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II.

In der Lüders'schen Wohnung herrschte Unruhe und Verwirrung. Ladendiener und Putzmacherinnen brachten Shwals, Mantillen, Stoffe zu Kleidern, Hüte, Hauben, Spitzen und Bänder, der Schneider nahm dem Herrn Lüders das Maß zu neuen Anzügen, während die Näherin in ähnlicher Weise um seine Frau und die Töchter beschäftigt war; vom Conditor wurden Kuchen und Torten, vom Weinhändler große Körbe mit Flaschen gebracht; der Gärtner schickte Blumen, die Gemüsehändlerin Obst, der Delicatessenhändler Straßburger Pasteten und andere Leckerbissen. In der Küche klapperte die für den heutigen Tag angenommene Köchin mit Pfannen und Schmortiegeln, und ein Lohndiener schleppte aus der Porzellan- und Glashandlung Teller, Tassen und Gläser herbei.

Herr Lüders ging, nachdem er dem Schneider sein Ehrenwort abgenommen hatte, das Bestellte spätestens Mittwoch Abend abzuliefern, mit nachdenklicher Miene in der Wohnstube auf und ab. Er hätte gern diesen Augenblick ungestörter Ruhe benutzt, um eine Anrede an seine neuen Gutsangehörigen zu entwerfen, – denn eine solche mußte er bei dem vorauszusehenden feierlichen Empfange an dieselben richten – aber er war erst bis zu den einleitenden Worten gelangt: »durch ein günstiges Geschick in Ihren Kreis versetzt, fühle ich mich gedrungen – –« und über diese kam er nicht hinaus, denn er konnte nicht mit sich selbst in's Reine kommen, wozu er sich denn eigentlich gedrungen fühle, und dann lag ihm auch die so eben mit Louisen gepflogene Unterredung im Sinne und unterbrach fortwährend seine Gedankenfolge. Ein Tropfen Wermuth war in seinen Freudenbecher gefallen. Die Rückkehr seines Neffen erschien ihm als eine Störung, die von den Schicksalsmächten ganz apart dazu bestimmt sei, ihm den Genuß seines eben erlangten Glückes zu vergällen. »Verwünschter Einfall von dem Jungen,« brummte er vor sich hin. »Da muß er gerade jetzt kommen, wo ich an so viele höchst wichtige Dinge zu denken habe; und kaum, daß er da ist, muß man sich schon wieder über ihn ärgern, indem er nun gar dem Mädchen Liebesgrillen in den Kopf gesetzt hat. Oh, das wäre mir gerade der rechte Schwiegersohn! Was der Bengel sich nur einbildet? Nun, es wird nöthig sein, ihn gleich von vorn herein auf seinen rechten Standpunkt zurückzuführen; ich werde seiner grenzenlosen Anmaßung schon mit der gebührenden Strenge zu begegnen wissen und dem Windbeutel Respect einflößen, ja, einen gewaltigen Respect.«

Hugo betrat das Haus in dem nämlichen Augenblick, in welchem sein würdiger Oheim zu diesem weisen Entschlusse gelangte, und war nicht wenig erstaunt, auf der Hausflur den obenerwähnten Lohndiener mit einer kleinen Schiffsladung von Champagnergläsern zu sehen, der ihn mit der Bitte empfing, er möge gefälligst näher treten, der gnädige Herr sei zu Hause.

Nachdem Hugo eingetreten war, sahen sich Onkel und Neffe einen Moment schweigend an. In Hugo regte sich bei dem Anblick von des Pflegevaters gebleichten Haaren und eingefallenen Zügen ein Gefühl der tiefsten Rührung; bei Herrn Lüders aber war es die Ueberraschung, welche ihm die Sprache raubte, als er die imponirende, athletische Gestalt betrachtete, in welcher er mit Mühe den Knaben von ehedem erkannte. Sein Entschluß, ihm einen gewaltigen Respect einzuflößen, begann merklich zu wanken.

Aber nur einen kurzen Moment dauerte diese stumme Scene, dann eilte Hugo auf seinen Onkel zu, umschlang ihn mit seinen kräftigen Armen und barg mit dem Ausrufe: »mein lieber, theurer Pflegevater!« sein Gesicht an dessen Brust.

So wenig zugänglich auch sonst Herr Lüders weichen Stimmungen war, es zog ihn doch ein unbekanntes Etwas zu seinem Pflegesohne, gegen den er – wie er sich oft in Stunden trüben Nachdenkens mit Reue gestanden – doch nicht so ganz gehandelt hatte, wie es seine Pflicht gewesen wäre.

»Freut mich, Dich wiederzusehen, mein Junge,« sagte er in fast herzlichem Tone, »freut mich, daß Du wieder da bist. Aber potztausend, Hugo, Du bist groß und stark geworden,« fügte er hinzu, indem er sich der Umarmung seines Neffen entwand, »hätte Dich wahrhaftig nicht mehr erkannt. Komm, mein Sohn, setze Dich hier neben mich, und erzähle mir, wie es Dir ergangen ist in der langen Zeit; setze Dich, Hugo, setze Dich.«

Nur zu gern hätte ihm Hugo gesagt, wie er durch Fleiß, Ausdauer und musterhafte Ausführung erreicht habe, wonach er gestrebt, ja, so viel erreicht habe, daß es seine kühnsten Hoffnungen noch weit übertraf, indem er erst lange mit Mühsalen und Hindernissen aller Art zu kämpfen gehabt, und zwar endlich vom Glücke begünstigt worden sei; aber doch vor Allem seinem eigenen Verdienste zuschreiben dürfe, daß er jetzt als reicher Mann in seine Heimath zurückkehre und Glück und Segen denjenigen zu bringen im Stande sei, die über seine Kindheit gewacht. Zum zweiten Mal war er auf dem Punkt, seinen Entschluß aufzugeben, er öffnete schon den Mund, um dem schwer geprüften Manne die glückliche Wendung seines Schicksals zu verkünden; aber Herr Lüders hatte jetzt Zeit gehabt, sich zu fassen und seine stolze Gönnermiene wieder anzunehmen, und Hugo besann sich.

»Nein,« dachte er, »es bleibt dabei. Zwar Nahrungssorgen sollen ihn nicht mehr drücken, und wenn er mich auch zum zweiten Mal von sich stieße; aber seinen Wohlthäter soll er nur dann kennen, wenn er sich bereit zeigt, mich als den Armen und Hülfebedürftigen wieder unter die Seinigen aufzunehmen und das Wenige mit mir zu theilen, was ihm noch geblieben ist.«

Mit gleichgültiger, zerstreuter Miene hörte Herr Lüders den Bericht, den ihm Hugo abstattete. Weder ein Ausdruck des Tadels noch des Bedauerns entschlüpfte seinen Lippen. Als aber Hugo schwieg, strich er sich selbstgefällig um das glatt rasirte Kinn und erwiederte:

»Ich wußte das Alles, lieber Hugo; Ida theilte es mir gestern Abend mit. Du bist zur guten Stunde zurückgekehrt. Gestern noch wäre ich außer Stande gewesen, etwas Erhebliches für Dich zu thun; heute ist es, Gott sei Dank, anders. Es freut mich zu sehen, daß Du so stark und rüstig geworden bist, das begünstigt den Plan, den ich bezüglich Deiner gefaßt habe. Hättest Du nämlich Lust, Dein jetziges Metier, das ja doch zu nichts führt, aufzugeben und bei uns zu bleiben, so böte sich Dir eine günstige Gelegenheit, Dich dem Landwesen oder der Forstcultur zu widmen, indem ich Dir auf meinem Gute in einem dieser Fächer Beschäftigung und Erwerb geben könnte. Was sagst Du dazu?«

»Auf Deinem Gute?« fragte Hugo im höchsten Erstaunen.

»Du weißt es also noch nicht?«

»Nein.«

»Es wurde in der Lotterie ein großes Rittergut ausgespielt,« sagte Herr Lüders und fügte dann mit einer Miene, als hätte es eigentlich nicht wohl anders kommen können, hinzu: »ich nahm ein Loos und habe gewonnen. Erst heute empfing ich die Nachricht.«

Wieder lag eines der schönsten Luftschlösser Hugo's in Trümmern. Wie sehr hatte er sich an dem Gedanken geweidet, ihm in der Noth eine hülfreiche Hand zu bieten, ihm sagen zu können: »ich bin reich, reicher, als Du es je warst: aber was mein ist, es gehört Dir, verbanne allen Kummer und alle Trübsal und verlebe von nun an Deine Tage in glücklicher Ruhe – –« und jetzt! Hin war der schöne Traum auf immerdar, hin aller Werth seines Reichthums!

»Du scheinst Dich über diese Wendung meines Schicksals nicht besonders zu freuen,« bemerkte sein Onkel trocken.

»O gewiß, lieber Onkel, ich freue mich darüber,« stammelte Hugo.

»Und Du nimmst meinen Vorschlag an?« fuhr jener fort.

»Ich weiß es noch nicht, bester Onkel – erlaube mir, darüber nachzudenken – es kommt mir so – so unerwartet – indeß danke ich Dir recht – –«

»Thue, was Dir gutdünkt. Ich habe Dir meine Hülfe angeboten; mehr vermag ich nicht.«

In diesem Augenblick trat Madame Lüders ins Zimmer. Hugo suchte sich zu fassen, um das bittere Gefühl der Täuschung nicht zu verrathen, das sein Herz erfüllte. Er erhob sich und ging auf sie zu; sie kam ihm auf halbem Wege und mit offenen Armen entgegen, umschlang seinen Hals, küßte ihn herzlich auf Mund und Wange und äußerte auf das Lebhafteste ihre Freude, ihn wiederzusehen. Das war doch wieder Balsam für sein wundes Herz. Die Erinnerung an die Abschiedsstunde, wo sie ihm in so unerwartet zärtlicher Weise ihr letztes Lebewohl gesagt hatte, tauchte vor seiner Seele auf, und die innigste Rührung erstickte fast seine Stimme, als er ihre herzliche Bewillkommnung zu erwiedern versuchte. Sie konnte sich nicht sattsehen an seinem stattlichen, männlichschönen Aeußeren und liebkoste ihn zu wiederholten Malen; und für einen Augenblick war Alles, was ihm eben noch so großen Schmerz verursacht hatte, in dem Liebesaustausch zwischen Mutter und Sohn vergessen.

Er hatte nicht bemerkt, daß unmittelbar nach der Mutter auch Louise eingetreten war; er sah sie jetzt, blaß und mit niedergeschlagenen Augen, hinter dieser stehen. Mit freudestrahlendem Blicke und freundlichen Worten reichte er ihr die Hand entgegen, aber sie nahm sie nicht, ein kurzes: »Guten Tag, Hugo,« war die einzige Erwiederung auf seine Begrüßung; dann ging sie zum Fenster, sah einen Augenblick hinaus, setzte sich und ergriff eine Handarbeit, ohne ihm weiter einen einzigen Blick zu schenken.

»Also heute noch zurückhaltender, noch kälter als gestern,« sagte sich Hugo, »muß ich denn heute alle meine Hoffnungen zu Grabe getragen sehen?« Aber er hatte keine Zeit, über dieses eben so unerklärliche, als kränkende Benehmen nachzudenken; Herr Lüders, über die große, und wie es ihm schien, sehr überflüssige Zärtlichkeit angehalten, die seine Frau, und noch dazu in Louisens Anwesenheit, gegen Hugo an den Tag gelegt hatte, ersuchte Beide, Platz zu nehmen, da er mit seinem Neffen noch Einiges zu sprechen habe.

»Ich muß mich kurz fassen,« fuhr er fort, »da mir heute viele wichtige Geschäfte obliegen. Was ich Dir gesagt habe, mein Sohn, wirst Du Dir überlegen, und morgen besprechen wir uns weiter darüber. Vielleicht giebt es für Dich noch eine andere Wahl; Du wirst mir alsdann Deine Gedanken mittheilen. So weit sich meine Geldmittel und mein Einfluß erstrecken, kannst Du auf meine Hülfe rechnen, vorausgesetzt natürlich, daß ich Deinen ernsten Willen erkenne, einen vernünftigen, zum Ziele führenden Weg einzuschlagen und« – er betonte diese Worte mit einem Seitenblick auf Louise sehr nachdrücklich – »wenn Du mir keinen sonstigen Anlaß zur Unzufriedenheit giebst. Das wäre also abgemacht. Louise, ich glaube, Deine Schwester ruft Dich; sie bedarf gewiß Deiner Hülfe.«

Louise erhob sich und verließ das Zimmer. Hugo folgte ihr mit den Augen; aber sie sah sich nicht nach ihm um. Es schwoll ihm das Herz vor Betrübniß über ihre Kälte noch mehr, als vor Aerger über den hochmüthigen Ton, den sein Pflegevater gegen ihn angenommen hatte.

»Apropos,« begann Herr Lüders wieder, »wo wohnst Du?«

»In Hamburg.«

»Gut, ich könnte Dir hier im Hause auch kein Obdach anbieten. Bist Du mit Geld versehen?«

»Ja.«

»Ich würde Dir sonst das nöthige geben. Hast Du über den heutigen Abend schon verfügt?«

»Nein.«

»So komm zu uns; wir werden in Veranlassung des heute eingetroffenen glücklichen Ereignisses einige unserer Freunde bei uns sehen und zugleich eine Familienfeier begehen. Wir werden nämlich« – wieder legte er auf jedes Wort einen besonderen Nachdruck, als wolle er den Wunsch ausdrücken, Hugo möge sich das ad notam nehmen – »die Verlobung unserer Tochter feiern.«

»Ida's?« fragte Hugo schnell.

»Nein, nicht Ida's,« entgegnete Herr Lüders, indem er seinen Neffen fest ansah. »Es ist gut und in der Ordnung, daß Du gleich von Anfang an mit dem Stand der Familienangelegenheiten bekannt gemacht wirst; denn es hat sich hier Manches verändert. Deine jüngste Cousine verlobt sich heute Abend mit einem intimen Freunde unseres Hauses, einem höchst ehrenwerthen und angesehenen Manne, dem Doctor Schönfeld.«

Hatte sich Herr Lüders vorgestellt, daß sein Neffe diese Erklärung mit der Bezeugung seiner pflichtgemäßen Unterwürfigkeit unter seine patriarchalische Autorität hinnehmen würde, so fand er sich gewaltig getäuscht. Was er gesagt, schien Hugo mit zu großer Entschiedenheit gesprochen, um als bloße Mittheilung von Familienangelegenheiten gelten zu können. Er erinnerte sich plötzlich der Blässe, die Louisens Wangen überzogen, ihres heftigen Erschreckens, als er gestern den Namen Schönfeld genannt hatte, und der Verdacht stieg in ihm auf, daß sein Onkel im Begriffe stehe, gegen seine Tochter eine noch härtere Willkür zu begehen, als vor zehn Jahren gegen ihn.

Herr Lüders erschrak fast vor dem drohenden Zucken der Muskel auf des jungen Mannes Stirn und vor den Blitzen, die aus seinen dunkeln Augen schossen. Unwillkürlich rückte er auf dem Sopha ein wenig bei Seite, als sei er in einer Menagerie einem bengalischen Tieger zu nahe gekommen, machte sich dann eilig mit seiner Schnupftabacksdose zu schaffen und nahm in schneller Folge drei Priesen nacheinander.

»Es ist sehr gütig von Dir, Onkel,« sagte Hugo mit tiefer, fester Stimme, »daß Du es angemessen findest, mich mit dem Stande der Familienangelegenheiten bekannt zu machen; ich sehe daraus, daß Du mich noch immer zu Deinen nächsten Angehörigen zählst und mir also zugleich die Rechte eines solchen einräumst. Du wirst mir daher auch die Frage erlauben, ob Louise aus eigenem, freiem Antriebe diese Verbindung schließt?«

»Ich kann Dir,« entgegnete Herr Lüders, »die Berechtigung, diese Frage zu stellen, so wenig einräumen, wie die Art und Weise billigen, in der Du sie stellst. Wenn ich daher nicht besondere Gründe hätte, sie zu beantworten, so würde ich es mit Deiner Erlaubniß unterlassen. Nun aber gefällt es mir so, und deshalb sage ich Dir, daß Louise mit dem Doctor Schönfeld eigentlich schon seit Jahren verlobt ist, und daß es nur an einer Verkettung von ungünstigen Verhältnissen lag, daß von Seiten des Doctors kein förmlicher Antrag gestellt werden, und mithin die Verlobung nicht declarirt werden konnte.«

Hugo wandte seine Blicke von dem Onkel ab und seiner Pflegemutter zu. Sie fühlte, daß er eine Bestätigung von ihr erwarte, und sagte sanft und gelassen, wie es ihre Art war:

»So ist es mein Sohn; sie gelten in unserer Familie und überall schon seit langer Zeit als Verlobte. Wir haben allen Grund, diese Verbindung zu wünschen und unsere Zustimmung bereits ertheilt.«

»Und Louise hat aus eigenem, freiem Willen ohne Zurede oder Zwang von irgend einer Seite ihre Wahl getroffen?« fragte Hugo noch einmal.

»Ja,« sagte Herr Lüders in einem entschiedenen Tone, und Madame Lüders, die keinen Willen kannte, als den ihres Mannes, nickte bekräftigend.

Der Lohndiener erschien in diesem Augenblick und meldete Besuche an. Hugo stand auf, ergriff seinen Hut und, als kaum die Angemeldeten eingetreten waren, verließ er, fast ohne sich von seinen Pflegeeltern zu verabschieden, deren Aufmerksamkeit jetzt auf andere Dinge gerichtet war, in Hast und Aufregung das Zimmer.

Auf der Hausflur begegnete er Louisen. Sie ging, ohne den Blick zu ihm zu erheben, an ihm vorüber. Er wollte sie zurückhalten, aber sie entzog ihm die Hand, die er ergriffen, und schritt eilig weiter.

»Louise,« rief er ihr nach, »einen Augenblick, ich flehe Dich an.«

»Ich kann nicht, Hugo,« entgegnete sie, »hier nicht, jetzt nicht.«

»Nur ein Wort, ich beschwöre Dich, sein einziges Wort.«

»Morgen!« rief sie angstvoll und entschwand durch die Thür zu ihrem Zimmer.

»Morgen!« wiederholte er mit klangloser Stimme, »morgen! wenn die Kluft überschritten ist, die sie auf ewig von mir trennen wird, und der Rücktritt unmöglich ist; morgen! wenn sie unwiderruflich an einen Anderen gebunden sein wird; morgen! da doch das Heute alle meine Hoffnungen vernichtet!«

In wilder Hast eilte er von dannen; nur eine schnelle anstrengende Bewegung entsprach dem stürmischen Fluge seiner Gedanken.

Längs den hohen Gebäuden hin, die belebten Straßen hinab, an Hunderten von Fußgängern vorüber, durch das Gedränge auf dem Marktplatze, zwischen zahllosen Wagen, Karren und Pferden hindurch, im bunten, wirren Getreibe sich Bahn machend, ohne Rast, nicht ein einziges Mal zurückblickend, Nichts beachtend, mit triefender Stirn und verstörten Blicken, nicht wissend wohin, eilte er weiter und weiter. Wie Fieber rieselte es ihm durch die Adern, in wüthendem Schmerz knirschte er mit den Zähnen und biß sich die Lippen blutig.

Er konnte kein bestimmtes Ziel im Auge behalten; er vermochte keinen Gegenstand des Nachdenkens weit genug von dem andern zu trennen, um nur eine Secunde lang dabei zu verweilen. Was im wirren Durcheinander seiner Ideen seiner Seele am deutlichsten vorschwebte, war die Vernichtung seiner schönsten Hoffnungen, war die Nichterfüllung seiner lang genährten Wünsche, war endlich die Scham und der Verdruß über seine Selbstüberschätzung, über seinen thörichten Glauben, daß er seiner selbstwillen etwas habe gelten können.

Das Band, welches ihn an sie geknüpft hatte, war nicht gelöst, es war zerrissen worden; nicht von seiner Geliebten war er geschieden, nein – so schien es ihm – von der Liebe in seiner eigenen Brust. Seine festeste Stütze, das stolze Selbstvertrauen, welches ihm bisher den Kampf gegen die Mißgunst des Schicksals leicht gemacht hatte, war gewaltsam erschüttert.

Der herrliche Bau seiner Ideale war in Flammen aufgegangen; vergeblich hatte er die Arme ausgestreckt, die wilden Geister des Feuers zurückzuhalten, spottend seiner Ohnmacht, hatten sie ihm entgegen gezüngelt, hatten, immer weiter um sich greifend, in rasender Eile seine ganze Lebenshoffnung in eine trostlose Brandstätte verwandelt.

Und er eilte weiter und immer weiter, durch endlose breite Straßen und enge, krumme Gäßchen, weiter und immer weiter, durch die große lärmerfüllte Stadt, an den geschäftigen Menschen vorüber, die ihm verwundert nachsahen.

Allmählig nahmen seine Gedanken eine festere Gestalt an. Vergangene glückliche Tage stiegen in seiner Erinnerung empor, er dachte an sein langes, unermüdliches Streben und Ringen nach den Gütern dieser Welt, an die Hoffnung, die ihm zugeflüstert hatte, geduldig jedes Ungemach zu ertragen, keine Mühe, keine Arbeit zu scheuen; denn der schönste Lohn würde nicht ausbleiben, und dann dachte er, daß er das Alles gethan, das Alles gehofft, um jetzt als Geringgeachteter, Verschmähter zum zweiten Mal seiner Heimath zu entfliehen.

Wie hatten sie ihn empfangen? Von seiner Pflegemutter und Ida war er – er konnte sich nicht länger täuschen, nun, da ihm die Schuppen von den Augen gefallen waren – mit milder Schonung aufgenommen worden, sein Pflegevater hatte ihn mit kränkendem Hochmuth behandelt, und sie hatte erst seine Hoffnungen ermuntert und dann, als sie überlegt, daß er ihr ja nichts bieten könne, als sein treues, liebeerfülltes Herz, hatte sie ihn kalt und mißachtend von sich gewiesen.

Und unaufhaltsam schritt er weiter. Ja weiter, das war sein fester Entschluß, und immer weiter wollte er eilen; der Morgen, von dem sie gesprochen, sollte ihn hier nicht mehr treffen. Morgen, wenn sie einem Anderen angehöre, sollten die Wogen des endlosen Meeres zwischen ihr und ihm rauschen, die Spur hinter dem Kiel seines Schiffes schnell vertilgen.


Auf unseres ehrlichen Jacobs Zügen lag ein düsterer Schatten des Unmuths, als er im Thorwege des Hotels stand, um die Rückkehr seines Herrn abzuwarten. Noch schwärzere Pläne gegen die gekräuselten Locken und glatten Gesichter der ihm verhaßten Kellner, als jene, über denen er gestern gebrütet, trübten heute die Ruhe seiner Seele und vermischten sich auf's Seltsamste mit anderen misanthropischen Betrachtungen über die Nichtswürdigkeit der menschlichen Gesellschaft überhaupt, und des weiblichen Theiles derselben besonders.

»Liefen wir nur erst wieder draußen auf der hohen See,« so schloß seine Gedankenfolge, »vor einer frischen Bramsegels-Kühlte, da würde es einem ehrlichen Kerl doch mal wieder wohl zu Muthe werden; denn hier in diesem großen Gomorra – Gott verd – – es und sende bald einen droben im Himmel extra dreimal destillirten Schwefelregen darüber herab – und unter dem vielen Weibervolk hol' sie alle der Teu – – nun, nun, Jacob, schäme Dich, alter Heide – am Ende sind's ja doch auch Menschen.«

Wie gestern folgte Jacob seinem Herrn, als dieser endlich ankam, auf sein Zimmer; aber noch weniger als gestern wagte es der alte Seemann, den Capitain anzureden, denn noch drohender als gestern wetterleuchtete es aus seinen Augen, und wie wilder, grimmiger Trotz zuckte es auf seiner Stirn und um seinem Mund.

»Der Capitain,« hatte Jacob oft gesagt, »ist sonst so gut und fromm, wie ein Lamm; aber wenn der Zorn in ihm erwacht – na, Jedermann für sich und Gott für uns Alle – lieber möcht' ich mit einem Alligator unter vier Augen und aus einem Teller zu Mittag speisen, als mit ihm anbinden.«

Aehnliche Betrachtungen mochte er auch jetzt anstellen; denn jedesmal, wenn Hugo auf seinem stürmischen Gange durch das Zimmer in seine Nähe kam, führte er mit großer Behendigkeit irgend ein geschicktes Seemanoeuvre aus, um ihm auszuweichen. Instinctmäßig hatte der Bootsmann begriffen, wie die Sachen ständen.

Eine Zeit lang verblieb Hugo stumm und schien seinen Untergebenen gar nicht zu beachten; endlich aber schien sich der Kampf in seinem Innern einigermaßen zu legen, er blieb plötzlich vor ihm stehen und sagte mit kurzer, scharfer Betonung:

»Jacob, morgen früh, wenn die Ebbe eintritt, lichten wir die Anker.«

»Sehr wohl, Capitain,« entgegnete Jacob.

»Bringe dem ersten Steuermann den Befehl und schaffe noch heute Alles an Bord.«

»Sehr wohl, Capitain.«

Es trat eine Pause ein, Jacob kratzte sich am Kopf und schielte mit fragendem Blick nach einigen auf den Fußboden stehenden Kästchen; sie enthielten werthvolle Geschenke, die Hugo für Louise und seine übrigen Angehörigen mitgebracht hatte.

»Den Plunder nicht!« rief Hugo zornig und schleuderte mit einem Fußtritt das ihm zunächst stehende mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß es in allen Fugen auseinander gesprengt wurde und der kostbare Inhalt klirrend zerbrach.

»Nu, nu, Capitain,« platzte Jacob unwillkürlich heraus; aber sich schnell eines Besseren besinnend, fügte er hinzu: »ich hab' nichts gesagt.«

Hugo verdroß der Ausdruck des Zornes, zu dem er sich hatte hinreißen lassen.

»Jacob,« sagte er ruhiger, »laß diese Sachen hier, oder behalte sie selbst, thue damit, was Du willst; aber ich will sie nie wiedersehen; verstehst Du mich?«

»Ganz wohl, Capitain,« erwiederte Jacob, »es thut mir nur leid um das viele Geld, das Sie in New-Orleans dafür ausgegeben haben.«

»Geld und immer Geld,« sagte Hugo ärgerlich, »sprichst Du nun auch von Geld? Ich wollte, ich hätte keines.«

»Na, dafür könnte Rath werden,« meinte Jacob.

»Und doch,« fuhr Hugo fort, »das Geld ist und bleibt immer die Hauptsache. Das Geld ist der wahre Inhalt, der Kern der großen socialen Nuß, an der wir uns alle die Zähne stumpf beißen. Was sind wir ohne Geld, da es doch auf das Gemüth, auf das Herz und die Liebe, die es birgt, gar nicht ankommt? Was sagst Du dazu, Alter,« setzte er nach einer kurzen Pause mit einem bitteren Lächeln hinzu, »ein großes, schönes Rittergut zu besitzen? Warum siehst Du mich so verwundert an? O, so übel wäre das nicht, Jacob. Da kann man Laffen und Tagediebe in brillante Livréen stecken, mit Vieren fahren, Staat und Aufwand machen, schwelgerische Gelage halten, seine Nachbarn zu Jagdpartien einladen und an einem Abend im Lhombre so viel verspielen, als wovon eine arme Familie ein ganzes Jahr hindurch leben könnte, kurz man hat die beste Gelegenheit, alle Thorheiten zu begehen, bis endlich der Beutel so leer wird, wie der Kopf und das Herz es schon immer waren. – Oder wie würdest Du es finden, Herr Doctor zu heißen? Doctor der Rechte, oder Doctor der Arzneikunde? Das klingt doch nach etwas. Und welch' prächtiges Leben hat nicht so ein Doctor? Ja, ja, es lebt sich herrlich und in Freuden von der Mißgunst, dem Starrsinn, der Geldgier und der Streitsucht seiner Nebenmenschen, oder von ihren tausend Krankheiten und Leiden und körperlichen Gebrechen. Was thut's, ob der Client durch den Prozeß zu Grunde gerichtet wird, oder der Patient an der Cur stirbt? Pah! der Doctor befindet sich wohl dabei und füllt seinen Geldkasten und nimmt eine geachtete Stellung in der Gesellschaft ein. Nicht wahr, Jacob, wir sind doch im Grunde ein paar recht armselige Schlucker, Du, der Bootsmann, und ich, der zweite Steuermann; meinst Du nicht auch?«

Jacob hatte mit nicht geringem Erstaunen zugehört und von dem Allen kein Wort verstanden; nur das Eine war ihm vollkommen einleuchtend, daß es so gekommen, wie er es vorausgesagt, und daß sein Herr um einige Compaßstriche von seinem Course abgekommen sei.

»Sie sind heute nicht gut gelaunt, Capitain,« sagte er nach einigem Bedenken und in so beschwichtigendem Tone, als läge in dieser unbestreitbaren Thatsache eine große Beruhigung.

»Und Du bist brummiger, als je, alter Seerabe,« entgegnete Hugo.

»Brummig?« sagte Jacob, »nu, ich meine, man könnte es auch betrübt, oder so was nennen. Es kann auch unser Einem manchmal das Herz schwer werden.«

»Was liegt denn Dir auf dem Herzen, Alter? erzähle es mir.«

»Bin eigentlich nicht in der rechten Stimmung dazu,« gab Jacob zur Antwort; »aber ich will Ihnen mein Garn abwickeln, damit Sie sehen, daß auch andern Leuten Widerwärtiges passiren kann; vielleicht finden Sie darin einen Trost für Ihr eigenes – na, das gehört nicht hierher. Nun, Sie wissen ja, Capitain, daß ich gestern zu der Guste ging, die mich so sehnsüchtig erwartete, wie sie mir hatte signalisiren lassen. Auch ich sehnte mich, die Guste wiederzusehen, denn sie war damals – es sind freilich einige Jahre her; aber daran hatte ich nicht gedacht – also, was ich sagen wollte, damals war sie ein gutes und dazu ein sauberes Mädchen, stramm von Takelwerk, scharfgesetzte Stege, Alles an ihr schmuck und nett; und wenn sie flott war – oho, Capitain, sie konnte sich wohl sehen lassen, die Guste, mit ihrem neuen Shwal, der wie 'ne seidne Flagge wehte, und ihrem schnack'schen Toppsegelhut mit den rothen Wimpeln. Sie war mir mehr werth, als ich selbst recht wußte; sie war mir, was dem Holländer sein bester Anker ist; er läßt ihn zu Hause, damit er ihn nicht verliere. Und, wissen Sie, Capitain, ich hatte mir gedacht, daß wenn die Guste immer noch die Alte – ne, die Junge wäre – ei was, das bleibt sich Alles gleich; aber sie ist sich nicht gleich geblieben und – nun, wo war ich denn eigentlich stecken geblieben – ja richtig, da könnte ich auch wohl nachgerade, hatte ich mir gedacht, in den Ehestandshafen einlaufen und für den Rest meines Lebens liegen bleiben. Es ist aber anders gekommen – – sie hat sich verheirathet. –«

Jacob schwieg und drückte seinen blanken Seemannshut so heftig zusammen, daß er ganz die Façon verlor. Hugo sah ihn voller Theilnahme an.

»Und sie muß sich merkwürdig damit beeilt haben, als ich fortgegangen war,« fuhr der Bootsmann fort, »denn sie hat schon sechs Kinder.«

Er fuhr mit der breiten Hand über die Augen und dann in den Hut, um die Beulen wieder auszuglätten.

»Und wäre das nun Alles, Capitain,« sprach er weiter; » aber das Schlimmste kommt noch, wie der Schiffsjunge sagte, als sie ihm schon zwei Dutzend aufgezählt hatten. Ihr Mann ist ein Liedrian und ein Trunkenbold. Sie haben nichts zu beißen und zu brocken und leben mit einander, wie der Wallfisch und der Schwertfisch; und sie und die Gören sind so rupprich aufgetakelt und so schlapp von Segelwerk, daß es ein wahrer Jammer ist. Na, was geschehen ist, steht nicht mehr zu ändern, und gut war es doch jedenfalls, daß ich nicht mit leeren Taschen kam; denn, wonach sie sich so sehr gesehnt hatte, war – eine kleine Gabe.«

Und wieder fuhr die breite Hand über die Augen und in den Hut, und Jacob wandte sich ab, um seine Gemüthsbewegung zu verbergen.

»Wie viel braucht sie, Jacob, um aus ihrem Elend herauszukommen?« fragte Hugo.

»Weiß nicht,« lautete die Antwort, »aber Sie dürfen ihr nichts geben, Capitain, denn sie verdient es nicht.«

»Wie meinst Du das?«

»Na, lassen wir das; ich merkte gestern, daß das Logbuch ihrer Moralität falsch geführt wird – und das schmerzt mich am meisten.«

»Jacob,« sagte Hugo und trat dicht vor den Bootsmann hin, »als ich vorhin den kurzen Befehl gab, daß wir morgen früh unter Segel gehen würden, dachte ich nur an mich, und meine fehlgeschlagenen Hoffnungen. In dem Augenblick hatte ich vergessen, daß auch Du Deine Pläne für die Zukunft entworfen hattest, und ich fragte Dich nicht erst, wie es mit Deinen Angelegenheiten stehe. Das war nicht Recht. Verzeihe mir meine Selbstsucht; reiche mir die Hand.«

»Capitain,« sagte Jakob mit einem verlegenen Grinsen, »das schickt sich nicht zwischen dem Vorgesetzten und dem Untergebenen.«

»Aber, zum Henker, zwischen uns schickt es sich. Reiche mir die Hand, Alter.«

Jacob that es, während ihm zwei helle Thränen in die Augen traten.

»Dank, Capitain,« sagte er, »für Ihre freundlichen Worte. Gott verd – – das tröstet mich über den Verlust der Guste.«

»Wir sind jetzt,« sagte Hugo und schüttelte herzlich die derbe Faust des Bootsmanns, »zwei heimathlose Wanderer in dieser weiten, öden Welt, Jacob; aber so lange wir nur treu zusammenhalten, werden wir, denk' ich, Kraft genug haben, den Schlägen des Schicksals zu trotzen.«

»Das denk' ich auch, Capitain,« entgegnete Jacob, »der beste Lootse durch's Leben ist die Freundschaft.«



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