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7. Das große Räthsel.

Die Fürstin hatte richtig prophezeit; die Frage, wer das geheimnißvolle Paar sein möge, welches zwar mit nur weniger Bedienung, aber doch mit vielem Aufwande im »Englischen Hof« wohnte, war schon nach wenigen Tagen das Hauptthema jeder Unterhaltung in der kleinen Residenz, und die Nachbarn betrachteten das so wohl bekannte Hotel um seiner geheimnißvollen Gäste willen mit Blicken des Befremdens und der Neugierde.

So lange die unbekannte Herrschaft noch im Gasthaus wohnte, durfte nie ein Kellner die Zimmer derselben betreten. Man hatte eigenes Tafel-, Tisch- und Bettzeug mitgebracht, oder es kam bald nach dem Eintreffen der Fremden von auswärts an, ebenso waren Service angekauft worden. Später miethete der Graf die schönste Wohnung, welche in Hildburghausen zu haben war, in einem Eckhause am Markt, das nach jener Zeit als Regierungsgebäude diente. Hier wohnte Ludwig im dritten Stock, kein Nachbar konnte ihm in die Fenster blicken. Täglich fuhr er, nur von einem einzigen Diener begleitet, mit der stets verschleierten Dame im eignen eleganten Wagen spazieren. Ein herrliches Paar Schimmel, wie sich selbst im herzoglichen Marstall kein schöneres befand, erregte die allgemeinste Bewunderung.

Allmählig füllten sich alle Gesellschaftskreise der Stadt mit Nachrichten über den räthselhaften Fremden und seine Begleiterin. Daß die öffentliche Meinung den Grafen für einen französischen Emigranten hielt, war in den Verhältnissen und Ereignissen der Zeit begründet; darüber war man im Allgemeinen einig – aber noch gar manches Andere blieb dafür um so räthselhafter und spottete aller Nachforschungen.

Zu ihrer großen Belustigung hörten sie bald, mit welcher Romantik die erfinderische Fantasie der guten Kleinstädter sie Beide umkleide; und es gewährte ihnen manchen heitern Zeitvertreib, sich die Abenteuerlichkeiten erzählen zu lassen, die über sie im Mund der Leute umgingen.

Mit Hülfe der Zeitungen, deren der Graf mehrere hielt, blieb er im steten Verkehr mit der Außenwelt, während sie Ludwig zugleich ein Mittel boten, Sophien in mannichfaltiger Weise zu unterhalten und zu belehren. Beim Thee, den sie selbst mit vieler Anmuth bereitete, las er ihr vor, oder er erzählte ihr aus seiner Kindheit und Jugend, aus dem Leben der Großmutter, aus der Geschichte seines Hauses, von seinem Aufenthalt in England, so daß keine Stunde der Langeweile die junge lebhafte Prinzessin beschlich. Graf Ludwig verstand es, den so häufig trocknen Ton der Zeitblätter zu würzen und sie mit vielem Humor zu erläutern. Die Zeit war schwer, viel Gutes brachten die Zeitungen nicht; auf Deutschland drückte lähmend wie ein Alp Napoleons Herrschaft. Jede freie Aeußerung, welche deutschen Sinn athmete, wurde unterdrückt, und deutscher Vaterlandsliebe drohten Fesseln und Kerker. Da mußten die einsamen ganz auf sich beschränkten Fremden in der kleinen Stadt noch zu einem andern Mittel greifen, um die Stunden zu verkürzen und das Leben zu weihen, und dieses Mittel bot ihnen die Poesie. Mit Entzücken nahm Sophie den Geist deutscher Dichtung auf, mit Begeisterung führte sie der Freund in die schöne Literatur ein.

Mit den Zeitungen über die trübe Zeit brachte Philipp eines Tags auch einen Brief, der das Poststempel London trug. Ludwig erschrak beim Anblick des Trauersiegels, er ging hastig in ein Nebenzimmer, zitternd öffnete er – ach, schon sagte sein Herz ihm Alles!

Meine Mutter! O meine schöne, edle, liebe Mutter! war Alles, was er in seinem Schmerze hervorbringen konnte und laut weinend warf er sich auf's Sopha.

Sophie eilte herbei, sein Anblick erschreckte sie auf's Heftigste und bestürzt rief sie aus: Was ist Ihnen, theurer Freund? Darf ich Ihren Schmerz nicht theilen? O, sagen Sie mir, welche Schreckenskunde Sie so tief erschüttert?

Ach, meine Mutter! seufzte Ludwig: oder doch zum Mindesten geliebt von mir wie eine Mutter! Lesen Sie, theure Sophie, am dreißigsten März, neun und vierzig Jahre alt, und welche Frau!

Aus Ihrem Schmerz entnehme ich die Größe Ihres Verlustes! sprach Sophie bewegt. Lassen Sie mich Ihre Trauer theilen, wie Sie einst die meine theilten! Erzählen Sie mir von der Verklärten, das wird Sie erleichtern und mich zugleich in den Stand setzen, Ihren herben Verlust zu theilen.

Ludwig fühlte, wie tief und wahr die Theilnahme dieses jungen reinen Herzens war, und suchte sich zu fassen. Auf's Neue erkannte und segnete er den Engel, den das Schicksal ihm in Sophien zur Seite gestellt hatte. Auch dieser Kelch mußte geleert, auch dieses Leid ertragen werden.

Mitten in diesem Kummer traf ihn ein neuer Trauerbrief aus Bückeburg; der Kammerrath Windt meldete darin das am 26. Januar erfolgte Ableben seines Bruders, des reichsgräflichen Haushofmeisters Windt. Er war in Stadthagen sanft verschieden und ruhte ohnweit des Grabes seiner treuen Hausfrau, die ihm kurze Zeit vorher vorangegangen war.

In dem untern Stock des Hauses, welches der Graf bewohnte, befand sich die herzogliche Hofbuchdruckerei; eines Tages kam in derselben Feuer aus, welches bald entdeckt und in ganz kurzer Zeit gelöscht wurde. Dennoch trug Sophie einen heftigen Schrecken davon, was den Grafen veranlaßte, die Miethe auf der Stelle zu kündigen. Bald fand sich ein anderes Haus, in der schönen neuen Vorstadt gelegen, welche auch von Emigranten angebaut war. Im Anfang war die Eigenthümerin dieses Hauses unschlüssig, ob sie den Fremden ihr Haus einräumen solle; denn das Geheimnißvolle ihrer Personen und die vielen über sie umlaufenden Gerüchte und Mährchen schreckten sie ab. Als betagte Wittwe eines hohen Staatsbeamten, und als eine Frau von Welt und Bildung, mochte sie sich keiner Gefahr aussetzen, und da sie vernommen hatte, daß die Herzogin den geheimnißvollen Fremden kenne, so ging sie zu dieser und fragte sie geradezu, ob sie ihr rathe, den Grafen und seine Umgebung in ihr Haus aufzunehmen? Leicht beseitigte diese jede Besorgniß bei ihr und der Graf mit seiner Begleiterin und seiner Bedienung nahmen vom obern Stockwerk ihres Hauses Besitz.

Stille, lautlose Stille, deren Aufrechthaltung und Ueberwachung den Mitbewohnern fast peinlich vorkam, waltete um diese Wohnung und brachte den Grafen in den Ruf eines menschenscheuen Sonderlings, während er doch nur Sophiens Wunsch erfüllen wollte, die in dieser völligen Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt einen Genuß, einen Trost fand. Das Publikum hingegen, das die junge Dame selten und dann stets nur verschleiert erblickte, fing allmälig an zu argwöhnen, man halte sie mit Gewalt und gegen ihren Willen von der Welt abgesperrt und der Graf sei eine Art Othello oder Ritter Blaubart.

Heute flog diese, morgen jene Neuigkeit über die geheimnißvollen Fremden durch die Stadt und bildete den Inhalt der Gespräche ebensowohl an der Gasttafel im »Englischen Hof,« als auf der Bank der äußersten Vorstadt-Kneipe. Einmal erzählte man sich, der Postillon habe sich auf dem Bock umgedreht, um den im Wagen Sitzenden Etwas mitzutheilen, und in Folge davon habe der fremde Graf dem Postmeister ein Billet geschrieben, des Inhalts, daß er sich diesen Postillon wie jeden andern, der sich unterstünde, während des Fahrens zurück und in den Wagen zu sehen, ein für allemal verbitten müsse. Ein anderes Mal war ein Jude, der bis an das Zimmer des Grafen gedrungen war, die Treppe mehr herabgeflogen, als gegangen, nachdem ihn der erzürnte Graf mit Doppelterzerolen bedroht hatte. So ging es fort und fort, eine sonderbare Nachricht verdrängte die andere, der geheimnißvolle Graf, der sein Leben mit der Tarnkappe verschlossenster Zurückhaltung und mit dem Mantel der tiefsten Verschwiegenheit umkleidete, ließ die Leute zu keiner Ruhe kommen.

Um den Garten des Hauses lief ein hoher Bretterzaun, gegen die Seite der Allee; wenn Ludwig und Sophie mit einander in den frühen Morgenstunden spazieren gingen, dann lustwandelten sie gewöhnlich in der alten schattigen Allee, welche sich um die Hälfte der Stadt längs der Umfassungsmauer hinzog, zu andern Tagesstunden aber ergingen sie sich in dem geräumigen Gemüsegarten dicht am Hause. Nachbarskinder bohrten Löcher in die Bretter der Umzäunung und blickten neugierig hindurch, denn schon in die Kinderwelt herab war das Mährchen, das sich so gerne den Kindern, seinen Lieblingen, befreundet, herabgestiegen und hatte verkündet, daß da drinnen eine verwünschte Prinzessin umgehe, welche keinen Mund habe; während Andere behaupteten, die fremde verschleierte Dame habe einen Todtenkopf.

Darüber kam es zum Wortwechsel, von diesem zu Prügeln, und während die liebe Gassenjugend draußen vor dem Garten zu Rittern der Poesie des Volksmährchens wurden, standen Ludwig und Sophie an der bretternen Wand und belachten herzlich der großen und kleinen Kinder Abenteuersucht. Gewöhnlich mußte dann Philipp Brettstückchen sägen und die Löcher im Zaune wieder zunageln.

Nie gab es auffallendere Gegensätze, als das Leben dieses geheimnißvollen Paares, wie es nach Außen hin in seiner räthselhaften Abgeschlossenheit der alltäglichen Umgebung erschien, und Jenes, das Beide in Wirklichkeit führten; nach Innen die reine, lautere Wahrheit, nach Außen die romantische und selbstersonnene Täuschung.

Mitunter gab es auch Tage, an welchen die Postpferde schon zu sehr früher Morgenstunde vor dem Hause sein mußten; Philipp half dieselben rasch an den Wagen des Grafen spannen und schwang sich dann zum Postillon auf den Bock empor. An solchen Tagen durften weder die Köchin noch die Aufwärterin das Haus betreten. Einmal geschah es indessen, daß die Erstere, welche einen Schlüssel zur Küche bei sich führte, bei einer solchen Abwesenheit der Herrschaft das bestehende Verbot brach. Sie übersah aber, daß ein Spinnfaden quer über das Schlüsselloch gezogen war. Als die Herrschaft zurückkehrte, wurde diese Köchin mit Belassung ihres Gehaltes für den vollen Rest des Jahres auf der Stelle verabschiedet.

Wohin die Fremdlinge fuhren? – Jede nächste Poststation bot andere Pferde, andere Postillone, wer konnte also erfahren, wie weit und nach welcher Richtung hin ihr Reiseziel ging? Viele vermutheten, ein religiöses Bedürfniß führe sie zu den Gnadenorten des nachbarlichen Frankenlandes, nach Vierzehnheiligen, oder nach Sanct Ursula, oder zum Gipfel des heiligen Kreuzbergs.

Dem in so geheimnißvoller Eintracht verbundenen Paare, dessen Leben der gesammten Umgebung ein so großes Räthsel war, kam ein wichtiger Tag. Längst hatte Sophie im Stillen dessen gedacht, längst sich mit ihm beschäftigt, zweierlei sollte den Mann überraschen, an den ihr Geschick sie so wundersam gebunden, ja gekettet hatte. Es war der 22. September des Jahres 1808.

Heimlich, in stillen, unbelauschten Stunden hatte sie sich bemüht, Deutsch schreiben zu lernen, was ihr anfangs sehr schwer fiel.

Noch nie war, außer im innersten verschwiegensten Herzen, das traute Du über die Lippen dieser Liebenden gekommen. Dem Genius der französischen Sprache ist es fremd, nun aber war das deutsche Sie Sophien nicht minder fremd und unbegreiflich, und das Ihr klang ihr im Deutschen so seltsam, daß sie bei sich beschloß, in dem Briefe, der ihre erste Uebung im deutschen Styl werden sollte, das Du zu brauchen, selbst auf die Gefahr hin, daß es so kindlich klinge, als wenn ein Kind sein erstes Gebet stammelt.

So entstand jener noch vorhandene und in Hildburghausen wohlbekannte Brief, der so manche falsche Auslegung fand, der so Viele glauben machte, er sei, weil nicht nach den Regeln der großen deutschen Sprachschulmeister Campe, Adelung und Heinsius stylisirt und geschrieben, nur ein Zeugniß von Mangel an Bildung oder von ganz untergeordneter Stellung jener Persönlichkeit, die das Räthsel ihrer Existenz mit so dichten Schleierhüllen umwob. Und dabei bleibt es immer noch eine große Frage, ob jener Brief nicht Abschrift einer fremden, der Orthographie unkundigen Hand war. – Du! klang es in Sophiens Seele zu Ludwig, wie es längst in der seinen geklungen; Du! hallte diesen trauten Klang das jungfräulich erbebende Herz nach, da es sich gedrungen fühlte, dem edlen Mann mehr zu sein als Pflegbefohlene, mehr als Tochter.

Als der Graf an diesem 22. September früh nach seiner Gewohnheit das Lager verlassen und aus seinem Schlafkabinet in sein Wohnzimmer trat, lag auf einem geschmückten Tisch ein frischer Kranz, und neben diesem eine schöne Stickerei, ein Sophakissen im Geschmacke jener Zeit, erhabene Blumen von geschorener Seide. Diese Blumen waren Lilien, drei an der Zahl, auf einem himmelblauen Felde, und neben diesen drei zarten Lilien, welche mit täuschender Kunst die Natur nachahmten, stand von Silberlahn gefertigt, ein Anker. Zwischen diesem Kunstwerk und dem Kranze lag ein Brief, ohne Aufschrift, gesiegelt mit einem Petschaft, dessen Abdruck in einem kleinen ovalen Schildchen unter einer Königskrone drei Wappenlilien zeigte.

Bewegt nahte Ludwig diesen freundlichen Gaben einer so unendlich theuern Hand; sein Geburtstag, an den sie ihn sogleich erinnerten, war ihm wichtig geworden, seit er Leonardus kennen gelernt hatte. Er brachte still seinen Dahingeschiedenen ein Todtenopfer. Dahin, dahin waren sie Alle, nur er sonnte sich noch am lieblichen Strahle des Daseins. Aus dem Leben waren sie geflohen, hatten ihn treulos verlassen, Jeder von ihnen war ein Strahl gewesen, der sein Dasein geschmückt und verklärt hatte, jetzt waren diese Strahlen alle zusammengeflossen zu einem Strahle, der ihm ein einzig holder, ach! sein letzter Stern war.

Mit freudigem Beben öffnete der Graf endlich den Brief und las; er las nicht die fehlerhaften Zeilen einer Anfängerin in der deutschen Rechtschreibekunst und Grammatik, er las das beredte Gefühl und den heiligen Ausdruck einer unschuldigen, liebenden Seele!

»Lieber guter Ludwig!

Ich wünsche dir zu deinem Geburtetag Dem holländischen Geboortedag nachgebildet. Der Brief ist, bis auf die verbesserte Rechtschreibung, ganz urkundlich. viel Glück und Segen! Der Himmel erhalte dich gesund bis in das späteste Alter. Ach, lieber Ludwig, es sind schon viele Geburtetage, die ich bei dir erlebe, und der Himmel segne dich für Alles, was du schon an mir gethan hast, und an mir noch thust!

Ach, lieber guter Ludwig, es thut mir leid, daß ich dir zu deinem Geburtetag keine bessere Freude machen kann. Ich habe hier eine Kleinigkeit für dich gestickt, ich schäme mich, daß sie nicht besser ist. Aber gewiß wirst du, lieber guter Ludwig, es doch von deiner armen Sophie annehmen, als einen Beweis meiner Liebe und Dankbarkeit. Ach, verzeihe mir, mein guter Ludwig, wenn ich bisweilen fehle! Ich bitte den Himmel, daß er mich lehre, meine Fehler zu verbessern. Möchtest du doch mit mir zufrieden sein, ich aber im Stande, alles dir nach Wunsch zu thun, alles dir angenehm zu machen. Ach, lieber guter Ludwig, ich weiß, daß meine Lage schrecklich war und ich danke dir nochmals! Der Himmel segne dich für alles! Behalte mich lieb, lieber Ludwig! Ich bleibe im Schutze Maria's und dem deinen.

Deine arme Sophie bis in's Grab.

Den 22. September 1808.


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