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IV.

Einige Romanschreiber suchen das Interesse des Lesers dadurch rege zu erhalten, daß sie den Faden der Erzählung gerade da, wo diese spannend zu werden anfängt, plötzlich abschneiden, um, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, dieselbe peinliche Procedur an einem zweiten Thema zu wiederholen. Der Held der Geschichte spaziert ganz harmlos, ohne etwas Böses zu ahnen, in einem Walde. Da springen aus dem nahen Gebüsche vermummte Gestalten hervor und fallen über ihn her. Ein Dolch senkt sich in seine Brust, das Blut entströmt der klaffenden Wunde. Dann wird plötzlich ein Geräusch vernommen, und die Missethäter entweichen. Nun möchten wir wissen, wie es um den armen Ritter denn eigentlich steht, was das für ein Geräusch gewesen, und ob ihm Rettung geworden ist. Aber das Kapitel ist aus, und wir müssen ihn mit dem Tode ringen lassen, bis wir, nachdem wir ein halbes Dutzend andere Kapitel durchgelesen und daraus ersehen haben, wie sich die Heldin, ihrem Verfolger zu entrinnen, so eben verzweiflungsvoll in den Abgrund stürzte, wieder zu jenem zurückgeführt werden, was uns aber nun sehr ungelegen kommt, denn wir möchten weit lieber untersuchen, ob sich da unten in der schauerlichen Kluft die schöne Thusnelda nicht die zarten Glieder zerschmettert hat.

Wir schreiben keinen spannenden Roman, sondern eine ganz einfache wahre Geschichte, wie sie uns in dem Manuscripte des Buchhalters Lempke und den Notizen eines ebenso gewissenhaften Compilators, den wir zu nennen nicht ermächtigt sind, vorliegt. Wir besitzen nicht den falschen Ehrgeiz, die Neugierde des Lesers an ein physisches Prokrustesbett spannen zu wollen, und gern würden wir ihm jetzt gleich berichten, wie es der Familie Lüders nach jenem ereignißreichen Tage, der in ihren Verhältnissen, wie man leicht errathen wird, große Veränderungen herbeiführte, weiter erging. Wenn wir nun hierin den Wünschen des Lesers dennoch nicht genügen, so haben wir doch wenigstens hiezu unsere wohlerwogenen Gründe und verfolgen dabei die menschenfreundlichsten Absichten. Es ist nämlich durchaus nothwendig, einige Erläuterungen zu geben, ohne welche unsere Erzählung durch nichts zusammengehalten sein würde als höchstens durch das Papier, worauf sie geschrieben ist. Diese Erläuterungen enthält nebst anderen gleich wichtigen Dingen das folgende Kapitel.

Wir bitten Dich nun, lieber Leser, mit uns eine Reise von Altona nach München zu unternehmen, und da wir Dir nicht zumuthen, dieselbe auf der Eisenbahn oder gar per pedes apostolorum zu machen, sondern Dir eine Beförderung anbieten können, bei der Du jeder Unannehmlichkeit überhoben sein wirst, so hoffen wir, daß Du Dich als ein fügsamer Leser zeigen und unsere Bitte gern erfüllen wirst.

Hast Du ein Buch gelesen, welches den Titel führt: »Dämonische Reisen in alle Welt?« Wenn dem so ist, so wirst Du einräumen, daß Du weit schlechtere Bücher gelesen hast, und wirst Dich entsinnen, wie der gute Teufel Asmodi als Cicerone des deutschen Michels diesen nach Belieben hierhin und dorthin versetzte, indem er ihn an der Hand nahm und ganz einfach den Namen desjenigen Ortes aussprach, wohin sie sich zu begeben wünschten. »Petersburg«, hieß es, oder »Neapel«, und sie waren in Petersburg oder Neapel. Was der gute Teufel Asmodi – es ist in der That ein höchst respectabler Teufel – vermöge seiner infernalischen Eigenschaften ermöglichte, das thun auch wir, und zwar – aber es bleibt unter uns – vermöge eines kleinen Zauberstabes, den wir von dem weltberühmten Tausendkünstler Hespé empfingen, der ihn wieder von dem Urenkel des großen Magus Prosper Alginus hatte. Dir ein Weiteres hierüber zu erzählen würde uns zu weit führen; vielleicht thun wir es ein anderes Mal. Laß uns nun die Probe machen. Reich mir die Hand, lieber Leser, – wenn Du eine schöne Leserin bist, wäre es mir noch weit angenehmer – so, jetzt sagen wir: »München!« und sieh, wir sind schon dort, ja sogar einen kleinen Ruck darüber hinaus, denn wir befinden uns, wie ich sehe, in der hübschen Anlage, welche sich von der Stadt aus längs der Isar bis nach der kleinen Ortschaft Harlaching erstreckt. Wenn Du nun noch die Güte haben willst, Dir vorzustellen, daß seit jenem Abend, den wir miteinander in dem Hause des Herrn Lüders zubrachten, ein Zeitraum von anderthalb Jahren verflossen ist, so können wir getrost in unserer Geschichte fortfahren.

Wir sind im Monat April und es ist schon ziemlich spät am Nachmittag. Zwei junge Männer lustwandeln in der Anlage. Sie hatten unter den vielen sich hier kreuzenden Wegen denjenigen gewählt, der sich unmittelbar an einem Arm des Flusses hinzieht, und standen nun auf einer Brücke still, unter welcher das Wasser mit rasender Schnelligkeit dahinschoß, eine Menge Klafterholz mit sich führend, welches in den Strudel hineingerissen, wild und toll durch- und übereinander hinpurzelte, sich staute und überstürzte, dann im Schaum verschwand und weiter hin wieder auftauchte, um die eilige Fahrt rastlos fortzusetzen.

»Es stimmt mich immer traurig,« sagte der eine der Spaziergänger, an dessen ungezwungener Haltung und athletischer Figur wir leicht unsern Freund Hugo erkennen, obgleich er den Seemannsanzug, den er in Altona trug, mit einem modernen Rock und einem Cylinderhut – dieser Schmach unsers Jahrhunderts – vertauscht hat, »es stimmt mich immer traurig,« sagte er, »diese verstümmelten Leichname der mächtigen Waldriesen zu sehen, wie sie, von ihrer schönen Heimath losgerissen, der Laune und Willkür der Wellen preisgegeben sind.«

»Es geht mir wie Ihnen, lieber Falkner,« entgegnete sein Begleiter, ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem offenen, freundlichen Gesichtsausdruck und hellblondem, etwas lockigem Haar, »ein Gefühl von Unwillen, ich mochte fast sagen von Groll, bemächtigt sich meiner, wenn ich im Walde den Schall der Axt höre. Es ist mir dann fast, als sei ich Zeuge eines Mordes, den ich nicht verhindern könnte. Und doch ist dieses Gefühl ein sehr unberechtigtes, denn unsere Wälder bieten unzweifelhaft jetzt weit mehr Schönheiten dar, als sie es zu der Zeit thaten, da sie im Urzustande sich fast ununterbrochen vom Fuße der Alpen bis an das Gestade der Ostsee erstreckten.«

»Dann geb' ich Ihnen gern Recht, bester Werner,« erwiederte Hugo, »die Cultur hebt nicht nur die Fruchtbarkeit des Bodens und mildert das Klima, sondern sie verschönert auch die Erde überall, wohin sie dringt. Aber sie thut dies letzte meistens absichtslos, verfolgt dabei keinen eigentlichen Zweck und erreicht darin also auch bei weitem nicht, was erreicht werden könnte. Besäßen namentlich unsere Herren Forstbeamten etwas von dem ästhetischen Sinn des Landschaftsmalers, so würden sie, der Staatsökonomie unbeschadet, wesentlich zur Verschönerung der Wälder und des Landes überhaupt beitragen können. Sie würden da lichten, wo sich überraschende Fernsichten darbieten, da schöne alte Bäume stehen lassen, wo sie in der Landschaft malerische Gruppen bilden, ihre langweiligen Eichen- und Buchenbestände aber mit ihren schnurgeraden Reihen, ihren gleich dicken, gleich hohen und gleich schlanken Stämmen, die sich wie in einem und demselben Jahre ausgehobene Rekruten ansehen und jedem fühlenden Menschen ein Gräuel sind, würden sie dahin verlegen, wo sie am wenigsten stören. Nun aber verfahren die Herren meistens in ganz entgegengesetzter Weise. Aber,« fügte er hinzu, indem er sich rasch von dem Brückengeländer abwandte und seinen Arm unter den seines Begleiters schob, »diese Klötze – die da unten im Wasser meine ich – bringen uns ja ganz von dem Gegenstande unseres Gespräches ab. Kommen Sie, Werner, wir wollen auf jener Bank Platz nehmen. Die Luft ist milde, ja fast heiß, und ein wenig Ruhe wird uns nach der langen Wanderung wohl thun. Dann, Freund, fahren Sie in Ihrer Selbstbiographie fort, während ich, indem ich Ihnen zuhöre, dem Laster des Rauchens fröhne, über welches Sie ja erhaben sind.«

»Wie Sie wollen,« sagte Werner, »da ich in meinem Bericht schon so weit gekommen bin, beendige ich ihn lieber gleich heute; denn die Periode meines Lebens, die ich Ihnen jetzt zu schildern habe, erweckt in mir so peinliche Erinnerungen, daß Sie mich so bald nicht wieder in der Stimmung treffen möchten, sie heraufzubeschwören.«

Die beiden Freunde schritten auf die Bank zu und setzten sich. Werner überließ sich für einen Augenblick seinen Gedanken, und Hugo benutzte die eingetretene Pause um ein Cigarrenetui aus der Tasche zu ziehen und die übrigen Vorkehrungen zum Rauchen zu treffen.

»Sie wissen bereits,« begann Werner, »wie ich mit der damals reichen und angesehenen Familie Lüders bekannt wurde, wie ich ein fast täglicher Gast in ihrem Hause wurde, wie ich Ida lieben lernte und ihre Gegenliebe gewann. Sie sollen jetzt erfahren, durch welches unglückliche Ereigniß ich meine Hoffnung auf ihre Hand plötzlich und für immer einbüßte. Daß ich bei dem Banquier und Geldwechsler Schulze damals den Posten eines ersten Comptoristen einnahm, habe ich Ihnen gleichfalls erzählt. Es geschah nun eines Tages, daß mein Principal von einem schwedischen Baron, Silferkrona, der in einem der ersten Hotels logirte, einen Brief mit der Bitte empfing, ihm eine bedeutende Summe in preußische Banknoten umzusetzen. Die Größe der zu wechselnden Summe, theils Gold, theils Silber, war nach dem Course der verschiedenen Münzsorten und mit Bezug auf das Agio sehr genau berechnet; sie betrug etwas über 3000 preußische Thaler. Er sei krank, hatte der Baron hinzugefügt, und müsse das Zimmer hüten, weshalb er sich nicht persönlich bei Herrn Schulze habe einfinden können; er müsse also darum ersuchen, daß entweder er selbst oder einer seiner Untergebenen sich zu ihm bemühe. Nun traf es sich aber, daß mein Principal gleichfalls krank und bettlägerig war und daher mir den Auftrag ertheilte, mit der gewünschten Summe zu dem Baron zu gehen und das Geschäft mit ihm abzumachen.

Ich begab mich also zur festgesetzten Stunde auf den Weg und miethete, ehe ich das Hotel betrat, eine der dort haltenden Droschken, um das viele Silbergeld, das ich nicht hätte tragen können, nach dem Büreau fahren zu lassen.

Von dem Portier wurde ich in den ersten Stock verwiesen, woselbst der Baron seit mehr als acht Tagen eine Reihe Zimmer bewohnte. Ein schwaches ›Herein‹ beantwortete mein Klopfen an die mir bezeichnete Thür, und als ich in das Zimmer trat, sah ich einen in einen weiten Schlafrock gehüllten Mann auf dem Sopha liegen. Er erhob sich, als er meiner ansichtig wurde, mühsam. Er war äußerst blaß und augenscheinlich sehr leidend, hatte regelmäßige und, so weit es die lang herabhangenden Haare und der etwas vernachlässigte Bart, sowie die Brille erkennen ließen, nicht unangenehme Züge. Er trug außer dem schon erwähnten Schlafrock noch eine sammtne Kappe mit einer goldenen Troddel und an den Füßen Pantoffeln. Als er mich anreden wollte, bekam er einen heftigen Anfall von Husten, den er dadurch zu lindern suchte, daß er aus einer neben ihm stehenden Tasse Gerstenschleim trank.

Ich sagte ihm, daß ich im Auftrage des Wechslers Schulze gekommen sei und die verlangte Summe mitgebracht habe. Er sah mich mit zerstreuter Miene an, als besinne er sich auf etwas halb Vergessenes. Darauf bot er mir einen Stuhl, ging mit schwankenden Schritten auf einen Pult zu, öffnete ihn und nahm mehrere Geldsäcke daraus hervor, welche er vor mich hin auf den mit einer dicken tuchenen Decke versehenen Tisch stellte. Ich hatte ihm meine Hülfe angeboten, die er aber mit einer entschieden abwehrenden Handbewegung abgewiesen hatte.

Er sank nun, als sei er von der Anstrengung gänzlich erschöpft, wieder auf das Sopha, hustete stark, trank Gerstenschleim, und entschuldigte sich zu wiederholten Malen wegen seiner Schwäche und des leidigen Hustens, der ihm doppelt peinlich sei, weil es gewiß für mich recht unangenehm sein müsse, ihn zu hören, und weil dadurch auch unser kleines Geschäft oft unterbrochen werden möchte. Er sprach in etwas gebrochenem Deutsch, mit dem bekannten, singendem schwedischem Accent.

»Sie werden meine Berechnung hoffentlich ziemlich richtig gefunden haben,« fügte er hinzu.

»Sie war ganz genau, Herr Baron,« entgegnete ich.

»Ich bin in diesen Dingen nicht unbewandert,« fuhr er fort, »denn da ich viele und weite Reisen mache und meine Gelder immer in schwedischem Silber empfange, welches man nirgends ausgeben kann, so muß ich fortwährend wechseln.«

Das war der längste Satz, den er noch gesprochen hatte, und der Husten stellte sich wieder ein.

»Wie wäre es,« begann er wieder, »wenn wir den Anfang damit machten, das Papiergeld nachzuzählen?«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Baron.«

»Wir brauchen es eigentlich gar nicht nachzuzählen, die Herren Wechsler sind so pünktlich.«

»Ein Versehen ist immerhin möglich, ich möchte Sie also bitten, Herr Baron....«

»Nun, wenn Sie darauf bestehen. Was ich von Ihnen bekomme, macht« – er blätterte einen Augenblick in einem Notizbuche – » macht gerade 3,035 Thaler, 10 Groschen, nicht wahr?«

»So ist es.«

Er zählte nun sehr langsam jedes Päckchen Banknoten, welches ich ihm hinreichte, manches sogar zweimal, und legte sie dann neben sich hin. Als er endlich damit fertig geworden war, schob er sie in die Tasche seines Schlafrocks, um, wie er sagte, für das Nachzählen des Silbers und Goldes Platz zu machen. Er nahm dann einen der Geldbeutel zur Hand, aber sein Husten wurde nun so heftig und anhaltend, daß er ihn wieder hinstellte und nach der Tasse griff; sie war leer.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, mein Herr,« sagte er, »ich muß mir neuen Gerstenschleim holen.«

»Soll ich nicht klingeln, Herr Baron,« fragte ich.

»Bemühen Sie sich nicht,« entgegnete er, »ich habe hier drinnen welchen.«

Er erhob sich unter sichtbarer Anstrengung von seinem Sitze und ging mit der Tasse in der Hand in das Nebenzimmer, zu welchem die Thür offen stand. Er schloß sie nicht hinter sich zu und ich hörte ihn drinnen noch einen Augenblick umhergehen und husten; dann aber erscholl das nun wirklich ängstliche, krampfhafte Husten aus weiter Ferne – wie ich annahm, aus seinem Schlafzimmer. Es dauerte aber nur etwa zwei oder drei Minuten, dann hörte es plötzlich auf, und ich vernahm nichts mehr. Ich vermuthete, daß der Kranke, um dem furchtbaren Husten Einhalt zu thun, der, wie es schien, ihn fast zu ersticken drohte, ein kräftigeres Mittel angewandt hätte und nun zurückkehren würde. Als aber Minute auf Minute verstrich, und er nicht kam, dachte ich, er habe sich vielleicht, um sich nach der großen Ermattung zu erholen, auf das Bett gelegt.

Meine Besorgniß um den armen Mann, für den ich gleich von Anfang an das tiefste Mitleid empfunden hatte, ließ mir endlich keine Ruhe mehr, und als ich noch – es mochte ungefähr eine Viertelstunde sein – ängstlich horchend gewartet hatte, und nun ernstlich zu fürchten begann, es möchte ihm etwas zugestoßen sein, faßte ich den Entschluß ihm nachzugehen; aber ich besann mich, indem ich erwog, er könne es einem Fremden übel nehmen, daß er so unberufen in sein Schlafzimmer dringe. Ich zog also die Klingel, und der Kellner erschien.

»Sehen Sie doch nach dem Herrn Baron, Kellner,« redete ich diesen an, »er ging vor einer Viertelstunde, nachdem er einen äußerst heftigen Anfall von Husten bekommen hatte, in die andern Zimmer und ist nicht wieder zurückgekehrt. Auch höre ich ihn seit längerer Zeit nicht mehr husten. Es muß ihm etwas begegnet sein.«

Der Kellner meinte, es habe wohl nichts zu bedeuten, der Herr Baron huste schon seit einigen Tagen ganz erbärmlich, sei aber nicht eigentlich krank; indeß könne er ja leicht nachsehen. Er ging also, kehrte aber augenblicklich zurück und berichtete, der Baron sei nicht da.

»Liegt er nicht auf seinem Bette?« fragte ich.

»Auf seinem Bette,« war die Antwort, »liegt nichts als sein Schlafrock.«

»Sein Schlafrock!« rief ich, und zum ersten Male begann ein unbestimmter Verdacht in mir aufzutauchen. Ich griff den Arm des Kellners und zog ihn, ohne ein Wort weiter zu reden, mit mir fort in die anstoßenden Zimmer. Das dritte war, wie ich vermuthet hatte, das Schlafgemach. Hier lag, so wie der Kellner es gesagt, auf dem Bette ein Schlafrock. Es war derselbe, den der Baron eben getragen hatte. Neben dem Bette lagen die Pantoffeln, und auf einem Stuhl die sammtne Kappe. In die Tasche des Schlafrocks hatte der Baron die Banknoten gesteckt. Ich ergriff ihn hastig und durchsuchte ihn; die Taschen waren leer. Mein Argwohn, daß ich betrogen sei, steigerte sich fast bis zur Gewißheit.

»Wohin führt diese Thür?« fragte ich den Kellner.

»Auf den Corridor, mein Herr.«

»Auf den Hauptcorridor?«

»Nein, auf einen Nebengang.«

»Und der Nebengang?«

»Nun, von da kann man mittelst der Treppe in die oberen Stockwerke oder in den Hof gelangen.«

»Folgen Sie mir!« rief ich und eilte in das erste Zimmer zurück. Schnell ergriff ich einen der auf dem Tische stehenden Geldbeutel, riß das Siegel ab und durchschnitt den Bindfaden, mit welchem er zusammengebunden war. Ein Haufe von kleinen Feuersteinen rollte mir entgegen.

Obgleich ich etwas dem ähnlichen erwartet hatte, war ich doch im ersten Momente vor Schrecken sprachlos. Ich faßte mich jedoch schnell und wandte mich an den neben mir stehenden Kellner, auf dessen Gesicht die höchste Verwunderung zu lesen war.

»Es ist hier ein frecher Betrug verübt worden,« sagte ich, »und es handelt sich um eine große Summe. Rufen Sie augenblicklich Ihren Herrn. Sagen Sie auch dem Portier was hier vorgefallen ist, damit er, wenn es nicht schon zu spät ist, verhindere, daß der Baron, denn dieser ist der Betrüger, das Hotel verläßt. Dann schicken Sie schleunigst nach einem Polizeiofficianten. Eilen Sie!«

»Der Kellner stürzte zum Zimmer hinaus. Einen Augenblick später erschien der Wirth, und nach wenigen Minuten auch ein Polizeiofficiant. Es begann nun ... jedoch ich will Sie, lieber Falkner, nicht mit einer Auseinandersetzung all der langwierigen und minutiösen Untersuchungen ermüden, die jetzt angestellt wurden; genug, daß sie völlig erfolglos waren.«

»Der Schurke war also bereits aus dem Hotel entwischt?« fragte Hugo, welcher der Erzählung seines Freundes mit immer steigender Aufmerksamkeit zugehört hatte.

»Jeder Schlupfwinkel,« entgegnete Werner, »den das weitläufige Gebäude darbot, wurde auf's Sorgfältigste untersucht; man fand ihn nicht.«

»Und hatte ihn Niemand weggehen sehen?« fragte Hugo weiter.

»Niemand,« lautete die Antwort. » Der Portier war während der Zeit, in welcher sich der Betrüger entfernt haben mußte, nicht von seinem Posten gewichen. Sowohl er als auch mehrere Lohndiener, die sich auf der Hausflur, im Thorweg und in den dahin führenden Zugängen aufgehalten hatten, behaupteten, daß unmöglich Jemand das Hotel habe verlassen können, ohne von ihnen bemerkt zu werden, daß aber keiner von den Fortgegangenen die mindeste Aehnlichkeit mit dem ihnen allen wohlbekannten Baron gehabt hätte.«

»Aber das Alles ist ja ganz unerklärlich,« sagte Hugo.

»O nein,« versetzte Werner, »es scheint nur so im ersten Augenblick. Der schlaue und verwegene Betrüger muß die ganze Zeit über, die er im Hotel zubrachte, eine vortreffliche, ihn vollkommen entstellende Verkleidung getragen haben. Eine Perrücke, ein falscher Bart, eine Brille, Schminke u. s. w. vermögen ja einen Menschen so total umzuwandeln, daß ihn seine eigene Mutter unter dieser Vermummung nicht wiedererkennen würde. Aber diese ganze Hülle läßt sich in weniger als einer Minute entfernen, und der Schurke hatte mithin als ein völlig Anderer, als ein dem Baron Silferkrona vollkommen Unähnlicher ruhig fortgehen können, ohne die mindeste Aufmerksamkeit zu erregen. Namentlich müssen Sie dies einräumen, wenn Sie die starke Frequenz eines Hamburger Gasthofes bedenken, bei welcher es unmöglich auffallen kann, daß Jemand fortgeht, den man nicht erst hat kommen sehen.«

»Wohl wahr, bester Freund,« entgegnete Hugo, »aber noch immer fasse ich nicht die unerhörte Frechheit, womit der Betrug verübt wurde. Wie leicht hätte er nicht mißlingen können.«

»O, nicht so leicht.«

»Hätten Sie nur z. B. darauf bestanden, das Silbergeld erst nachzuzählen?«

»Dazu war gar kein Grund vorhanden, und dann, wenn ich es gethan hätte, nun, so würde er den Beleidigten gespielt und mir ganz einfach erklärt haben, ich möge hingehen, wo ich hergekommen sei, es würden sich wohl zu Hamburg noch andere Geldwechsler finden, welche die Höflichkeit hätten, das Geschäft in der Reihenfolge abzumachen, die er vorschlüge.«

»Gut, aber hätten Sie gleich nach seinem Fortgehen einen der Geldsäcke geöffnet?«

»Sagen Sie, lieber Falkner – aber berücksichtigen Sie wohl alle die hier vorliegenden Umstände – hätten Sie es gethan?«

»Ich glaube es allerdings nicht?«

»Nicht Einer von Hunderten hätte es gethan, wenigstens nicht gleich in derselben Minute, in welcher er sich entfernt hatte, und in der nächsten wäre es schon zu spät gewesen. Kurz, mein Freund, ich bin überzeugt, daß Jeder, der die nöthige Ruhe und Gewandtheit besitzt, dieses Bubenstück auszuüben im Stande ist, und eigentlich sehr wenig dabei riskirt.«

»Ich räume es ein,« erwiederte Hugo. »Aber erzählen Sie weiter. Wurde der Spitzbube nicht später entdeckt?«

»Nein, es fand sich nicht die mindeste Spur, die zu seiner Entdeckung hätte leiten können, obgleich die Polizei unermüdlich thätig war und alle ihre Hülfsmittel erschöpfte, um eine solche zu finden. Mehrere Umstände – und das war Alles, wozu ihre Nachforschungen führten – deuteten darauf hin, daß der Betrüger kein Schwede, überhaupt kein Fremder, sondern ein in Hamburg oder Altona ansäßiger Mann sein müsse, der alle örtlichen Verhältnisse genau kenne und wahrscheinlich auch von der Krankheit des Geldwechslers Schulze unterrichtet war.«

»Und weiter ließ sich gar keine Spur auffinden? Konnten denn die zurückgelassenen Kleidungsstücke keinen Fingerzeig geben?«

»Es stellte sich heraus, daß diese nicht in Hamburg oder Altona gekauft waren. Nur ein sehr schön gearbeiteter goldener Hemdknopf, der in seiner Mosaikarbeit ein Vergißmeinnicht auf schwarzem Grunde zeigte, fand sich in einem der mit Feuersteinen gefüllten Geldbeutel. Es ergab sich, daß eine Woche früher bei dem Goldschmied Schröder in Hamburg zwei solche Knöpfe nebst einigen andern Schmucksachen – wie einer goldenen Kette, einigen Ringen und dergleichen – gekauft worden waren, und daß Schröder ihm diese mit einer quittirten Rechnung nach dem Hotel geschickt hatte. Bei der weiteren Untersuchung erwies es sich ferner, daß der angebliche Baron am vorhergehenden Tage einen der Kellner und das Stubenmädchen sehr angelegentlich nach einem Hemdknopfe gefragt hatte, den er im Hotel verloren haben wollte. Die Beschreibung, die er davon gemacht hatte, paßte genau auf den im Sacke gefundenen. Dies war aber auch das ganze Ergebniß der angestellten Untersuchungen, und der freche Schurke war und blieb spurlos verschwunden.«

»Lieber Werner,« sagte Hugo, »Sie sind das Opfer der verwegensten Spitzbüberei geworden, von der ich je gehört habe.«

»Lassen Sie mich meinen traurigen Bericht beendigen,« fuhr Werner nach einer kurzen Pause fort. »Mein Principal, Herr Schulze, war ein braver, vortrefflicher Mann, dem ich alle Achtung zollte. Aber er war heftig und aufbrausend, und wenn sein Zorn erwachte, was nur zu häufig, selbst bei unbedeutenden Anlässen, geschah, dann wog er seine Worte nicht. Die Krankheit hatte seine Reizbarkeit noch erhöht, und ich, noch mehr aber seine übrigen Untergebenen, hatten seit einiger Zeit viel zu dulden gehabt. Als ich ihm von dem Vorgefallenen Bericht abstattete, gerieth er in einen wahren Paroxysmus von Wuth. Er schmähte in den härtesten Ausdrücken über meine Leichtgläubigkeit, meine Blindheit, behauptete, ein unerfahrenes Kind hätte das erbärmliche Komödienspiel durchschauen müssen, so etwas aber könne nur mir passiven, ein jeder Andere würde sich nicht so über den Löffel barbiren lassen u. s. w. Ich dachte ihn mit dem Anerbieten zu besänftigen, die verlorne Summe aus meinen eigenen Mitteln zu ersetzen; aber er starrte mich nur ungläubig an und erklärte dann, daß er nichts davon wissen wolle. Auf das Geld, sagte er, komme es ihm wenig an, den Verlust könne er verschmerzen; aber dem Gespötte und dem Gelächter preisgegeben zu sein, das wäre hart, es wäre mehr, als er mir je verzeihen könne. Ich warf dagegen ein, daß das Gespötte der Leute, wenn es überhaupt Jemand heimsuchen würde, nur mich, nicht aber auch ihn treffen könne. ›Schweigen Sie,‹ rief er vor Wuth schäumend, ›um Sie, den Commis Werner, kümmert sich kein Mensch; es wird heißen, der Geldwechsler Schulze habe sich von einem erbärmlichen Gauner übertölpeln lassen, auf meine Kosten wird man sich lustig machen und die von Ihnen begangene Dummheit benutzen, um mein Ansehen als Geschäftsmann zu untergraben.‹

Es riß mir endlich die Geduld; ich antwortete ihm in einem gereizten Tone, ein Wort gab das andere, und wir schieden im Zorn von einander, doch nicht eher, als bis ich es durchgesetzt, daß er in die Zurückerstattung der 3035 Thaler gewilligt hatte. Acht Tage später händigte ich ihm diese Summe ein; es war der größte Theil meines mütterlichen Erbes, welches ich in dem Geschäfte meines später verstorbenen Bruders in Amsterdam angelegt hatte.

So war ich denn meiner Stelle verlustig, und Sie werden einsehen, daß ich wenig Aussicht gehabt hätte, in Hamburg eine ähnliche zu bekommen, auch wenn die Umstände nicht eingetroffen wären, die ich jetzt erwähnen werde.

Im Nu war die Geschichte von dem verübten Betruge über die ganze Stadt verbreitet, ausgeschmückt mit den entstellendsten Zusätzen. An der Börse, in allen Geschäftslokalen, in den Kaffeehäusern, auf der Promenade und im Theater, bei Visiten und in Gesellschaften, überall bildete während mehrerer Tage der außerordentliche Vorfall den Stoff der Unterhaltung; und überall fragte man sich: »Wie ist das möglich? Wie konnte ein solcher Streich gelingen?« Und die Antwort war jedesmal dieselbe: »Nun, es liegt ja auf der Hand, der angebliche Baron und der Commis steckten unter einer Decke.« War es nun die in der That unerhörte und schwer zu fassende Dreistigkeit des Betrügers, die man sich nicht anders als durch diese Annahme zu erklären wußte, oder war es, wie ich zu vermuthen Grund habe, von irgend einer Seite absichtlich versucht worden, den Verdacht der Mitschuld auf mich zu wälzen, genug, dieser Verdacht war kaum ausgesprochen, als er auch schnell Glauben gewann, und mein ehrlicher Name war geschändet. Daß ich eigentlich der Bestohlene war, daß fast mein ganzes kleines Vermögen zur Deckung der verlornen Summe verwendet worden war, das wußte man nicht, oder wenn es Jemand wußte, so sah man darin nur die Erfüllung eines mir von meinem Principal abgenöthigten Zugeständnisses. Es war mir – so schien man zu denken – ein Strich durch die Rechnung gemacht worden, der die beabsichtigte Beraubung verhindert hatte; aber darum war ich ja nicht minder der Helfershelfer und Mitschuldige.

Anfänglich hatte ich keine Ahnung davon, daß mein guter Ruf compromittirt sei; aber nur zu bald sollte ich es gewahr werden. Meine bisherigen Freunde erwiederten auf der Straße kaum mehr meinen Gruß; wenn ich sie aber anreden und um den Grund ihres Benehmens befragen wollte, so antworteten sie mir entweder nur kurz und mit kalter Förmlichkeit, oder schwiegen gänzlich. Traf ich jedoch in einem öffentlichen Lokale mit ihnen zusammen, so verstummte plötzlich ihr Gespräch, neugierige, unwillige Blicke verfolgten mich, wohin ich mich wandte, ja nicht selten sogar sah ich die Leute nach den Hüten greifen und sich entfernen. Das Alles sagte mir nur zu deutlich, wie man über die Sache dachte.

In den ersten Tagen nach der unglücklichen Begebenheit hatte ich keine Zeit gefunden, die Familie Lüders zu besuchen. Als ich es that, wurde ich von den Bedienten mit dem Bescheide abgewiesen, es sei Niemand zu Hause. Ich kam am nächsten Tage wieder und erhielt dieselbe Antwort. Am dritten aber empfing ich einen Brief von Herrn Lüders. Er sagte mir darin mit dürren Worten, es seien zu seinem großen Bedauern Umstände eingetreten, die es ihm zur Pflicht machten, mich zu bitten, sein Haus nicht ferner zu besuchen und zugleich gewissen Hoffnungen, falls ich sie noch immer nähre – gänzlich zu entsagen. –

Das war der härteste Schlag, der mich noch getroffen hatte. Was ich dabei litt, brauche ich Ihnen nicht zu schildern, und wollte ich auch, ich fände dazu keine Worte.

Ich faßte nun den Entschluß, so bald als möglich Hamburg zu verlassen und nicht eher dahin zurückzukehren, bis meine völlige Unschuld ans Tageslicht gekommen wäre, oder bis ich selbst die Mittel in Händen haben würde, sie darzuthun. Aber vor meiner Abreise wollte ich Ida noch einmal sehen. Daß in ihr der Glaube an meine Ehrenhaftigkeit nicht wankend geworden war, davon war ich überzeugt. Ich schrieb ihr, und wir sahen uns noch einige Male bei Madame Altmann, Ida's Tante und auch der Ihrigen, lieber Falkner. Madame Altmann besitzt – Sie wissen es – keinen sehr gebildeten Geist, aber, was besser ist, ein edles Gemüth und ein fühlendes Herz. Sie theilte nicht den für mich so entehrenden Verdacht des Herrn Lüders, sie that vielmehr, was sie vermochte, ihn milder gegen mich zu stimmen, aber vergeblich.

In Ida hatte ich mich, Gott sei Dank, nicht getäuscht. Ihre Liebe hatte die Feuerprobe nicht nur bestanden, sie war dadurch geläutert, geheiligt worden. Das Unglück hatte uns nur noch inniger an einander geknüpft. Wir erneuerten unsere Schwüre ewiger Treue, wir gelobten uns, nicht zu verzagen, auf die Zukunft zu vertrauen und, sobald es die Umstände erlaubten, und ihr Vater von seinem unseligen Irrthum zurückgekommen wäre, den Bund der Ehe zu schließen.

Ich ging nun mit dem kleinen Rest meines Vermögens nach New-York. Wie es mir dort ergangen ist, ist Ihnen bekannt. Ich habe in Amerika nicht so viel Ungemach erdulden müssen, wie Sie, aber das Glück hat mich auch nicht in so hohem Maße begünstigt. Mein Loos war ein mehr alltägliches und auch im Ganzen ein leidlich gutes. Ich brachte nicht die Reichthümer eines Nabobs mit mir nach Hause; aber ich habe mir doch genug erworben, um fortan unabhängig leben zu können. Als ich meine Rückkehr nach Europa schon festgesetzt hatte, empfing ich die schmerzliche Nachricht von dem Hinscheiden meines Vaters. Er hatte, wie ich Ihnen schon gesagt habe, seine letzten Jahre in München verlebt. – Schon seit acht Tagen verweile ich nun hier, und die Angelegenheiten, die mich hierher riefen, sind fast alle beendigt. Der Nachlaß meines Vaters ist bedeutender, als ich vermuthen konnte, und ich wäre jetzt in der Lage, meine Ansprüche auf die Hand meiner Ida wieder geltend zu machen, sähe ich nur ein Mittel, den noch immer auf mir lastenden Verdacht von mir abzuwälzen. Aber leider bin ich in dieser Hinsicht noch so weit vom Ziele, wie zuvor, und werde es – wie ich fürchten muß – immer bleiben, denn wie mir mein einziger treu gebliebener Freund, der Kaufmann Schmidt, aus Hamburg schreibt, ist in das Dunkel, welches über jene unglückliche Begebenheit schwebte, noch immer kein Licht gedrungen.«

Als Werner seine Erzählung beendigt hatte, erhob er sich von seinem Sitze und forderte seinen Freund auf, schleunigst den Heimweg anzutreten. Die Dämmerung hatte schon begonnen, und eine empfindliche Kühle war der fast sommerlichen Wärme gefolgt. Einige Minuten lang schritten die beiden Männer schweigend neben einander her.

»Ich danke Ihnen herzlich für das Zutrauen, welches Sie mir geschenkt haben,« sagte Hugo, sich an seinen Begleiter wendend. »Sie haben viel gelitten, Werner, und glauben Sie mir, ich nehme an Ihrem Mißgeschicke den herzlichsten Antheil. Ihre jetzige Lage ist indeß, wie mich dünkt, bei weitem nicht so hoffnungslos, wie Sie zu befürchten scheinen. Daß die Welt einen ungerechten Verdacht gegen Sie hegt, und daß mein Onkel Lüders diesen Verdacht theilt, nun, es ist hart, aber doch kann ich darin kein absolutes Hinderniß für die Erreichung Ihrer Wünsche sehen.«

»Würden Sie dem Mädchen, welches Sie lieben, zumuthen können, einen entehrten Namen zu tragen?« fragte Werner.

»Einen entehrten?« entgegnete Hugo. »Nein! Aber einen von der Bosheit und Leichtgläubigkeit der Welt verdächtigten? Ja, ohne Bedenken. Auch würde Ida sicherlich keinen Anstand nehmen, ihn zu tragen.«

»Ich weiß es,« erwiederte Werner, »aber ohne die Einwilligung ihrer Eltern würde sie mir nie ihre Hand reichen; das weiß ich nicht minder gewiß, und ich würde sie auch nie dazu auffordern. Darum ist das Hinderniß, welches mir im Wege steht, ein absolutes, unüberwindliches.«

»Wenigstens, lieber Werner,« warf Hugo ein, »haben Sie noch etwas, wofür Sie kämpfen können, und so lange man kämpft, darf man auf den Sieg hoffen. In Ida werden Sie sich nie täuschen. Ich habe sie während meines letzten kurzen Aufenthalts in Hamburg nur ein einziges Mal gesehen; aber dieses eine Mal genügte vollkommen, um mich zu überzeugen, daß es kein liebevolleres, treueres Herz, kein echt weiblicheres Gemüth giebt, als das ihrige. Ach, wie glücklich würde ich an Ihrer Stelle sein!«

»Bester Freund,« sagte Werner nach einem kurzen Schweigen, »wir kommen wieder auf das zurück, was wir gestern besprachen, und ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon gesagt habe: Sie wurden durch irgend einen Umstand in der Beurtheilung von Louisens Benehmen irregeleitet, und es war überhaupt auch von Ihnen – verzeihen Sie meine Freimüthigkeit – unüberlegt, das Mädchen, das Sie so innig liebten, in einer solchen Weise auf die Probe zu stellen. Doch ich weiß, in diesem Punkte werden wir unsere Ansichten nie vereinigen, und ich schweige.«

Auch Hugo schwieg. In stilles Nachdenken verloren schritten beide der Stadt zu. Schon hatten sie die Anlagen hinter sich, da knüpfte Hugo zuerst das Gespräch wieder an.

»Haben Sie von Amerika aus mit Ida correspondirt?« fragte er.

»Ja, eine Reihe von Jahren hindurch häufig und regelmäßig. Durch Ida erhielt ich die Nachrichten über die Unglücksfälle ihres Vaters, seinen Bankerott und seine fast gänzliche Verarmung, und so auch konnte ich Ihnen, als wir in New-York einander kennen lernten, darüber Mittheilungen machen. Auf meine letzten Briefe aber habe ich keine Antwort erhalten, was ich mir nur durch die Annahme zu erklären weiß, daß dieselben nicht in ihre Hände gelangt sind. Hierzu kommt noch die lange Zeit, die ich zu meiner Reise gebraucht habe, so daß nun fast zwei Jahre verflossen sind, seit ich directe Nachrichten von ihr empfangen habe.«

»Aber doch wohl indirecte durch Ihren Freund in Hamburg?«

»Nur sehr spärliche.«

»Wann erhielten Sie seinen letzten Brief?«

»Vor ungefähr vierzehn Tagen. Und dieser Brief, lieber Falkner, ist es gerade, der mich auf die Vermuthung führt, daß Sie sich in Manchem getäuscht haben müssen; denn wie wollen Sie es sonst erklären, daß mein Freund, der doch weiß, wie sehr mich alle die Familie Lüders betreffenden Einzelheiten interessiren, von einem in der Lotterie gewonnenen Gute und Louisens Verlobung mit jenem Doctor Schönfeld kein Wort erwähnt?«

»Sie vergessen, bester Werner,« entgegnete Hugo ein wenig ungeduldig, »daß ich das Alles aus meines Onkels eigenem Munde hörte.«

»Ich weiß in der That nicht mehr, was ich davon denken soll,« murmelte Werner vor sich hin.

»Was beabsichtigen Sie nun zuvörderst zu thun?« fragte Hugo weiter.

»Vor allen Dingen,« antwortete Werner, »werde ich den Aufenthaltsort der Madame Altmann zu erkunden suchen, bei der ich, wie es aus dem Briefe meines Hamburger Freundes hervorgeht, Ida finden werde.«

»Die gute alte Dame hat also wirklich Altona verlassen?«

»Ja, und wie es scheint für immer und zwar aus Gesundheitsrücksichten auf den Rath der Aerzte.«

»Und Ihr Freund konnte Ihnen nicht angeben, wo meine Tante hingezogen sei?«

»Nein, aber heute Morgen hörte ich von Jemand, der Madame Altmann kennt, die Vermuthung aussprechen, daß sie seit Kurzem hier in München lebe. Morgen werde ich mir darüber Gewißheit zu verschaffen suchen.«

»Sie Glücklicher,« sagte Hugo halb für sich, »so nahe bei Ihrer Geliebten zu sein!«

»Und doch so weit von der Erreichung meiner Wünsche!« entgegnete seufzend Werner.

»Auch ich möchte die gute alte Tante wiedersehen,« fuhr Hugo nach einer kurzen Pause fort. »Sie war, nächst meinen Pflegeeltern und meinen beiden Cousinen, die Einzige meiner Verwandten, an der ich als Knabe mit Liebe hing. Ida wieder zu sehen, würde mir gleichfalls sehr große Freude machen.«

»Was hindert Sie daran, lieber Falkner, sich diese Freude zu verschaffen?«

Noch ehe Hugo die Frage des Freundes beantworten konnte, kamen ihnen mehrere Reiter in gestrecktem Trabe und in eine Staubwolke gehüllt, entgegen. Sie wollten eben an ihnen vorübersprengen, als Hugo den einen erkennend, den Hut zum Gruß lüftete, worauf dieser plötzlich sein Pferd parirte, indem er seinen Begleitern zurief, sie möchten nur weiter reiten, er werde sie gleich wieder einholen.

Es war ein ältlicher Mann, was sich aber mehr an seinen scharf ausgeprägten Zügen und grauen Haaren, als an seiner Figur und Haltung erkennen ließ, denn sein Wuchs war schlank und stattlich, seine Haltung aber fast jugendlich zu nennen. Sein Gesicht war ohne Zweifel sehr schön gewesen, und noch immer hatten seine Augen eine Lebhaftigkeit, ein Feuer bewahrt, das von der regen Thätigkeit eines gebildeten Geistes zeugte.

»Wo halten Sie sich doch nur versteckt, mein werther Freund?« rief er Hugo zu, indem er ihm von dem unruhig schnaubenden Pferde herab die Hand entgegenreichte. »Ich habe Sie den ganzen Tag überall suchen lassen und bin persönlich zwei Mal bei Ihnen gewesen. Nur gut, daß ich Sie treffe.«

»Ich bedaure recht sehr, Herr Graf,« entgegnete Hugo, »daß Sie sich vergeblich bemüht haben. Hätte ich ahnen können, daß Sie mich zu sprechen wünschten, so hätte ich den heutigen kleinen Ausflug auf einen andern Tag verschoben, was mein Freund Werner, den ich Ihnen hiermit vorzustellen die Ehre habe, mir gewiß gestattet hätte.« Er wandte sich darauf gegen Werner und stellte diesem den Fremden als den Grafen Landeck vor.

»Sie sind mir keineswegs unbekannt, Herr Werner« sagte der Graf mit einer verbindlichen Verbeugung zu diesem. »Herr Falkner hat, wenn er mir von seinen vielfachen Erlebnissen in Amerika erzählte, oft auch seines freundschaftlichen Verhältnisses zu Ihnen erwähnt; um so mehr weiß ich es dem Zufall Dank, daß er mich mit Ihnen zusammenführt. – Was ich Ihnen zu sagen habe, lieber Falkner,« fuhr er dann gegen Hugo gewandt fort, »war nur, daß ich meine Abreise verschiedener Umstände halber beschleunigen muß; sie ist auf morgen festgesetzt. Da ich nun Ihr Versprechen habe, uns auf einige Zeit zu besuchen, so wollte ich Ihnen vorschlagen, daß wir die Reise zusammen machen. Wir fahren auf der Eisenbahn nach Innsbruck, das Sie ja schon lange gern kennen gelernt hätten. Dorthin habe ich meinen Wagen bestellt, und dieser hat nicht nur Platz für uns beide, sondern auch für Sie, Herr Werner, falls Sie sich überreden lassen wollten, uns zu begleiten. Es ist zwar etwas unbescheiden, sofort nach unserm ersten Bekanntwerden ein derartiges Ansuchen zu stellen; aber in der Gesellschaft Ihres lange vermißten Freundes, möchten Sie für Alles, was Sie bei uns vermissen werden, reichlichen Ersatz finden.«

»Sie sind in der That sehr gütig, Herr Graf,« erwiederte Werner, »und ich danke Ihnen herzlich für Ihre gastfreie Einladung, die mir, auch ganz abgesehen von dem Werthe, den ich der Gesellschaft meines Freundes beilege, so verlockend erscheint, daß ich sie mit Freuden annehmen würde, wenn mich nicht wichtige Angelegenheiten auf einige Zeit hier zurückhielten.«

»Es thut mir leid,« sagte der Graf, »ich hätte Sie gern beide bei mir gesehen, meine Herren. Nun aufgeschoben ist nicht aufgehoben, vielleicht würden Sie später nachfolgen können. In der kleinen Villa am Silsersee, von der Ihnen Herr Falkner das Nähere mittheilen kann, dürfen Sie stets auf einen freudigen Empfang rechnen. Aber Sie, lieber Falkner, reisen doch mit mir?«

»Ihr Vorschlag, Herr Graf, verspricht mir zu viele Annehmlichkeiten, als daß ich mich bedenken könnte, darauf einzugehen.«

»Mit dem ersten Zug also?«

»Ich werde bereit sein.«

»Herrlich, das wäre also abgemacht. Und nun, meine Herren, Sie sehen, daß meine Begleiter schon außer Sehweite sind und daß ich mich beeilen muß, sie einzuholen. Also à revoir, bester Falkner, und suchen Sie Ihren Freund zu bewegen, daß er uns noch während Ihres Aufenthaltes bei uns besucht.«

Der Graf grüßte freundlich, gab seinem Pferde die Sporen und war binnen weniger Augenblicke hinter den Bäumen der Anlage verschwunden.

»Ihre Frage von vorhin hat dieser Zwischenfall besser beantwortet, als ich es hätte thun können,« begann Hugo wieder, nachdem sie dem stattlichen Reiter, so lange er sichtbar war, nachgeblickt hatten. »Sie werden einräumen, daß ich die Einladung des Grafen, ihn zu begleiten, nicht wohl ausschlagen konnte.«

»Es trifft sich aber recht unglücklich,« entgegnete Werner, »denn ich hoffe sicher, daß ich recht bald, vielleicht schon morgen, den Aufenthaltsort der Madame Altmann und Ida's erfragt haben werde. Wird Ihre Abwesenheit von langer Dauer sein?«

»Ich denke in acht bis vierzehn Tagen wieder zurückzukehren.«

»Der Graf scheint ein sehr liebenswürdiger Mann zu sein,« sagte Werner nach einer Pause. »Sie versprachen gestern, mir zu erzählen, auf welche Weise Sie seine Bekanntschaft gemacht haben.«

»Und was ich sonst Alles in der Schweiz erlebt habe,« ergänzte Hugo. » Nun das thue ich recht gern; aber meine Geschichte ist ein wenig lang, werden Sie auch die nöthige Geduld haben, dieselbe anzuhören?«

»Wir haben noch eine halbe Stunde vor uns, bis wir die Stadt erreichen. Wie könnten wir diese Zeit angenehmer ausfüllen, als indem Sie erzählen und ich Ihnen zuhöre?«

»Gut, ich will Ihnen also erzählen,« sagte Hugo, »und verspreche Ihnen auch, mich so kurz wie möglich zu fassen.«

»Es war schon ziemlich spät im vergangenen Herbst,« fuhr er fort, »als ich meine Reise durch die Schweiz antrat, denn die vielen Sehenswürdigkeiten von Paris hatten mich länger gefesselt, als ich vermuthen konnte. Erst gegen Ende September, aber bei dem schönsten Wetter von der Welt, traf ich im Engadin ein. Von dem kleinen Dorfe St. Moritz aus, wo ich in einem schlechten Wirthshause ein höchst mäßiges Logis bezogen hatte, durchstreifte ich die engen Seitenthäler, die am Silsersee und Campfeerersee auslaufen. Die großartige, mir so völlig fremde Natur entzückte mich so sehr, daß ich mir vornahm, so lange das herrliche Wetter noch anhalten würde, hier zu verweilen. Unter den Gästen, die fast jeden Abend das Wirthshaus besuchten, war auch ein Gemsenjäger, ein wilder, vorlauter trotziger Kerl, Namens Sebastian Schlechter, oder – wie er gewöhnlich genannt wurde – Schlechter Wastel. Er pflegte sich durch ein lautes Jodeln anzukündigen, dem dann gewöhnlich von Seiten der Küchen- und Schenkmägde, deren Liebling er war, ein fröhliches Kichern und Lachen folgte. Oft aber entspann sich auch bald nach seiner Ankunft zwischen ihm und den übrigen Gästen ein heftiger Wortwechsel, der nicht selten mit einer allgemeinen Rauferei endigte. Kurz, von dem Augenblicke an, wo der Schlechter-Wastel erschienen war, hörte alle Ruhe und Ordnung im Hause auf, Alles war wie außer Rand und Band, und das Oberste wurde zu unterst gekehrt.

Man hatte mir gesagt, daß der Gemsenjäger auf seinen Jagdzügen die seltsamsten und tollkühnsten Abenteuer bestanden habe, und er neben seinen übrigen liebenswürdigen Eigenschaften auch die besitze, daß er seine Geschichten, wenn man seine Beredtsamkeit durch einige Krüge guten Weines gehörig anfeuere, gern zum Besten gebe. Da ich nun einen großen Gefallen darin finde, solche Geschichten anzuhören – man hatte mich besonders auf eine aufmerksam gemacht, welche die Aushebung eines Steinadlerhorstes betraf – so machte ich die Bekanntschaft des Jägers und lud ihn eines Abends auf ein Paar gute Flaschen Wein und noch bessere Cigarren zu mir auf mein Zimmer.

Ich hatte jetzt alle Muße, ihn genau zu betrachten. Er war ein großer, breitschultriger Bursche mit einem verwegenen Gesichtsausdruck, derb in seinem Benehmen und kurz angebunden, aber dabei voll guter Laune – der echte Typus seiner Race. Er zeigte sich nicht nur sehr bereitwillig, meine Wißbegierde hinsichtlich des Adlerhorstes zu befriedigen, sondern erzählte mir noch manches andere Jagdabenteuer, und dabei schilderte er mir mit so lebhaften Farben die aufregende Lust und die Freuden der Gemsenjagd, die den kühnen unverdrossenen Waidmann alle damit verbundene Gefahr und Mühe übersehen lasse, daß ich zuletzt vor Begierde brannte, an einer solchen Theil zu nehmen.

Das Versprechen einer reichlichen Belohnung bewirkte, was ich wünschte. Noch am nämlichen Abend versorgte mich Sebastian Schlechter mit einer Kugelbüchse und allem übrigen Schießbedarf und verblieb dann die Nacht über im Wirthshause, damit wir am folgenden Morgen um so früher aufbrechen könnten.

Es war noch dunkel, da wir uns auf den Weg machten, und als der erste Sonnenstrahl die Spitzen der mächtigen Gebirgskette vergoldete, waren wir bereits auf der Alp, auf welcher mein rüstiger Führer Gemsen anzutreffen hoffte. Er hatte sich in seiner Vermuthung nicht betrogen, wir bekamen wirklich ein Rudel von fünf bis sechs Stück zu Gesicht und schlichen uns, über Eisflächen, loses Gerölle und diamantharte Felsen, mehr kriechend und rutschend als gehend, bis auf Schußweite an sie heran.

Schon erhob ich, hinter meinen Felsblock niedergekauert, meine Büchse, um auf einen jungen Bock anzulegen, als Sebastian Schlechter durch eine schnelle Handbewegung mein Rohr niederdrückte und auf eine entfernte Felsspitze zeigte.

›Dort steht der alte Bursche,‹ flüsterte er mir zu, ›dem ich schon seit Jahr und Tag vergeblich auflauere. Wir wollen versuchen, ihm eins aufzubrennen. Folgen Sie mir!‹

Um dem Bock unter dem Winde nahe genug zu kommen, mußten wir einen weiten Umweg machen, der über einen mit frisch gefallenem Schnee schuhhoch bedeckten Gletscher führte. Dann gelangten wir an eine nicht sehr hohe Felswand, unter welcher wir einen Augenblick Halt machten, um unsere weiteren Operationen zu berathen. Es wurde ausgemacht, daß Schlechter, um mir wo möglich das Wild zuzutreiben, rechts um die Felswand herumschleichen, ich aber über diese hin die eingeschlagene Richtung weiter verfolgen solle. Hierauf trennten wir uns.

Als ich mit einiger Mühe den Felsen erklommen hatte, sah ich eine ziemlich ebene, mit Schnee bedeckte Fläche vor mir. Ich konnte jetzt auch den scharfen Grat erkennen, auf welchem wir den Gemsbock gesehen hatten, und ich strengte meine Augen an, um diesen selbst zu entdecken.

Ich mag dabei zu wenig auf die lockere Schneedecke geachtet haben, die ich überschritt. Ich stolperte und fiel; ich wollte mich schnell wieder aufraffen, aber der Boden unter mir wich mit einem Gekrache wie das einer berstenden Eiskruste, es dunkelte mir vor den Augen und dann – nach wie langer Zeit kann ich nicht sagen, denn ich hatte das Bewußtsein verloren – fand ich mich in einer engen Felsspalte, im Schnee fast begraben, den Kopf nach unten, auf dem Rücken liegend. Ich versuchte mich aufzurichten, aber bei der gewaltsamen Bewegung, die ich dabei machte, gab der Schnee unter mir nach, und ich glitt noch tiefer in die Kluft hinab. Noch halb betäubt blickte ich um mich, begierig, mich über meine Lage aufzuklären, als mein Bewußtsein allmählig zurückkehrte, wurde ich inne, wie verzweifelt sie sei. Ungefähr dreißig bis vierzig Fuß über mir mündete die Felsspalte aus und ließ eine schwache Helle durchschimmern. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich mein Auge an das dadurch hervorgebrachte blaugraue Zwielicht gewöhnt hatte. Dann aber gewahrte ich, daß ich an einer steil abfallenden Felswand hing, an welcher die Schneemasse, mit der ich hinabgestürzt war, nur durch die Hervorragungen des Gesteins aufgehalten und verhindert worden war, in die noch weit größere Tiefe zu stürzen, die sich, wie ich schaudernd entdeckte, dicht neben mir befand; denn dort unten hörte ich es rauschen und plätschern, wie den Sturz eines mächtig schäumenden Gießbachs. Ich begriff, daß jeder weitere Versuch, mich emporzuarbeiten, mit der augenscheinlichsten Gefahr verbunden sein würde, dort unten die Glieder zu zerschmettern; und zu dem Allen kam noch ein heftiger Schmerz am Kopfe, der mir aufs Neue die Besinnung zu rauben drohte, so wie ein nicht viel weniger brennender Schmerz an der Schulter. Den linken Arm vermochte ich nicht zu bewegen; er war, wie ich mich bald überzeugte, oberhalb des Ellenbogens gebrochen.

Meine einzige Aussicht auf Rettung beruhte somit auf meinen Führer Sebastian Schlechter. Aber wo war er? daß mir ein Unglück zugestoßen sei, mußte er freilich wissen. Auch konnte ich nicht bezweifeln, daß er mich suche; aber wie ungewiß war es nicht, ob er mich auffinden, und dann, ob er mir würde Hülfe leisten können.

Auf mein wiederholtes Rufen erhielt ich keine Antwort, Minute auf Minute verstrich, und immer mehr schwand meine Hoffnung.«

»Hätten Sie nur einen Schuß thun können,« sagte Werner, in dessen Zügen sich eine so lebhafte Besorgniß ausdrückte, als schwebe sein Freund noch in diesem Augenblick in Todesgefahr. »Einen Schuß müßte doch der Jäger gehört haben.«

»Ich wollte auch schießen,« entgegnete Hugo, »und ich tastete überall im Schnee herum, die Kugelbüchse zu finden. Es war lange vergeblich. Endlich entdeckte ich, daß sie unter mir liege; aber es kostete mir eine mit großen Schmerzen verbundene Anstrengung, sie hervorzuziehen. Dabei fürchtete ich immer, es möchte durch meine Bewegung die Schneemasse wieder ins Gleiten kommen. Endlich gelang es mir; aber nun zeigte sich ein neuer Uebelstand. Der vordere Theil des Laufes war voll Schnee, und diesen zu entfernen war, weil ich nur den rechten Arm gebrauchen konnte, mit neuer, qualvoller Anstrengung und abermaligem Zeitverlust verbunden. Jedoch auch dies gelang mir endlich. Ich richtete den Lauf der Büchse gegen die Oeffnung der Felsspalte und drückte ab. Die Erschütterung, welche der Schuß hervorbrachte, war aber so heftig, daß eine über mir hangende Schneemasse sich lostrennte und auf mich herabstürzte. Es kam mir vor, als gleite ich abermals um einige Fuß tiefer, während ich dermaßen mit Schnee überschüttet wurde, daß ich jetzt mit aller Anstrengung und jede damit verknüpfte Gefahr vergessend, arbeitete, mich davon zu befreien, denn ich war nahe daran zu ersticken.

Mittlerweile war – und zwar, wie mir schien, in nicht großer Ferne – ein Schuß gefallen. Ich konnte nicht daran zweifeln, daß er von dem mich suchenden Jäger abgefeuert worden war als Beantwortung des meinigen.«

»Sie schossen nun wohl noch einmal, nicht wahr?« fragte Werner.

»Ich wollte es allerdings,« erwiederte Hugo, »aber meine Büchse hatte nur einen Lauf, und dieser mußte also von Neuem, wenn auch nur mit losem Pulver geladen werden. Nun war jedoch das Pulverhorn, welches ich an einer Schnur getragen hatte, die noch über meiner Schulter hing, nicht zu finden; es mußte sich von der Schnur abgelöst haben, und bei der Bewegung, die ich machte, um es zu suchen, entglitt mir die Büchse und fiel in die dicht neben mir befindliche Kluft. Es durchschauerte mich, als ich hörte, wie sie in beträchtlicher Tiefe gegen den Felsen anprallte und dann, stets von Neuem anstoßend, immer tiefer und tiefer fiel, bis sie endlich sammt dem mit fortgerissenen Gerölle, den losgebröckelten Steinen und nachgleitenden Schneemassen krachend und donnernd auf den Grund gelangte.«

»In der That schrecklich!« sagte Werner.

»Ein lautes Halloh!« fuhr Hugo fort, »drang in diesem Augenblick an mein Ohr. Ich antwortete, indem ich die ganze Kraft meiner Stimme aufbot. Und gleich darauf wurde der Kopf des Jägers oben am Rande der Felsspalte sichtbar. Er rief mir zu, und in wenig Worten unterrichtete ich ihn von meiner gefahrvollen und peinlichen Lage. Er meinte, ich könne Gott danken, daß es nicht schlimmer sei, empfahl mir sehr kaltblütig Geduld und Ruhe, verwünschte noch mit einem kräftigen Fluch den alten Gemsbock, der ihm immer wieder entwische, und entfernte sich.

Es folgten nun Stunden, lange qualvolle Stunden, während welcher ich wahrhaft Entsetzliches litt. Endlich, endlich, nachdem ich fast vor Kälte erstarrt war, ließen sich droben Stimmen hören, und die von Schlechter-Wastel mitgebrachten Leute, unter welchen sich auch mein treuer Jacob befand, ließen jetzt Stricke herab, die ich mir um den Leib befestigte, worauf ich aus der schauderhaften Kluft gezogen wurde.

Man wollte mich in das Thal hinuntertragen und hatte zu diesem Behufe eine Bahre mitgebracht. Ich protestirte jedoch gegen diese Beförderungsweise, denn ich fühlte, daß es mir vor allen Dingen Noth thue, das Blut, das mir in den Adern fast gestockt war, durch tüchtige Bewegung wieder in Circulation zu bringen. Aber Sie werden begreifen, Freund, daß das stundenlange Liegen im Schnee und in einer nicht gerade bequemen Situation, den Kopf unten, die Füße oben, meine Glieder gänzlich gelähmt hatte. Ich vermochte mich in der That nicht aufrecht zu halten, und erst nach starkem Frottiren, und nachdem ich etwas Wein zu mir genommen hatte, war ich im Stande, auf meinen getreuen Jacob gestützt, langsam zu gehen.

So gelangten wir endlich nach St. Moritz, wo auch gleich darauf der Arzt eintraf, nach welchem man, als man meinen Unfall erfuhr, einen Boten geschickt hatte.

Der Doctor war ein kleiner, lebhafter Mann, mit stechenden grauen Augen und buschigen Augenbrauen. Er sprach in kurzen, abgebrochenen Sätzen und in einer unangenehmen, polternden Weise. Nachdem er meine erlittenen Beschädigungen untersucht hatte, erklärte er sie kurzweg für sehr unerheblich, und er machte dabei eine so geringschätzige Miene, daß es leicht war, seine Gedanken zu errathen, die, in Worten ausgedrückt, ungefähr so gelautet hätten: ›Du bist für einen auf der Gemsenjagd Verunglückten eigentlich unverzeihlich gut davon gekommen, was ich von ganzem Herzen bedauere.‹ Den Bruch meines Armes bezeichnete er als einen einfachen Querbruch, der in drei oder vier Wochen geheilt sein würde, und zwei Kopfwunden und einige Quetschungen schien er als ganz unwesentliche Zugaben zu betrachten, die gar nicht mitzählten.

Als ich sah, daß mein Aeskulap mich eigentlich als eine ihm halb entronnene Beute betrachtete, stieg die Hoffnung in mir auf, er möchte sich vielleicht überreden lassen, mich ganz frei zu geben. Nur zu gern hätte ich auf seine zärtliche Obhut verzichtet. Ich drückte daher den Wunsch aus, mich nach der nächsten größeren Stadt, nach Chur oder Innsbruck, fahren zu lassen. Davon wollte er jedoch nichts wissen. Nur wenn ich für hitzige Wundfieber eine besondere Vorliebe hege, sagte er trocken, oder auf eine gefährliche Entzündung meines Armes sehr erpicht sei, könne er zu der Reise rathen, sonst aber müsse er Ruhe empfehlen.

Nun empfand ich aber weder für Wundfieber noch für Entzündungen einen unwiderstehlichen Penchant, und so unterwarf ich mich denn geduldig den Anordnungen des Doctors, das heißt, ich legte mich zu Bette und ließ mich bepflastern und verbinden.

Ich war so erschöpft, daß ich bald einschlief; doch war mein Schlaf ein wenig unruhig, denn mir träumte von bezauberten Gemsböcken, Gletschern, Felsspalten und wundgierigen Aerzten. Mein alter Jacob aber saß die ganze Nacht hindurch neben meinem Bette und stellte sicherlich recht trübselige Betrachtungen an über die Gefahren, die mit dem Aufenthalte auf dem festen Lande verbunden sind, und denen kein vernünftiger Mensch sich aussetzen sollte.

Es war noch früh am folgenden Tage, als mir Jacob einen Besuch anmeldete....«

»Ah, ich errathe,« unterbrach Werner den Erzähler, »es war gewiß der Graf Landeck.«

»Ja, er war es,« entgegnete Hugo. »Der Graf war mir nicht ganz unbekannt,« fuhr er dann fort, »denn schon während der ersten Tage meines Aufenthalts in St. Moritz war ich auf meinen weiten, einsamen Streifereien zufällig ein Paar Mal mit ihm zusammengetroffen. Er war ein sehr gebildeter Mann von gewinnendem Benehmen, besaß einen stark ausgeprägten Sinn für die Schönheiten der Natur, war Botaniker, Entomologe und Geologe, wußte von allen Merkwürdigkeiten der Gegend genau Bescheid und kam mir auch auf meine Bitte sehr bereitwillig mit seiner Ortskenntniß zu Hülfe, indem er mich auf jeden schönen und interessanten Punkt und die dahin führenden Pfade aufmerksam machte.

Ungeachtet der Verschiedenheit unseres Alters – er war hoch in den fünfziger Jahren – und trotz der düsteren Stimmung, in der ich mich damals befand, und die mich recht wortkarg und ungesellig machte, hatte er doch sichtlich an meiner Gesellschaft Gefallen gefunden und mich öfters eingeladen, ihn auf seiner Villa am Silsersee zu besuchen.

Sie war reizend auf einer waldbewachsenen Landzunge gelegen, diese Villa, und oft, wenn ich hoch oben von den Bergen aus das Thal übersah, hatte ich dem Gedanken nachgehangen, es sei doch mit seinem krystallhellen See und jenem zierlichen, unter den hohen Eichen und Ulmen halb versteckten Gebäude, welches sich in der klaren Fluth so lieblich spiegelte, ein gar freundlicher Erdenwinkel, und hier müsse es sich, fern vom Getümmel der Welt, gewiß recht ruhig und sorgenlos leben lassen. Des gastfreien Grafen Einladung hatte ich jedoch, so gut es, ohne ihn zu beleidigen, gehen wollte, hartnäckig abgelehnt; denn, wie gesagt, ich gefiel mir nun einmal darin, mich in ungestörter Einsamkeit meinen trüben Betrachtungen hinzugeben. Doch um wieder auf meinen Besuch zu kommen, der Graf bezeigte mir in so freundlicher Weise sein Bedauern über den Unfall, der mich betroffen hatte, und bat mich in so eindringlicher Weise, die enge, dumpfige Stube, in welcher er mich hier sehe, mit dem hellen, geräumigen Gastzimmer zu vertauschen, welches er mir in seiner Wohnung anbieten könne, und versprach mir dabei zugleich in so herzlichen Ausdrücken im Namen seiner Frau alle Sorgfalt und Pflege, die mein Zustand erheische, daß ich seiner Ueberredungsgabe nicht lange zu widerstehen vermochte.

Als nun auch der Arzt erschienen war und in seiner polternden Weise die erbetene Genehmigung ertheilt hatte, war alles Uebrige schnell in Ordnung gebracht, und zwei Stunden später befand ich mich im Hause des Grafen.

In den ersten Tagen meines dortigen Aufenthalts – so lange nämlich das eingetretene Wundfieber mich an das Bett fesselte – sah ich zwar häufig, aber doch nur auf Augenblicke, meinen gastfreien Wirth, so wie mitunter auch seine Gemahlin, eine stille, ernste Dame, in deren noch immer schönen Zügen sich eine Milde und Würde aussprach, die mich ungemein für sie einnahm.

Diese ersten Tage schlichen in träger, einförmiger Ruhe dahin. Dann aber, als das Fieber mich, und ich das Bett verließ, begann eine für mich höchst angenehme Zeit, an die ich noch oft mit wahrer Freude zurückdenke.

Der Graf war von sehr lebhaftem Geiste; er sprach nicht nur gern und viel, sondern er wußte auch in seine Unterhaltung unter einer anziehenden Form so viel Belehrendes zu verflechten, daß sie unwillkürlich seine Zuhörer fesselte. Die Gräfin dagegen war eine nicht minder angenehme Zuhörerin und ließ sich gern von meinen allerdings abwechslungsreichen und abenteuerlichen Erlebnissen zu Land und zu Wasser in fast allen Theilen der Welt erzählen. In der Tochter des Hauses aber, einem jungen, bildschönen Mädchen von kaum sechszehn Jahren, schien sich die Lebhaftigkeit des Vaters mit der Milde und Sanftmuth der Mutter zu vereinigen. Ihre munteren Scherze, ihre drolligen Einfälle und ihr fröhliches Lachen waren im Stande, schnell jede Wolke zu verscheuchen, wenn je eine solche über den kleinen Kreis sich lagerte; zugleich aber verbreitete ihr sinniges, sanftes Wesen über Alles, was sie umgab, ein wohlthuendes Gefühl von Ruhe und stiller Zufriedenheit. Oft auch erfreute sie uns mit ihrem Gesange, denn sie war sehr musikalisch und trug besonders die schönen nationalen Lieder, an welchen die Schweiz so reich ist, mit tiefem Gefühl und wahrhaft rührender Einfachheit vor.

Sie können sich denken, daß mir die Zeit in so anziehender Umgebung sehr schnell und angenehm verfloß. Am Tage kleine Spaziergänge im Parke und im nahen Gehölze oder Ausflüge auf den See, Abends Musik, eine Partie Schach mit dem Grafen, oder Whist, woran die Damen Theil nahmen, das Alles mit lebhaften, anregenden Gesprächen untermischt, was kann man sich Besseres wünschen!

Damit ist nun eigentlich meine Erzählung zu Ende, bester Werner, und, wie ich sehe, sind wir auch am Ziele unserer Wanderung angelangt, denn dort winkt uns ja das Isarthor mit seinen wunderlichen viereckigen Thürmen und bunten Fresken. Sie wissen nun, wie sehr ich dem Grafen Landeck für seine gastfreie Aufnahme verpflichtet bin, und werden mir zugeben, daß es unverzeihlich gewesen wäre, seiner Einladung keine Folge zu leisten.«

»Sie sagen, lieber Falkner,« erwiederte Werner lächelnd, »daß Ihre Erzählung zu Ende ist; verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig daran zweifle.«

»Wie so?«

»Nun, die Schilderung, welche Sie von der jungen Comtesse entworfen ....«

»Glauben Sie mir, meine Erzählung ist zu Ende,« versetzte Hugo in ernstem Tone.

»Die interessante Einleitung,« sagte Werner, »ließ mich mehr erwarten. Nun, vielleicht folgt die Fortsetzung ein anderes Mal.«

Er hatte diese Worte in einer neckischen Weise gesprochen, die Hugo mißfiel, und dieser antwortete ein wenig gereizt:

»Wenn Sie mich besser kennen würden, Werner, so würden Sie das nicht denken.«

»Ich sehe,« entgegnete Werner, auf dessen offenen Zügen das neckische Lächeln schnell dem Ausdruck freundschaftlicher Theilnahme gewichen war, »ich sehe, daß Sie mir meine Anspielung übel nehmen. Sie thun Unrecht, lieber Falkner, denn ich spreche immer, im Scherz wie im Ernst, als Ihr wahrer Freund. Es wäre in der That nicht gut, wenn die Zeit nicht eben so wohl die Wunden des Herzens, als die auf einer Gemsenjagd erhaltenen Verletzungen heilen und uns für früher erlittene Schmerzen spätere Genüsse als Ersatz bieten würde. Sie sind zu jung, bester Falkner, und besitzen ein für alle schönen Gefühle zu offenes Gemüth, um sich dem schönsten von allen, der Liebe, zu verschließen. Sie wissen, wie tief ich bedauere, daß Sie sich in Ihrer ersten Liebe getäuscht glauben, aber da dem nun so ist, und Geschehenes sich nicht ungeschehen machen läßt, nun, so würde es mich herzlich freuen, wenn Ihnen an der Seite jener schönen jungen Comtesse ein neues Glück erblühen würde. Ich weiß, was Sie sagen wollen,« setzte er hinzu, als er eine ungeduldige Handbewegung Hugo's bemerkte, »aber die Liebe kennt keine Standesunterschiede, wenn überhaupt bei Ihren persönlichen Vorzügen und großem Reichthum von einem solchen die Rede sein kann. Darum nehmen Sie den Rath eines Freundes an, der es ehrlich mit Ihnen meint, brüten Sie nicht zu sehr über Vergangenes und sehen Sie mit frischem Muth in die Zukunft.«

Die Freunde befanden sich nun in der Stadt, und das bunte Durcheinander auf der menschenerfüllten Straße lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem Gegenstande ihres Gespräches ab. Hugo erwiederte nichts auf die Vorstellungen seines Freundes, und Werner nahm sein Stillschweigen für eine, wenn auch abgedrungene, doch deshalb nicht weniger vollgültige Beistimmung.

Hatte er Recht?



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