektors Drohungen, an die Niederlage des vorigen Tages, an das unglückliche Zeichen des Zeus und sah einem noch verhängnißvolleren Tage entgegen. Er hatte insgeheim seine letzte Hoffnung noch immer auf Achills Rückkehr gesetzt; um ihn ganz gewiß zu versöhnen, hatte er jenen ungeheuern Preis geboten; auch diese letzte Hoffnung war jetzt vereitelt, und er hatte sich vergeblich vor seinem Feinde erniedrigt. Von solchen Gedanken gequält, stand Agamemnon auf und trat hinaus vor sein Zelt. Er streckte betend seine Arme zu dem glänzenden Sternengewölbe empor, während rings um ihn her, von den Mühen des verwichenen Tages ermattet, die Männer in tiefem Schlafe lagen. Alles war still, nur in der Ferne hörte er vom trojanischen Feldlager herüber noch verworrenes Rufen, auch lustiges Pfeifen- und Flötengetön, womit sich die Feinde die Zeit verkürzten. Die zahllosen Wachtfeuer brannten noch immer fort, und um jedes war eine Schar gelagert. Viele waren auch dort schon eingeschlafen, andere waren noch rührig. Agamemnon aber fand nirgend die ersehnte Ruhe; er mußte umhergehen, um die Freunde zu wecken.

Indem er sich die Sohlen unterband und eine große zottige Löwenhaut umwarf, die den ganzen Leib bis auf die Füße verhüllte, trat sein Bruder Menelaos zu ihm ins Zelt, ein Pardelfell um die Schultern. Auch ihn hatte die Sorge um den Ausgang des unseligen Krieges, den doch er allein begonnen, nicht schlafen lassen; daher hatte er sich aufgemacht und war mit der Lanze in der Hand zu seinem Bruder geeilt. Er wunderte sich ihn gleichfalls gerüstet zu finden und fragte ihn, was er zu thun gedenke.

»Ach, Menelaos!« antwortete jener, »helfenden Rats bedürfen wir beide, und ich kann mich allein nicht fassen, denn die Angst verwirrt mir die Sinne. Ich muß die Freunde berufen, vielleicht daß einer unter vielen einen Rat ersinnt, durch den wir noch gerettet werden können. Du aber hilf mir sie wecken; geh dort hinunter zu Aias und Idomeneus, indes ich Nestor ermuntere, daß er die Schar der Wächter ordne, die ihm gewiß am freudigsten gehorchen wird. Du bleibe nur dort bei jenen, bis ich zu dir komme, sonst möchten wir einander verfehlen; denn die Nacht ist finster, und es gehen der Wege viele durchs Lager. Rufe auch die Wachen an und nenne jeden freundlich bei seinem Vaternamen, ja nicht vornehm und stolz dich erhebend, sondern laß uns vielmehr arbeiten wie die Geringsten! Es ist wahrlich nötig Mut und Liebe bei den Völkern zu erhalten.«

So ermahnte er seinen Bruder und sandte ihn fort. Er selbst ging hin zu Nestors Gezelte und fand den Greis schlafend auf einem weichen Lager; neben ihm lag seine Rüstung, Schild, Helm und zwei Lanzen und sein wollener Leibgurt. Von dem Tritte des Kommenden erweckt, richtete er sich, auf den Ellenbogen gestützt, empor und fragte mit tiefer Stimme:

»Wer bist du, der hier noch allein so spät in der Nacht herumwandelt, während andere Sterbliche schlafen? Suchst du jemand oder was willst du sonst? Rede und nahe mir nicht schweigend! Wessen bedarfst du?«

Agamemnon sprach: »Nestor, Sohn des Neleus, erkenne doch die Stimme Agamemnons, des unglücklichen Mannes, durch welchen Zeus so viel Elend über die Achäer verhängt hat! Sieh, ich irre umher, weil der Schlaf mein Auge flieht; mir ist alle Besinnung dahin, die Glieder zittern, und das Herz will im Busen zerspringen. Stehe doch auf, Lieber, und laß uns draußen vor dem Thore nach den Wächtern sehen, ob sie auch noch munter sind, wenn es ja vielleicht dem rasenden Hektor einfiele uns mitten in der Nacht zu überfallen; denn jetzt befürchte ich alles.«

»Nun, nun«, antwortete Nestor, »so viel auf einmal denke ich wird ihm Zeus ja nicht gewähren; ihn drücken auch Sorgen genug. Weiß er doch nicht, wie lange Achilleus noch zu ruhen gedenkt, und ich habe es wohl bemerkt, wie er scheu dessen Zelte vermeidet. Aber wohlan, ich begleite dich gern, doch laß uns auch die andern wecken, den Diomedes, Odysseus, auch den Aias und Idomeneus. Wenn doch einer zu diesen beiden hinunterliefe sie zu holen, denn ihre Zelte sind weit am äußersten Ende gelegen. Aber wahrlich, fast möchte ich den edlen Menelaos schelten, daß er die Nacht so ruhig verschlafen kann und dir alle Last zugewälzt hat; ihm ziemte es doch wohl der Thätigste von allen zu sein.«

»Alter!« entgegnete Agamemnon, »diesmal verdient er den Tadel nicht, wenn er auch sonst wohl säumt und selten unter den Ersten erscheint; wiewohl auch das nicht Trägheit ist, denn er schaut nur immer erst nach mir und erwartet mein Beginnen. Aber diese Nacht ruht er so wenig als ich; er war schon vorher bei mir im Zelte. Ich habe ihn im Voraus hingesandt zu Idomeneus und Aias, damit er sie wecke und dort uns erwarte.«

»Schön«, sprach Nestor und band sich die Sohlen unter die Füße, hüllte sich in den wärmenden Rock und warf den weiten wolligen Mantel darüber. Dann ergriff er die Lanze und ging mit dem Könige hinaus durch die dunkle Nacht die Schiffe entlang. Zuerst kamen sie an das Zelt des Odysseus und weckten diesen. Hurtig fuhr er auf, und als er die Freunde erkannte, sagte er:

»Nun, was giebt's denn schon wieder, daß ihr so des Nachts umherschleicht? Welche Not treibt euch denn?«

Ihm antwortete Nestor: »Zürne nicht, edler Sohn des Laërtes, uns liegt das Schicksal der Achäer am Herzen. Komm mit uns, daß wir auch die andern wecken und heilsamen Rat ersinnen, ehe der Morgen tagt.«

Odysseus ergriff seine Waffe und eilte mit ihnen zu Diomedes' Zelte. Der ruhte draußen unter seinen Gefährten, hingestreckt auf eine Stierhaut, und zum Pfühl diente ihm eine wollene Decke. Neben den schlafenden Männern lagen ihre Rüstungen, und die Lanzen steckten mit dem Ende des Schafts in der Erde.

»Auf! Sohn des Tydeus!« rief Nestor und stieß ihn ein wenig mit dem Fuße an. »Erwache, jetzt ist nicht Zeit so sorglos zu schlummern!«

Diomedes sprang empor. »Alter«, sprach er, »du bist doch auch gar zu emsig und ruhst nimmer von der Arbeit. Sind denn nicht junge und rüstige Männer genug hier die Fürsten zu wecken? Du übertreibst es wahrhaftig!«

Lächelnd erwiderte der Alte: »Freilich, mein Lieber, habe ich der Mannen und Völker genug, auch habe ich ja treffliche Söhne, die ich umher schicken könnte; aber die Not ist gar groß, da muß man selbst zur Hand sein. Jedoch willst du mich nun ablösen, so eile zu Aias und Idomeneus, da wirst du auch Menelaos finden; diesen sage, daß sie draußen vor dem Thore bei den Wächtern sich einfinden.«

Sogleich legte Diomedes die Sohlen unter die Füße und warf die falbzottige Haut eines von ihm selbst erlegten Löwen um, die ihm bis zu den Knöcheln hinabreichte; dann ergriff er die Lanze und eilte davon. Die übrigen gingen hinaus zu den Scharen, denen die Wacht anvertraut war. Sie fanden die meisten derselben munter. »So ist es recht, Kinder!« redete sie Nestor an; »immer seid wachsam; keinen darf der Schlaf jetzt überkommen, dann hat's mit den Feinden keine Noth.«

Er durchwandelte die Reihen, schritt dann über den Graben ein wenig hinaus ins Feld, und die übrigen Fürsten folgten ihm. Alle hatten sich zusammen gefunden; auch den Meriones und den Sohn des Nestor, als die vorzüglichsten unter den Befehlshabern der Wache, hatten sie zu der Beratung hinzugezogen. Sie setzten sich auf einen Hügel, der weniger von Blut und Leichen bedeckt war; denn rings umher lagen Tote in Menge.

»Hört mich an«, sprach der greise Nestor zuerst; »wenn jetzt ein Mann Kühnheit genug hatte sich leise in das feindliche Lager zu schleichen und etwa ein Gespräch zweier Feinde oder gar die ratschlagenden Fürsten selbst in der Versammlung zu behorchen, so könnten wir vielleicht etwas Wichtiges erfahren und wüßten augenblicklich, welche Maßregeln wir zu ergreifen hätten. Wir wollten dem mutigen Manne auch gern ein Ehrengeschenk bewilligen, und er sollte zu jeglichem Feste und Schmause mit eingeladen werden.«

Die Fürsten schwiegen eine Weile; dann begann Diomedes: »Nestor, das Wagstück nehme ich auf mich; aber wenn noch einer mit mir gehen wollte, so würde ich mit noch größerer Zuversicht und desto unerschrockener es wagen; denn wo zwei zugleich gehen, da sieht man doch immer eher, was heilsam ist, und es hat ein jeder mehr Vertrauen. Einer allein, wenn er auch noch so verständig ist, kann sich oft im Augenblicke der Gefahr und der Überraschung so geschwind nicht fassen und entschließen.«

Sogleich erklärten sich alle freudig bereit. Aber Agamemnon sagte zu Diomedes: »Nun, siehe Freund, da hast du Begleiter genug! Jetzt wähle dir selbst den, dem du am meisten vertraust, und laß dich nicht etwa durch die Scheu vor einem geehrten Namen bewegen, den dir Erwünschteren zu übergehen.« Das sagte er vorzüglich, um ihn nicht wegen des Menelaos in Verlegenheit zu setzen, den jener sonst vielleicht aus Rücksicht auf ihn, den König, wählen zu müssen glauben konnte.

»Nun«, erwiderte Diomedes, »wenn ihr mir's frei stellt, wen könnte ich da wohl lieber wählen als den göttergleichen Odysseus, der immer kühner wird, je drohender die Gefahr ist, und dessen List noch nie um den glücklichen Ausweg verlegen war! Denn ihn liebt Pallas Athene. Wenn er mit mir ist, so kehren wir unversehrt selbst aus flammendem Feuer zurück; so fest verlasse ich mich auf seinen Mut und seine Klugheit.«

Odysseus ward fast beschämt über so großes Lob in Gegenwart der übrigen Fürsten und sagte: »Nun, du darfst mich so sehr nicht rühmen, Diomedes; denn die Achäer wissen ja, was ich vermag und was nicht. Aber willst du gehen, so komm; denn die Nacht eilt schnell, und dämmernd naht schon der Morgen. Leiht uns nur Rüstung und Waffen, wer von euch etwas bei sich hat; wir sind zu eilig vom Lager aufgesprungen.«

Da gab Nestors Sohn, Thrasymedes, seinen Helm, seinen Schild und sein Schwert für Diomedes her; Odysseus nahm die Waffen des Meriones. Darauf eilten sie beide über das dunkle Gefilde hin, heimlich und unbemerkt von Athene geleitet. Rechts über ihnen flog ein Reiher hin, ein glückliches Zeichen! Zwar sahen sie ihn nicht im Dunkel der Nacht, aber sie hörten mit frohem Erstaunen sein Geschrei und beteten laut zu Athene, daß sie ihnen Glück auf dem gefährlichen Wege und eine ruhmvolle Rückkehr gewähren möchte. Kühner durch das gestärkte Vertrauen auf den Beistand der Göttin, schritten sie nun wie zwei Löwen mitten durch Leichen und Waffen und Blut hin.

Siehe, da stieß ihnen schon auf der Mitte des Weges ein Abenteuer auf. Auch Hektor hatte eine Versammlung der Führer veranstaltet und gleichfalls die Aussendung eines Kundschafters veranlaßt. Er hatte das beste Rossegespann der Achäer dem zur Belohnung versprochen, der es wagen würde das Lager der Griechen zu erkunden. Die trefflichsten Rosse habe aber Achilleus. Von diesem Geschenk gelockt, ließ sich Dolon, eines trojanischen Herolds Sohn, bewegen das verwegene Geschäft auf sich zu nehmen. Obschon übel von Gestalt, war er doch ein rascher Läufer und meinte sich den Mut zu solchem Beginnen wohl zutrauen zu dürfen. Eben schritt er jetzt durch die Nacht übers Feld daher und wäre vielleicht den beiden Griechenhelden unentdeckt vorüber gegangen, wenn er so vorsichtig als sie geschlichen wäre. Aber Odysseus erlauschte schon von ferne die nahenden Tritte, stand sogleich still und sagte leise zu Diomedes:

»Horch! da kommt ein Mann aus dem Lager. Was mag der wollen? Vielleicht einen Toten berauben, oder geht er wohl gar auf Kundschaft aus? Still! laß ihn erst ein wenig an uns vorüber gehen, dann setzen wir ihm nach; und will er entfliehen, so jagen wir ihn nach den Schiffen hin, damit er nicht zur Stadt entrinnen kann.«

Sie legten sich hierauf still neben dem Wege nieder und jener zog bedachtlos vorüber. Sie ließen ihn etwa zwanzig Schritte vorausgehen, da rannten sie plötzlich aus aller Macht hinter ihm her. Erschrocken sah Dolon sich um, und als er die beiden feindlichen Männer dicht hinter sich erblickte, floh er, allein den raschen Schenkeln vertrauend, wie ein Hirsch dahin. Doch wie diesen die schnaubenden Hunde verfolgen, so ließen auch die beiden Helden nicht von dem Troer ab und jagten ihn, so oft er zur Stadt umzulenken versuchte, immer wieder seitwärts springend den Schiffen zu. Endlich des langen Verfolgens überdrüssig, rief Diomedes ihm zornig zu: »Steh, oder ich werfe dich mit der Lanze nieder!« Und zugleich warf er die sausende Lanze, absichtlich fehlend, ihm dicht am Kopfe vorbei, daß sie zischend vor ihm nieder in den Sand fuhr.

Jetzt stand der Arme, und sogleich hielten ihn die beiden mit den Händen fest. Ihm klapperten die Zähne, seine Kniee bebten, sein Gesicht war totenbleich, und kaum konnte er vor Thränen die Worte stammeln:

»Ach, nehmt mich doch nur gefangen, edle Männer; ich habe noch einen Vater daheim, reich an Gold und schön geschmiedetem Eisen; der giebt euch gewiß reichliches Lösegeld, wenn er hört, daß ich noch lebe.«

»Sei getrost«, antwortete Odysseus, »dich darf kein Todesgedanke ängstigen, besonders wenn du uns jetzt ehrlich die Wahrheit sagst. Bekenne, was hast du hier allein auf dem Wege zu den Schiffen zu thun mitten in der Nacht, während andere Leute schlafen?«

»Ach!« wimmerte Dolon, »an alle dem Unglück ist Hektor schuld; der hat mich verleitet auf Kundschaft auszugehen, ob ich nicht von den Ratschlägen der Achäer etwas vernehmen könnte. Achills Rosse zusamt dem prächtigen Wagen hat er mir zum Geschenk versprochen, wenn ich mit guter Botschaft zurückkäme.«

»Achills Rosse!« sagte lachend Odysseus. »Ei wahrlich, dich hat nach einem hohen Preis gelüstet! Weißt du auch, daß die feurigen Tiere keinem andern Lenker gehorchen als allein ihrem Herrn? Nun weiter, sage uns doch, wo verließest du Hektor? in welcher Gegend hat er sein Lager? wo stehen seine Rosse? Und auch die andern Troer, wachen sie oder ruhen sie? Und wo sind sie gelagert? Sage auch, was sie im Rate verabredet haben!«

»Ach, das will ich dir alles ganz genau erzählen«, sagte Dolon, noch immer zitternd. »Sieh nur, eigentliche Wachen haben sie gar nicht, sondern jeder Haufe hat sich sein eignes Feuer angezündet, und einer mahnt den andern zu wachen. Aber die meisten sind wohl eingeschlafen, und die Feuer brennen schon sparsamer. Hektor hält noch Rat mit den Fürsten dort hinten bei dem großen Feuer. Die Hilfsvölker endlich haben gar keine Feuer gehabt, sondern schlafen fest und überlassen den Troern das Wachen, denn sie haben ja keine Kinder und Gattinnen in der Nähe.«

»Gut«, sagte Odysseus, »aber wie liegen sie denn? mit den Trojanern vermischt, oder abgesondert für sich?«

»Ganz für sich«, antwortete Dolon; »nach dem Meere zu liegen die Karer, die Päonen, die Leleger, die Kaukonen und die Pelasger; dorthin nach Thymbra zu die Lykier und die Mysier, die Phryger und die Mäoner. Aber begehrt ihr vielleicht ein Volk in sicherer Ruhe zu überfallen, so geht nur links hin, dort ans Ende des Heeres; da rasten neu angekommene Krieger aus Thrakien, erst seit dem Abend hier und ganz ermüdet von der Wanderung, Alle lagern um ihren Führer Rhesos herum, der das schönste Rossepaar hat, das ich je gesehen habe, weiß wie blendender Schnee und von herrlichem Wuchse, im Lauf aber schneller als der Wind. Das wäre ein Fang für euch! Auch schöne Rüstungen hat er mitgebracht, die liegen rings zerstreut. Aber erst führt mich in sichern Gewahrsam zu euren Schiffen zurück, oder laßt mich hier gebunden liegen, bis ihr wiederkommt und selbst erfahren habt, ob ich die Wahrheit gesagt habe oder nicht.«

Der arme Wicht! Er hatte umsonst dem hinterlistigen Worte des Odysseus vertraut. Und freilich ihn den weiten Weg bis ins Lager erst zurückzuführen war keine Zeit mehr; die Helden hatten schon kostbare Augenblicke verloren. Ihn zu binden fehlten die Stricke. Ihn laufen zu lassen ging aber noch weniger an. Da kündigte ihm Diomedes sein Schicksal an, und während Dolon rührend um das Leben bat, drückte er ihn mit der Linken, womit er ihn noch immer beim Arme festhielt, zu Boden und zerschnitt ihm mit einem raschen Hiebe seines scharfen Schwertes den Nacken, daß der Kopf in den Sand rollte. Dann setzten sie schnell ihren Weg fort und fanden in der bezeichneten Gegend die weißen Rosse des Rhesos wirklich; der Thrakerfürst aber lag im Kreise der Seinigen dicht daneben im tiefsten Schlafe.

»Ha!« sprach Odysseus leise, »das sind sie, das sind die Rosse! Prächtige Tiere! Und sieh nur, wie schimmern die schönen blanken Rüstungen! Nun sei unverzagt und löse die Pferde behutsam, oder laß mich es thun und töte du die Männer.«

»Das übernehme ich lieber!« sagte Diomedes, und sogleich machte er sich an das grausige Werk und durchschnitt mit scharfem Schwerte den zwölf Gefährten des Rhesos und zuletzt ihm selbst die Kehle. Schrecklich röchelten die Sterbenden, aber, dem Mörder zum Glück, erwachte keiner der Schläfer, und alle empfingen bewußtlos den Todesstreich. Das schaudervolle Gemetzel war vollendet, als Odysseus die Rosse losgeknüpft hatte. Jetzt zogen sie auf seinen Rat die Toten schnell beiseite, damit die Pferde, des Schlachtfeldes noch ungewohnt, sich nicht sträubten über die Leiber der Sterbenden hinzuschreiten, packten dann in der Eile so viele Rüstungen auf, als sie fortbringen konnten, schwangen sich auf die windschnellen Renner und jagten davon. Odysseus gebrauchte den Bogen statt der Peitsche und schlug tüchtig auf die Tiere los. Sie hatten auch Ursache zu eilen, denn eben in diesem Augenblicke erwachte der Vetter des Rhesos, der Führer des zunächst lagernden Thraker-Haufens, Hippokoon, und sprang mit lautem Geschrei auf, als er die fremden Männer auf Rhesos' Rossen entfliehen sah und gleich darauf den blutigen Mord entdeckte. Entsetzt rief er die Gefährten mit wildem Rufe herbei; aber ehe sie erwachten, waren die beiden Helden, von dem Dunkel der Nacht geschützt, schon ihren Augen entschwunden.

Als sie zu dem Orte gelangten, wo Dolon erschlagen lag, sprach Diomedes zu Odysseus: »Halte hier einen Augenblick an, wir wollen doch dem Manne zu Ehren die schöne Rüstung mitnehmen.« Er sprang vom Pferde, nahm ihm Schild und Harnisch und den schönen Otterhelm ab und reichte alles, so blutig es war, dem Freunde aufs Pferd. Dann schwang er sich wieder auf, und nun sprengten sie rasch dem Lager zu.

Hier saßen die harrenden Fürsten bei den Wächtern am Graben, um ein Feuer gelagert. Nestor vernahm sie zuerst: »Horch!« rief er, »mich dünkt, ich höre Pferdegestampf! Sollten das wohl die Unsern sein?« Sie standen auf und gingen ihnen entgegen. Jetzt hielten jene die Rosse an, sprangen herab und schüttelten den Staunenden unter lautem Jubel zuvörderst zum Gruße die Hände.

»Aber beim Zeus!« sagte Nestor, »wo habt ihr die Rosse gewonnen? Ich bin doch alle die Tage her in meinem Wagen von einem Ende des feindlichen Heeres zum andern gefahren und habe alles sorgfältig erkundet, aber diese herrlichen Tiere sind mir noch nie begegnet!«

»Das glaube ich wohl«, sagte Odysseus, »das ist auch etwas ganz Neues, gestern Abend erst aus Thrakien gekommen. Der Eigentümer ruht nun mit allen seinen Gefährten; Diomedes sandte alle zum Hades hinab, wahrend ich die schönen Rosse lösete.« Er erzählte darauf auch das Zusammentreffen mit Dolon und berichtete, was dieser ausgesagt hatte. Diomedes zog indessen die schönen Pferde in den Stall zu den übrigen, Odysseus aber trug die erbeuteten Rüstungen in sein Schiff, wo sie zu Ehren der Athene als Schmuck am Verdeck aufgehängt werden sollten. Hierauf wuschen sich beide am Gestade den triefenden Schweiß und das Blut mit Seewasser ab. Darnach erwärmten sie sich durch ein laues Bad in der Wanne, welches ihnen die Diener im Zelte hatten bereiten müssen. Endlich salbten sie sich und nahmen ein stärkendes Frühmahl ein.


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