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8. Die Gabe der Mutter.

Der Eintritt Windt's unterbrach Leonardus im Weiterlesen, und dieser theilte nun dem redlichen Freund die Besorgnisse mit, welche Ludwig in Bezug auf seine Gesundheit aussprach, so wie die herzlichen Grüße, die der Brief an das Haus Doorwerth und dessen Bewohner enthielt. Der Graf schrieb weiter: »Wüßte ich dich, mein lieber Leonardus, in Amsterdam zu finden, oder in Doorwerth, so käme ich noch einmal dorthin, und würde mit Sehnsucht den Augenblick erwarten, der uns wieder vereinigte, um dir so recht herzlich für alle mir erzeigte brüderliche Freundschaft zu danken. Den geraden Weg von Kastle Chatsworth, einem Schloß des Herzogs von Devonshire, wo ich jetzt weile, über London nach Hamburg scheue ich; er ist mir zu lang; vielleicht ermittelst du mir einen Ruhepunkt aus, ich werde einen Brief von dir abwarten, auf den ich mich äußerst freue. Möchte ich doch von dir, von Windt und auch über das Geschick meines Vetters, des Erbherrn, gute Nachrichten erhalten. Die Aristokratie Alt-Englands schätzt meinen Vetter außerordentlich hoch wegen seiner treuen Anhänglichkeit an den Erbstatthalter und dessen Söhne, die beiden Prinzen, und ich freue mich, ihn so hoch geachtet zu sehen. Wüßte ich ihn nur frei und in besseren Verhältnissen; seine Lage macht mir schweren Kummer. Unser Windt wird wissen, wo des Erbherrn Gemahlin jetzt lebt, und wie sie sich befindet. Mein Gedanke sucht sie bei der Großmutter in Hamburg, doch vielleicht hat das Geschick ihres Gemahls für sie einen anderen Wohnort zur Folge gehabt. Noch werden die Schlösser Varel und Kniphausen öde stehen – ich möchte wieder einmal dort sein, und zwar mit dir, mein Leonardus. Ach – wo möchte ich nicht alle sein! Und doch habe ich keine Wünsche, die in das Schrankenlose hinausschweifen, ich glaube vielmehr, daß ein beschränktes Verweilen an einem bestimmten Ort meinem Geist besser zusagen wird, als das Umherschwärmen von Lande zu Lande. Meine Natur scheint mehr zur Abgeschlossenheit sich hinzuneigen, obschon ich die Menschen liebe und gerne recht Vielen Gutes erzeigen möchte.«

»Du glaubst nicht, lieber Leonardus, wie unruhig mich der Gedanke macht, daß ein Hinderniß für mich eintreten könnte, wieder bei euch zu sein, und wie ein Wiedersehen mit dir und Windt sich am Besten herbeiführen ließe, ohne euch zu belästigen, und mir zu viele Zeit zu rauben. Allerlei Pläne gehen mir im Kopfe herum. Der Großmutter habe ich bereits meine baldige Ankunft in Deutschland gemeldet; sie, die erfahrene Frau, wird mir am Besten rathen, was ich thun soll zur Wiederherstellung meiner Gesundheit. Meine Nerven leiden, ein Uebel, das man sonst häufiger bei Frauen, als bei Männern findet, zumal bei jungen. Unregelmäßiges starkes Geräusch ist mir sehr zuwider, üble Gerüche, überlaute Reden, Gezänk, das greift mich Alles an; regelmäßiges Geräusch, wie das Rauschen der Mühlräder, der Donner der Wasserfälle, die Klänge der Orgel, macht mir eher Vergnügen; hoffentlich wird die Ueberreiztheit, die mein Wesen oft bis zu einer krankhaften Empfindlichkeit steigert, sich ja wieder heben lassen, und ihr, meine Freunde, werdet Geduld mit dem Halbkranken haben.«

»Vom Leben in England ließen sich Bücher voll Mittheilungen schreiben, darüber mündlich; über das politische Verhältniß Englands gegenüber den übrigen Mächten Europa's ist mir hier im Lande die Gewißheit und Ueberzeugung geworden, daß es das bestregierteste Land unter der Sonne ist. Wie die tausend und abertausend noch so verwickelt zusammengesetzten Maschinen Tag um Tag, oft auch Nacht für Nacht ihren geregelten Gang gehen, so das große Getriebe der Staatsmaschine. England ist die einzige Macht, die in ihren Grundsätzen fest und unerschütterlich beharrt. Im Lande nimmt Niemand wahr, daß England Kriege führt, da geht stets Alles seinen ruhig geregelten Gang. Nur die Theurung ist fühlbar, freilich zuletzt auch mehr für den an hohe Preise für alle Bedürfnisse nicht gewöhnten Ausländer, als für den Inländer, der es nicht anders weiß, und dessen Einnahmen zu dieser Theuerung im geeigneten Verhältniß stehen. Manche Unannehmlichkeit drängt sich dem Ausländer, zumal dem Deutschen, auf, dennoch verlasse ich England mit hoher Achtung vor seinem Staatsleben, seinem Volke und seiner Betriebsamkeit. Die Vervollkommnung der Dampfmaschinen ist in einem riesenhaften Fortschritte begriffen; denke dir, man trägt sich jetzt mit der Idee, auch Schiffe zu bauen, welche, statt durch Segel und Ruder, blos durch Dampf getrieben werden, an Schnelligkeit der Fahrt Alles übertreffen und das Unglaubliche leisten sollen. Es wird damit wohl so schnell nicht gehen, die Sache liegt noch in ihrer Kindheit. Wer aber kann wissen, wohin der Fortschritt auf seinen Riesenflügeln den Geist der Erfindung trägt?«

»Lebe wohl, mein Leonardus, und schreibe mir unter der beigelegten Adresse, sobald du diese Zeilen empfangen hast.« –

Dieser Brief hätte mich lange suchen können, sprach Leonardus mit einem Seufzer. Wenn ich nun nicht hierher kam? Sie hätten denselben nach Paris gesandt, ich komme nicht von Paris, und wäre der Brief mir von dort aus nachgesendet worden, er würde mich schwerlich gefunden haben. Was ist Ihre Ansicht, lieber Herr Windt? Was können wir thun, um dem Wunsche Ludwig's zu entsprechen?

Erst ruhen Sie sich bei uns aus und pflegen sich, mein verehrter Herr und Freund! entgegnete Windt. Sie sind leidend, ich sehe es Ihnen an, Sie sind kränker als mein guter junger Herr Graf, der ist nur ein malade imaginaire. Sollte nur einmal acht Tage lang an meiner Stelle sein! Beim Kreuz! da würde ihm das Kranksein, Siecheln und Süchteln gleich vergehen! Bin auch krank gewesen, war ganz auf dem Hund – aber die Unruhe bei Tag und Nacht hat mich wieder gesund gemacht. Wenn der junge Herr nicht tüchtige Arbeit bekommt, so weiß ich nicht, wie er das Leben ertragen will. Gottes Gnade hat mir im letzten Winter eine Gesundheit verliehen, für die ich nicht genug danken kann, nie aber brauchte ich dieselbe auch nothwendiger, doch fange ich an mich unwohl zu fühlen, mein Lebensschiff muß einmal frisch kalfatert werden – eine Erholungsreise thut mir Noth. Ich wollte nach Pyrmont, hat sich was! – Die Kaiserlichen haben mir meinen Sparpfennig abgepreßt, kann also nicht hin; auch brenne ich danach, das Geschäft meiner Gebieterin mit ihren Enkeln endlich ganz zu ordnen, eher kann ich mich nicht ruhig niederlegen, ich bin nun einmal so. Wir wollen miteinander nach Amsterdam und nach dem Haag gehen, dorthin mag Graf Ludwig auch kommen, der Erbherr sitzt nicht mehr in Woerden, sondern ist nach Muiden gebracht worden. Mir ist noch gar nicht wohl bei der Sache; die Untersuchung wird streng geführt, der Rathspensionär van der Spiegel, der tapfere Admiral van Kinsbergen und unser Erbherr sind Leidensgenossen, und wir haben Terroristen im Rathe der Generalstaaten sitzen. Ich habe Nachricht, daß die Gefangenen entweder nach Amsterdam oder nach dem Haag gebracht werden, wir wollen uns darüber bald Entscheidung verschaffen, nur kann ich hier nicht gut abkommen, so lange noch französische Einquartierung hier liegt, denn es ist in der ganzen Herrlichkeit kein Mensch, der Französisch spricht, und Niemand kommt so gut als ich mit den Franzosen zurecht.

Sie erwähnten vorhin Pyrmont, lieber Herr Windt, was ist das für ein Kurort? fragte Leonardus.

Einer der besten, die ich kenne, belehrte ihn der Haushofmeister. Dieser Badeort vereinigt Stahl- und Soolquellen, die Ersteren übertreffen alle Stahlbrunnen Deutschlands, das wäre auch gut für unseren jungen Freund, Graf Ludwig. Der Brunnen wirkt nervenstärkend und belebend, er verjüngt, deshalb wollte ich hin, und Sie sehen mir gerade darnach aus, als ob Pyrmonts Quellen auch Ihnen Stärkung und Genesung wieder geben könnten!

Die Freunde beriethen lange und reiflich ihren Reiseplan, und als sie ihn gefaßt hatten, erhielt Ludwig von ihnen Nachricht, mit der Bitte, gegen die Mitte des Monats Juni im Haag einzutreffen, dort werde er Einen von ihnen oder Beide, und im schlimmsten Fall, bei Verhinderung wider alles Verhoffen, wenigstens Briefe vorfinden.

 

Es war ein schmerzliches Scheiden zwischen Mutter und Sohn. Georgine fühlte um ihrer Ruhe, um ihrer Stellung in der Welt willen die Nothwendigkeit, daß ihr Geheimniß verschleiert, ja begraben bleibe, sie konnte den geliebten Verwandten nicht auf die Dauer bei sich behalten, sie mußte ihn von sich lassen, mußte den bitteren Kampf kämpfen und ihr Mutterherz stark machen. Sie sprach nicht viel zu Ludwig, als die letzte verschwiegene Stunde nahte, in welcher Mutter und Sohn noch einmal weinend ihre theuersten Gefühle aussprachen.

Zuletzt sagte die schöne Herzogin zu Ludwig: Ich bin dir eine Entschädigung schuldig, mein Sohn, dafür, daß du die Mutter in der schönsten Zeit entbehren mußtest, in der dem Kinde der Besitz einer geliebten Mutter ja Alles ist, und das ist eine Schuld, die ich niemals ganz abtragen kann; aber Etwas mußte ich doch für dich thun, es war meine heilige Pflicht. Deine Großmutter liebt dich innigst, und gewiß, ihr lebhaftester Wunsch ist, dich einst reich und glücklich zu wissen; wohl möchte sie dir Etwas von deines Vaters Erbe zuwenden, aber sie kann und darf es nicht, wenn sie nicht durch offenes Aussprechen unseres Geheimnisses mich blosstellen und dich dem Hasse deiner Verwandten offen Preis geben will. Dein Bruder, der Vice-Admiral, der es nie erfahren möge, daß du sein Bruder bist, ist ein braver Mann, aber nicht frei von Eigennutz, auch hat er zunächst Verpflichtungen gegen die Seinigen; er würde dir bitter zürnen, wolltest du Ansprüche an ihn erheben, zu denen dir kaum ein Recht zusteht, da es das Unglück so gefügt hat, daß dein theurer Vater vor unserer Vermählung mit Tode abging. Du wirst William noch näher kennen lernen, er ist minder edel, als der Erbherr. Des Kaufes von Doorwerth entschlage dich und warne deinen Freund, nicht die Halmen seines Vermögens in das Schuldenmeer deines Vetters zu schleudern, die den Sinkenden doch nicht oben schwimmend erhalten können; übernimm nicht die schwere Bürde der Bürgschaft für Andere gegenüber deinem redlichen Freund, damit du es nicht bist, der ihn um das Seine bringt, damit nicht aus Freundschaft Feindschaft entstehe. Was die Großmutter noch für dich thun kann, wird sie thun, ich aber bezweifle, daß es Viel sein wird, sie hat schon gar zu viele Schenkungen gemacht, welche ihre dereinstige Hinterlassenschaft bedeutend schmälern und wegen deren es an langwierigen Processen nicht fehlen wird, die sich über ihrem Grabe so endlos ausdehnen und kreuzen werden, wie die Gewebe der Herbstspinnen auf einem Stoppelfelde. Dich glaubte sie recht glücklich zu machen, sie dachte dir die Nutznießung der Tremouille'schen Renten zu. Die gute Großmutter! – Sie konnte die Revolution nicht ahnen, sträubte sie sich doch mit aller Starrheit, an dieselbe nur zu glauben, wie sie schon da war, sonst hätte sie wohl früher einsehen lernen können, daß jenes ganze große Kapital sammt allen Zinsen unwiederbringlich verloren ist. Doch ich will nicht, daß mein Sohn, der Sohn meiner ersten flammendsten Liebe und unendlicher Schmerzen, leer und blos in die Welt hinaus gestoßen werde, ich habe gethan, was ich thun konnte und was ich thun mußte. Empfange, mein Ludwig, dieses Patent, das mir der König auf meine Bitten bewilligt, denn ich darf mit Stolz sagen, König Georg der Dritte von Großbritannien ist mein Freund, seine Gemahlin, die Königin Sophie Charlotte, die den Vornamen deiner Großmutter trägt, ist meine Freundin, dieses Patent erhebt dich in die Baronetage von England und ertheilt dir historisch den Ritterschlag mit dem Zurufe: »Rise Sir!« Stehe auf, Herr! – Diese Documente bestätigen dich in dem Besitz der Baronie Versay, deren Ertrag deine Zukunft sichert, und ich habe alle Verfügungen bereits getroffen, daß diese Renten dir sicherer und gewisser zugehen, als jene leider verlorenen des edeln Hauses de la Tremouille. Die Baronie bleibt dein Besitzthum, und geht auf deine rechtmäßigen Erben über; bliebest du hingegen ohne Erben, so fällt ihr Besitz zurück an die Meinen. Es steht dir frei, wo du auch weilest, dich Graf von Varel oder Baron von Versay zu nennen; das gilt von jetzt an ganz gleich, du kannst auch beide Namen vereinigen. Es steht dir ferner frei, dich ganz nach deiner Herzenswahl zu verbinden. Das Weib deiner Liebe wird deine rechtmäßige Gemahlin, sei sie aus hohem, sei sie aus geringem Stande, nicht ein Fürst braucht sie zu adeln, du wirst es sein, der sie erhebt, wenn sie nicht aus adeliger Familie ist. Frauen bedürfen in Albion keiner namhaften Ahnen, weil – fügte Georgine lächelnd hinzu: der Stammbaum einer jeden in den Himmel hineinreicht.

Meine Mutter! rief Ludwig tief bewegt: mit welcher Fülle von Güte und Liebe überschütten Sie mich! Wie zeigt Ihr großes Herz mir den Himmel offen, aus dem Sie abstammen, ach, nur einen seligen Augenblick, da sich mir dieser Himmel so schnell und wohl auf immer verschließt.

O, nicht auf immer, mein Sohn! Warum so düstere Gedanken? entgegnete Georgine, fest des scheidenden Lieblings Hände in den ihrigen haltend. Warum sollten wir uns nicht wiedersehen? Einst komme ich, und finde dich glücklich an der Seite eines treuen deutschen Weibes, und sonne mich an deinem Glücke – dann wohnst du still und waltest in ruhiger selbsterwählter Thätigkeit an einem Orte, wo mich Niemand umspäht, wo ich Mutter sein darf ohne Hehl, wenn auch Niemand von deiner Umgebung ahnet, wer eigentlich die alte Frau ist, die dich besucht und eine Zeitlang bei dir weilt.

Ludwig knieete zu den Füßen seiner schönen Mutter nieder; die herrliche Gestalt beugte sich über ihn, küßte und segnete ihn, und da er, von Schmerz fast gebrochen, vor ihr knieen blieb, erhob sie ihn mit kräftigen Armen und rief: Rise, Sir! Erhebe dich, Mann! umschlang ihn noch einmal mit aller Flammenglut ihres Herzens, küßte ihn noch einmal und noch einmal, dann enteilte sie und sah ihn nicht wieder. –

Leonardus hatte sich im Hause der Freunde erholt; es kamen schöne Tage, und es trat eine Ruhe ein nach den vielfachen Stürmen, die über Doorwerth dahin gebraust waren, obschon diese Ruhe freilich noch immer keine dauernde war.

Windt und Leonardus nahmen für eine Zeitlang herzlichen Abschied von der braven Hausfrau und traten ihre Reise an. Das Land jubelte, aller Orten wurde der Friede ausgerufen, der goldene Friede.

Lieber Gott! sprach Windt auf dem Wege von Wageningen nach Utrecht, als die Reiter, gefolgt von einem Diener, dem geschlängelten Laufe des schmalen »krummen Rheins« folgten, durch reizende Fluren, durch die der wahrhaft mäanderische Fluß sich schlängelnd wand, vorüber an den herrlichsten Lustschlössern, Gärten und Parken, in denen die niederländische Gartenkunst ihre höchsten Triumphe feierte und die des Krieges rauhe zerstörende Hand zum Glück unberührt gelassen hatte – lieber Gott, wie die Leute über den Frieden jubeln! Wie lange wird er denn dauern? Ungleich vernünftiger wäre es, keinen Krieg zu beginnen und der Länder und der Völker Loose nicht auf ein maßlos ungerechtes Spiel zu setzen. Was hilft ein Friede, wenn unter den bittern Nachwehen des Krieges sich die Länder verbluten? Seuchen reißen ein, die Menschen sterben wie die Mücken; fünfundzwanzigtausend fremde Hungerleider müssen wir täglich sättigen; Doorwerth muß doppelte Schatzung zahlen, als wenn es nicht schon doppelt und dreifach und zehnfach geschätzt worden wäre!

In Utrecht ließ es sich der wackere Mann gleich nach der Ankunft angelegen sein, Etwas von dem Grafen Johann Carl, dem Bruder des Erbherrn zu erfahren. Er begab sich, während Leonardus im Gasthaus zurückblieb, zunächst in das Haus, das der Graf Johann bewohnte. Es kam ihm ein flottes Bürschchen entgegen, auf dem Kopf die leichte Mütze mit der dreifarbigen Cocarde der Republik, nöthigte ihn in das Zimmer und fragte höflich: Was wünschen Sie, Bürger? Wünschen Sie Wein oder Liqueur, Curaçao, Extrait d'Absynthe, Eau de Genever?

Windt sah den Mann groß an, ob das Gastfreundschaft sein sollte, oder ob er es mit einem Kaffeewirth zu thun habe? Er sah sich in dem Saale um, da stand noch das Prachtmobiliar, das einst auf seine Bestellung in Hamburg gefertigt und dem Enkel bei dessen Verheirathung von der Großmutter zur Aussteuer gesendet worden war; auf dem schönsten Sammt-Polsterstuhle lag ein Hund, ein fauler Rattenfänger, mit einem so ächt confiscirten Gesicht, als nur irgend ein Rattenfänger haben kann, und knurrte den Gast, in welchem er den Aristokraten sogleich herauswitterte, grimmig an.

Nicht das Eine, nicht das Andere wünsche ich, Bürger, erwiederte Windt: ich wünsche den Hausherrn zu sprechen.

O, die nicht sein hier – gab der Franzose zur Antwort: wenn sie werden sein hier, ich nicht werden sein hier, il est emigrée – sie sind gegangen fort. Ich aben die Err su sein un Vivantier, si voulez vous de vin, ou si voulez vous des liqueures. Von die slecht emigrées weißen ik nix.« Windt drehte sich rasch um und ging fort; er suchte die Wohnung des Milord Athlone, des Schwiegervaters des Grafen Johann Carl auf, welcher eine Zeitlang in Utrecht Wohnsitz genommen. Das Haus war voll französischer Soldaten, keine Spur mehr von der Familie vorhanden.

Die Freunde setzten nun ihre Reise nach Amsterdam fort, wo Leonardus seinen Begleiter mit zu seiner Mutter nahm, die hochbeglückt war, den Sohn wiederzusehen, und doch auch zugleich erschreckt durch dessen verändertes und krankhaftes Aussehen. Leonardus schob dasselbe auf die Mühen seiner Reisen, die nachtheiligen Einflüsse der Witterung und suchte die Besorgniß seiner Mutter soviel als möglich zu zerstreuen. Windt besorgte alle seine Geschäfte in Amsterdam, ging nach der vormaligen Wohnung des Erbherrn auf dem sogenannten Prinzenhof, den er zum Seecomptoir umgewandelt fand, und erfuhr hier, daß das Haus binnen vier Tagen habe geräumt werden müssen, daß man das Mobiliar des Erbherrn gesichert habe, im Uebrigen aber von ihm und seinem Schicksal nichts wisse.

Um sich etwas zu zerstreuen, besuchten Windt und Leonardus den Saal der tausend Säulen, wo sich stets zahlreiche Gesellschaft fand, wo man fleißig politisirte, Domino und Schach spielte, Zeitungen las und über die Weltgeschicke in derselben Weise entschied, wie überall, nämlich so, daß die Weltgeschicke sich nachträglich ganz anders gestalteten, wie die politischen Kannegießer sie prophezeiten.

Windt hatte ein niederländisches Zeitungsblatt ergriffen, las, runzelte die Stirne und murmelte durch die Zähne: Verdammt! Verdammt!

Was gibt es, was haben Sie? fragte gespannt Leonardus.

Vergeblich! Dumm! Albern! knirschte Windt. Alles vorbei, Alles verrathen! Da muß der Donner hineinfahren!

Darf ich nicht erfahren –? fragte Leonardus.

Wenn ich den vorlauten Schwätzer hätte, der das Geheimniß und den Plan verplaudert hat, bevor er ausgeführt ward, den Hals könnt' ich ihm umdrehn, und nicht einmal, sondern siebenmal, wie einer Katze! eiferte Jener, und flüsterte Leonardus zu: Es war Etwas im Werke; ich wußte darum, auch Fluit wußte darum; dieser befehligt jetzt, weil England den holländischen Handel ganz in Ketten und Bande legte, die Jacht des Erbherrn, die schöne Susanne. Von der Festung Woerden aus waren die Gefangenen nach Muiden gebracht worden, von dort sollten sie entwischen, Alles war vorbereitet, die Jacht des Erbherrn hatte ein anderes Bild, andere Flaggen, war äußerlich unkenntlich gemacht und lag dicht vor Muiden in der Veght vor Anker. Der Plan wurde verrathen, die Jacht entkam, aber ohne die Gefangenen am Bord zu haben; diese wurden, um ihnen das Entwischen schwerer zu machen, nun um so strenger bewacht. Ein gottverdammter Schwätzer plauderte den Anschlag zu ihrer Befreiung aus, ehe sie erfolgt war, und nun steht hier in dem Zeitungswisch diese Anzeige, die das Uebel nur ärger, die Bewachung der Gefangenen noch strenger macht, und auf's Neue ihrer Feinde Augen und Ohren schärft. Da lesen Sie!

Leonardus nahm das Blatt und las:

»Bericht an das Publikum.«

»Da wir es als eine unserer ersten und vornehmsten Pflichten betrachten, der Wahrheit so viel als möglich zu huldigen und einer offenbaren und ehrlosen Lügenmäre mit aller Verachtung, welche dieselbe verdient, zu begegnen, so können wir nicht anders als höchst entrüstet über den Inhalt eines gewissen Schandlibells sein, das man ohnlängst verbreitet hat, und worin gesagt wird, »daß auf die Vorstellung des französischen Gesandten der Ex-Rathspensionär van der Spiegel und der van Rhoon, Ex-Oberamtmann von dem Haag, für unschuldig erklärt wären, ihre Freiheit wieder erhalten hätten und mit einer Jacht aus ihrem Gefängniß zu Woerden oder Muiden abgeholt worden seien«. Wir sind von hoher Hand unterrichtet, und vollkommen versichert, daß diese Zeitung von allem Scheine der Wahrheit entblößt ist, ihren Ursprung nicht verläugnen kann, und auf nichts weiter hinzielt, als die Wohlfahrt des Vaterlandes schroff hervortretenden gewinnsüchtigen Absichten aufzuopfern und die schnödeste Arglist ins Werk zu stellen, um den besseren Theil der Nation irre zu leiten, Furcht und Unruhe in den Gemüthern hervorzurufen, und Mißtrauen im Busen gegen ländliche und städtische constituirte Mächte und deren Verhalten zu wecken. Es ist hohe Zeit, solcher Menschen Handlungen öffentlich aufzudecken, und mit den schwärzesten Farben sie zu schildern, da sie nichts bezwecken, als Zwietracht und Aufruhr anzufachen, die gute Ordnung umzustoßen, die Gesetze kraftlos zu machen und sich, in Mitten der Parteien und der Empörung, über die sie sich heimlich erfreuen, die verkehrte Begeisterung einer verblendeten Menge zu Nutzen zu machen, um ihren ehrlosen Zweck zu erreichen und ihre eigene Größe auf den Steinhaufen einer zertrümmerten Republik zu befestigen.« Wörtlich: de verkeerde geestdrift van eene verblinde menigte ten nutte te maken, om hun eerloos doel te bereiken, en hunne eigene Grootheyd op de puinhoopen van eene verbrysselte Republik te vestigen

Pah, lachte Leonardus, indem er das Blatt an Windt zurückgab. Eine Zeitungstirade von einem holländischen enragirten Parteimann, und darüber können Sie sich ärgern? Was hätten diese Mannekins, wenn sie nicht fort und fort den Ueberfluß ihrer Gemeinheit in den Zeitungen absetzen könnten? Da hätten Sie, lieber Herr Windt, einmal in Paris und ganz Frankreich die Pamphlets lesen sollen, Sie haben aber auch in Paris lieber geschrieben als gelesen. Hu! das fliegt wie Schneeflockengewirbel und Hagelschlag, daß es rasselt und prasselt, und hinterdrein wird doch wieder gutes Wetter und klarer Himmel. Wie würde nun dieses Kerlchen von einem Zeitungsscribler erst schimpfen, wenn die Gefangenen wirklich entkommen wären, da es jetzt schon bei der bloßen falschen Nachricht solch ein Geschrei erhebt?

Das ist's nicht, was mich ärgert und kümmert, entgegnete Windt verstimmt; sondern daß ich vielleicht den Erbherrn nun gar nicht spreche, weil man ihn fester verwahren und die Wachsamkeit verdoppeln wird.

In dieser Voraussetzung irrte der treue Windt sich nicht; er erfuhr noch an demselben Tage als gewiß, daß die Gefangenen von Muiden aus nach dem Haag abgeführt worden seien, und schon der folgende Morgen fand beide Freunde auf dem gleichen Wege dort hin, da ja diese schöne und reiche Stadt ohnehin ihr Reiseziel war.

Zu ihrer unaussprechlichen Freude fanden sie Ludwig bereits angekommen und ihrer harrend, und es erfolgte zwischen ihm und Leonardus ein Austausch der innigsten und zärtlichsten Gefühle, während Windt darauf gar wenig achtete, vielmehr stets beweglich, wie er war, sogleich Bekannte aufsuchte, neue Verbindungen anknüpfte und auf sein Ziel schnurgerade lossteuerte. Den ersten Besuch machte er bei der Schwiegermutter des Erbherrn, welche im Haag wohnte. Jene Nachricht, welche Windt früher einmal erhalten hatte, der Erbherr wolle diese Dame nach Hamburg bringen, war eine falsche gewesen. Er erhielt Einladung, bei der Frau Gräfin von Lynden-Reede zu speisen, traf dort den Besitzer des Gutes: die Park, nahe bei Arnhem, dessen Windt einige Male in Briefen an die Reichsgräfin erwähnt hatte, welcher Herr dem Erbherrn eine ziemliche Summe schuldig war, und benutzte die Gelegenheit, diesen Schuldner so sanft als es ihm möglich war, beim Ehrgefühl zu fassen und ihm das Versprechen abzunöthigen, baldigst zu zahlen. Auch Gräfin Lynden erhob große Klage darüber, daß Doorwerth so entsetzlich verwüstet sei; Windt lachte heimlich hinter seiner Serviette, zwinkte der alten Dame mit den Augen, und hütete sich wohl, durch Berichtigung dieser Wehklage den Herrn von der Park in seinen guten Vorsätzen wankend zu machen.

An wen sich wenden, um den Herrn Grafen zu sprechen? war Windt's hauptsächlichste Frage.

Sie werden ihn auf keinen Fall sprechen, daran ist gar nicht zu denken, ward ihm zur Antwort.

Ich muß ihn aber sprechen, und ich werde ihn sprechen! entgegnete Windt mit Bestimmtheit.

Versuchen Sie's auf Ihre Gefahr, ich aber rathe ernstlich ab, sprach Gräfin Lynden. Die Wächter sind unbestechlich.

Fällt mir auch gar nicht ein, diese braven Bürger der batavischen Republik in Versuchung zu führen, versetzte Windt. Bin zudem nicht mit Geld zu Bestechungen versehen.

Ehe eine halbe Stunde verging, seit Windt vom Tische der Gräfin weg war, stand er schon im Sitzungszimmer der hochmögenden Herren. Diese Herren hatte doch noch das Bürgerregiment gelassen, obschon der Titel vielen tausend Revolutionsmännern ein Pfahl im Fleisch und ein Dorn im Auge war. Windt sprach in seiner einfachen und schlichten Weise, nachdem er seine Persönlichkeit in aller gesetzlichen Form kund gegeben: Ich habe den gefangenen Rhoon nur eine halbe Stunde zu sprechen, und zwar blos über Familien-Angelegenheiten, und wenn es sein muß, im Beisein von Jedermann; ich habe die Ehre, Diener von des Gefangenen Großmutter zu sein, und möchte gerne, da ich im Begriffe stehe, nach Deutschland zu reisen, wo dieselbe wohnt, Aufträge von ihm mit dorthin nehmen.

Die hochmögenden Herren beriethen sich ganz kurze Zeit und fanden gar kein Bedenken darin, Windt zu willfahren. Er wurde an die Commissäre Bürger Kops und de Lange gewiesen, fand auch an diesen die artigsten Männer von der Welt, und empfing von ihnen ohne die mindeste Schwierigkeit und ohne einen Sous zahlen zu müssen, eine gedruckte Erlaubnißkarte.

Die Lage des staatsgefangenen Erbherrn war durchaus keine schreckliche. Er wohnte in den Zimmern, die früher Prinz Friedrich von Oranien inne gehabt; er spielte sich eben zum Zeitvertreib ein Stückchen auf der Guitarre vor, als Windt in Begleitung eines einzigen Aufsehers zu ihm eintrat, und war vor Erstaunen außer sich, als er den alten Bekannten erblickte. Windt fand das Zimmer ganz anständig ausmöblirt, auf einem Tisch lagen Malergeräthschaften und eine angefangene Malerei, auf einem anderen befanden sich Bücher, und der Erbherr bewirthete den alten redlichen Diener, der wahrlich den höheren Rang, den er in des Grafen Herzen einnahm, verdiente, mit einem Glase köstlichen Kapweins.

Patientia-Wein gibt es nicht, lieber Windt – scherzte der Erbherr, und winkte zum Sitzen: darum trinke ich Constantia-Wein, welcher auch große Tugenden besitzt.

Ich freue mich Ihres Wohlseins, Herr Graf! sprach Windt, und trinke auf dessen fernere Dauer; Sie haben zwar etwas von Ihrer Frische verloren, weil Sie nicht mehr so wie früher gleich einem Seeraben umherschweben können, aber ich sehe schon aus Allem, daß Sie guten Muthes sind, und das ist sehr viel werth, denn ein alter Lateiner soll gesagt haben: Mit gutem Muth die schlimme Zeit zu tragen, frommt.

Das war Plautus, liebster Windt! versetzte der Erbherr. Da war auch ein alter Grieche, hieß Euripides, der sprach: Sei guten Muthes, denn Großes kann Gerechtigkeit dir nützen. Ich habe treu dem Vaterlande gedient, und wäre wohl des bessern Lohnes werth, doch nichts davon. Was bringen Sie mir? Haben Sie Nachrichten aus Deutschland, von der Großmutter, von meiner Frau? Wo ist mein Bruder, wo ist der Vetter Ludwig?

Letzterer war in England und ist hier, Leonardus ist auch mit hier, wir holen den Grafen ab, er fühlt sich leidend und sehnt sich nach Deutschland.

Zur Großmutter, kann mir's denken!

Ihrer Excellenz Frau Gemahlin befinden sich, so viel mir bewußt ist, wieder in Kniphausen, und sind leider immer noch nicht vollkommen genesen.

Leider! leider! seufzte der Erbherr mit einem ironischen Lächeln. Alles leidend – Sympathie schöner Seelen!

Die alte Excellenz scheint in gleichbleibender Rüstigkeit ihre Tage fortzuleben, sie schreibt mir oft oder läßt mir durch Weisbrod oder meine Schwester schreiben, und kapitelt mich häufig sehr ungnädig ab, während ich Kopf und Kragen daran setze, um ihre Güter in gutem Stande zu erhalten.

Was wird es mit Doorwerth?

Deßhalb bin ich hier bei Ihnen, Herr Graf. Die Sache muß so oder so ein Ende nehmen; längeres Hinziehen stellt Alles auf das Spiel. Für Doorwerth muß Geld geschafft und zum endlichen Vergleich, den jene unglückliche Geschichte in Varel abbrach, geschritten werden.

Sie sehen, liebster Windt, sprach der Erbherr, indem er in aller Gemüthlichkeit die Gläser wieder füllte: daß ich ein gefangener Mann bin, daß ich gar nichts zu sagen habe, gar kein Versprechen geben kann. Richten Sie das, was in Ihren Händen liegt, nach Ihrer besten Einsicht ein. Ich habe außer Rhoon und Pendrecht in Holland keine Güter, fügte er betonend und mit einem Wink auf den Aufseher hinzu. Meine Lage, die jetzt leidlich scheint, kann noch schlimm werden, es ist gar nicht unmöglich, daß ich dieses Zimmer nur verlasse, um unten auf dem Platz erschossen zu werden. Meine Schriften liegen sämmtlich unter Siegel; aus ihnen würde man vielleicht mildere Urtheile über mich gewinnen, allein man untersucht sie zur Zeit noch nicht. Man verschiebt es, bis der National-Convent organisirt ist, und dann – nun, wie Gott will! Man wird mich als einen Mann finden!

Als einen Ehrenmann, ganz gewiß, Herr Graf, bestätigte tiefbewegt der Haushofmeister.

Ich muß endlich bitten, Bürger, nahm der Aufseher das Wort: man spricht hier nicht von Grafen, Herren und Excellenzen!

O zum Donner! rief Windt, sich mit komischer Geberde auf den Mund schlagend: Verzeiht, Bürger, ich bitte tausendmal! Ich bin ein dummer deutscher Teufel, bin noch nicht eingebürgert in der heillosen, wollte sagen, theillosen Republik. Müsset meiner Sprechart was zu Gute halten. Ich schwör es Euch zu, ich habe vor eurer Republik den heiligsten Respect!

So laß' ich's gelten, brummte der Aufseher, ohne die Ironie zu verstehen, die in diesen Worten lag.

Windt drängte, was er zu sagen hatte, in geflügelte Worte zusammen; gute Wünsche für baldige Befreiung, die Nothwendigkeit, wenn diese in der nächsten Stunde erfolgen sollte, ohne Verweilen die Angelegenheit zu ordnen, und da dieses nur in Deutschland geschehen könne, dorthin zu reisen, Windt in Doorwerth abzuholen und ihn mit nach Hamburg oder wo die Reichsgräfin sonst sich aufhalten werde, zu nehmen. Falls Windt bereits in Pyrmont, Bückeburg oder Stadthagen sei, solle ihn der Erbherr ohne Verzug von jedem gethanen oder beabsichtigten Schritt unterrichten.

Windt fand den gefangenen Herrn zu Allem willig, erhielt Grüße von ihm an alle Freunde und Bekannte und schied mit der Beruhigung im Herzen, abermals zum guten Werke endlichen Vergleiches beigetragen und seinen Aufbau, wenn auch nicht merklich höher, doch in Etwas weiter gefördert zu haben. Der Abend vereinte die drei Freunde in gemüthlicher Unterhaltung auf einem ihrer Zimmer.

Leonardus war Windt bisher immer noch die Erzählung von Dem schuldig geblieben, was ihm begegnet war, seit er zum letztenmale le Mans verlassen hatte, und was eigentlich Ursache an seinem Kranksein und der ganzen traurigen Verfassung sei, in welcher er jüngst zu Doorwerth angekommen war. Der Diener besorgte daher zur gemüthlichen Plauderstunde für Windt und Leonardus die unvermeidlichen holländischen Thonpfeifen, und als der köstlichste Tabak das Zimmer durchduftete, begann Leonardus seine Erzählung.


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