Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Joachim.

Und dennoch; einen Einzigen vermochte Herr Lukas nicht zu erlösen. Und das war sein eigener Bruder. Der blieb ganz in sein Ich versunken.

Diese sich langsam neigenden Sommertage waren unbesieglich groß. Wenn im Dräuen und dem vielen Elend der Zeit ein Herz einsam zu den Bäumen und Wiesen ging, dann flossen diese Tage hinein, und das Herz wurde stiller und zuckte nicht mehr so sehr. Ihrer Bläue, ihrer Heilandsmilde konnte niemand widerstehen, und selbst Herr Joachim wurde eigentümlich still unter ihrem warmen Hauche. Er ging, allein wie immer, unter den Bäumen des englischen Gartens, diesem Trost aller Vereinsamten und sann und sann. Sein Vaterland hatte er verlassen und all seine Habe in Schweizer Werten angelegt. Er wollte durchaus niemandem dienen; das blieb unverrückbar bestehen. Aber eine eigentümliche Entkräftung war in ihm, seit er die Heimat verlassen hatte und wußte: nie durfte er zurück! Es war eine Gnadenfrist noch, bis auch ihn die Musterung heranzog; folgte er dem Worte »tauglich« nicht, dann fiel ein Beil zwischen ihn und das Vaterland. Er wußte es. Er wurde zwar still und sinnend, aber es war doch schon alles zu Bein und Horn geworden in seinem Herzen, beim Nennen des Wortes »Staat«. Er zuckte zusammen, wie unter einer Peitsche, wenn man es nannte. Rettungslos haßte er es.

Manchmal, wenn er so vor sich hingrübelte, wie er leben sollte ohne den Riegel vor dem Süden, dem blauen Buchenberge von Wildon, dann lief ihm ein kühler Schauer über den Rücken, und er wußte: jetzt war er mehr noch verlassen als ehe. Die Menschen hatte er leicht und gerne gemieden; die banden ihn wahrlich kaum an die Heimat. Aber als echtem Rabesam waren ihm »die fünf ersten Schöpfungstage wichtiger, als das interessante Affengeschlecht des sechsten«, wie er sich ausdrückte.

Und die weinausbrütende, steirische Sonne, die Rebennächte, die voll Gesang, wandernder Fackeln, Zikadengezitter und fallender Meteore sind, dieser letzte, deutsche Hochwald dicht beim ersten Feigenbaum und bei der Mandel, das gab es nirgend sonst wieder. Graubünden stürzt herunter wie ein Wasserfall zum Süden. Die mittägige Steiermark gibt sich ihm sachte, langsam und zärtlich hin, wie eine nach und nach eroberte Geliebte. Er war an diese blauen Weiten um so fester geklammert, als er den Menschen entsagt hatte. Nun brannte, kaum daß er sie verlassen, die fressende Erinnerung in ihm.

Als Verene Magelon nach München kam, warf sich ihr der sonst so abweisende Mann beinahe an den Hals. Von Graz sollte sie erzählen! Ob jetzt wieder diese Berge von Melonen auf dem sonnigen Platze in der Vorstadt Jakomini lägen? Und ob auf den Feldern die großen Spatzenschwärme in den Maiskornrispen hingen, und ob die Kürbisse flammend gelb würden? Und ob über dem Murberge noch Rohrweihen kreisten; er wüßte, es gäbe dort noch welche. Und ist der schöne wilde Wein, der unter den Kanonen an der Bastei hinanklettert und als erster des Herbstes rot wird, schon gefärbt? Und …

Er fragte wie ein Kind; staunend sah Magelon, was für Spielzeug die bittere Seele dieses Menschen anfüllte, davon sie wenig verstand. Denn gerade das, was er fragte, hatte sie nie beachtet noch erkannt. Nichts wußte sie zu beantworten, außer, daß die Melonen wie immer recht farbig auf dem Markte lagen, daß sie aber teurer seien, und daß die Maronenbrater noch nicht an den Straßenecken stünden, denn das geschähe ja immer doch erst mit Ende September.

Er konnte sich gar nicht mehr mit ihr verständigen. Was ihn schmerzlich beseelte, davon wußte sie nichts, und was sie wußte, das hatte Menschenwitterung und machte ihm wenig Freude. Er ließ sie bald stehen und ging wieder allein seine unruhigen Wege, wie ein gefangenes, großes, wildes Tier.

Jetzt schrieb er sogar Briefe in den langen Nächten. Er schrieb einmal an Vollrat und zeigte ihm an, wie er nie mehr zurückgehen könnte, wenn man ihn abstellte und tauglich spräche. Aber wie die Angst vor dem Musterungstage deshalb in ihm wühle.

Vollrat antwortete, Wunder geschähen, und er wüßte jetzt bestimmt, daß auch Joachim Rabesams hohe Figur sich in Feldgrau sehr gut ausnehmen würde. Er käme schon wieder! Hätte sich doch sogar der unbändige Ephraim Nußriegl ganz jähe aus der Schweiz losgerissen und sich schweigsam zum Dienste gestellt.

»Ich habe ihn gefragt, warum? Er sagte: Rauflust, Unruhe, Sucht nach dem freien Feldleben, Veränderungsdrang. Es war zu aufreizend, lesen müssen, daß es daheim noch viel bunter zuginge als in meinem eigenen Leben, das bisher das bunteste war.«

Und Vollrat, in seiner humorvoll lässigen Philosophie, schloß:

»Die großen Sagen Homers sollten etwas recht Nachdenkliches für dich haben. Immer sind die größten Helden der Epen zuerst Drückeberger gewesen. Achilles versteckte sich in Weiberkleidern, Odysseus stellte sich wahnsinnig und hat sich an Palamedes, der ihn entlarvte, dafür noch spät auf das fürchterlichste gerächt. Daß sie Drückeberger waren, beweist, daß sie intelligenter waren als andere. Daß sie nachher größere Taten vollbrachten, als die ersten Hurrarufer, ist nur die Probe auf diese Intelligenz. Nußriegl hat alle vier Tapferkeitsmedaillen und ist außer der Tour Leutnant geworden. Warte nur; balde, balde bists auch du.«

Mit einem bittern Auflachen legte Joachim den Brief des Freundes beiseite. Er ging gereizt auf und ab, schüttelte den Kopf, blieb stehen und las weiter.

»Er ist übrigens der echte Nußriegl geblieben. Er hat das höchste Maschinengewehr in den Dolomiten; das bedient er fast allein. Nur an einem Seil kann man in seine Felskluft hinauf, in der er seine Mordmaschine eingezwickt hat. Er schießt ganze Streifkommanden ab, und ich weiß gar nicht, wieviel Tonnen Granaten schon nach ihm verschossen worden sind. Immer kracht und splittert es um ihn; er aber lacht. Er hat auch gelacht, wie die deutschen Brüder inspizieren gekommen sind; für kurze Zeit haben sie dort aushelfen müssen. Da war ein Herr aus dem Norden sein Abschnittskommandant. Nußriegl hat ihn dort oben empfangen, eine Zipfelmütze auf dem Kopf, im bloßen, geöffneten Hemd, aber alle vier Tapferkeitsmedaillen daran geheftet. Als er sich (kannst dir denken, wie lässig) vorgestellt hatte, sagte der deutsche Major: ›Herr, das kann ich glauben oder nicht, daß Sie Fähnrich sind. Woran soll ich es bei diesem Aufzuge erkennen?‹ Sagt Nußriegl: ›Wenn mir Herr Major gütigst zusehen wollten, was ich hier leiste, und wie es da zugeht, so werden der Herr Major die paar feldmäßigen Erleichterungen sicherlich entschuldigen.‹

»Der Major und seine Herren aber hatten auch in der sengenden Glut dieser Steinwüsten alle die Kragen bis hoch hinauf geschlossen; adrett bis zur Folter waren sie. Ist man innen tiptop, so muß mans auch nach außen zeigen; dachten sie und sagtens ihm auch. Der schlamperte Österreicher meinte, es genüge ihm ein großes, tüchtiges Menschentum und sonst höchstens noch etwas äußere Reinlichkeit. Da hat ihm der deutsche Herr dienstlich befohlen, sich am andern Tage in Uniform zu melden. Und der Nußriegl hats nicht getan. Was hat das böses Blut gemacht! Keiner wollte nachgeben: der eine, der oben in Tod und Gefahr aus einem österreichischen Heldenlümmel geschwind einen ostelbischen Strammsteher machen wollte, hat vielleicht recht gehabt in allem, … bis auf den ungünstigen Augenblick. Ablösen hat sich der Nußriegl lassen, und seinen Posten hat bald darauf die nächste Alpinipatrouille erstürmt und das Ganze ist eine todtraurige und sehr charakteristische Geschichte, in der ich dem Nußriegl nicht einmal recht geben kann.«

»Ich aber ja!« knurrte Joachim gereizt.

Wieder und wieder las er den Freundesbericht. Dabei wurden seine bronzenen Züge immer starrer. Und als er den Brief weglegte, ging er, schrullig, wie er war, zum Wäscheschrank, warf sein gestärktes Überhemd ab, an dem er stets festgenähte Kragen trug, suchte sich ein weiches hervor, zog es an, machte sich etwas flüchtig fertig und schlug geflissentlich den weichen Kragen über dem Rockbord auseinander, was schon einige Jahre nicht mehr in Übung war. Und so ging er fortab umher. Fragte man ihn, so erwiderte er kurz: »Ich will stets an verschiedene sittliche Forderungen erinnert sein, die offenbar zu den Staatsbürgertugenden gehören.«

Und sein Entschluß stand fester als je.

Er war schwer genug, dieser Entschluß! Joachim Rabesam hatte oft ganz seltsame Anwandlungen. Da war von seinem Fenster ein unbenützter Balkon an der Straßenecke gegenüber zu sehen; an dem zog sich der wilde Wein zu einer Laube empor, und dieser wilde Wein hatte jenes schneidend scharlachene Lichtrot, das bis in ein blasses Gelb übergehen kann und gegen den blauen Spätsommerhimmel in einer erschreckenden Schönheit und Wehmut leuchtet. Joachim saß jetzt halbe Stunden und mehr an seinem Fenster, ehe er ausging, und starrte diese dünnwerdenden Ranken an. Er dachte wie gelähmt an die Bastei auf dem heimatlichen Schloßberge, wo die äußersten Rankenspitzen gerade so blutend und schön an den alten Mauern klammerten. Ganz pflanzenhaft wurde er bei diesem verlorenen Hinblicken. Eine Art schmerzlich-süßer Lähmung überkam ihn dabei. Tag für Tag sanken ein paar Blätter herab und rieselten im leisen Winde auf die Straße hinunter, schön in jeder Bewegung und noch unten lässig glühend, bis der Staub alle Farbe in seinem Grau hinunter hatte. Und sein Herz brannte düster und hilflos und füllte sich wie mit grauer Asche.


In diesen Tagen dachte er oft an ein Mädchen. An die Schwedin.

Der hellblonden Birgid Halfström war Verene Magelon aus rechtem Herzen Freundin geworden; auch die beiden Mädchen hatten sehr viel über Herrn Joachim nachzudenken: Herr Lukas hatte sie angerufen: »Helft ihr ihm!« Verene Magelon liebte ihn nur mehr ganz zaghaft, verlöschend und scheu. In ihr Herz war eine größere Rührung gezogen: die über den Lebenshunger O'Briens. Sprechen mußte sie aber stets wieder von Joachim. Als sie Birgid klagte, daß sie ihn immer weniger verstehen könne, da wurde Birgid aufmerksam und fragte: »Ja, was fehlt ihm denn?« Nun erzählte ihr Magelon stundenlang von Herrn Joachim. Wie er die Menschen überhaupt nicht mehr gelten lassen wollte und, ärger als sein Bruder, das ganze Glück seines Lebens nur mehr bei der Landschaft und ihrem leblosen Gewächs wisse.

Damit begann auch Birgid mehr als bisher, nach dem verlorenen Bruder des Herrn Lukas hinzusehen, für den sie schon stets ein sachte nagendes Mitleid gehabt hatte. Ein Mitleid, das bis zu einem feinen Stiche in ihrem Herzen ging, wenn sie ihn sah. So kam es bald so weit, daß Birgid ebenso gerne über ihn zuhörte, als Magelon von ihm erzählte. Und als Magelon einmal ausrief: »Aber Sie verlieben sich ja in ihn«, da lächelte Birgid zwar, aber eine feine Röte kam über ihr Gesicht. Diese Röte war so scheu und verehrungswürdig, daß Magelon sie an der Hand nahm und sagte: »Ihnen, Birgid, Ihnen vergönnte ich ihn wohl. Sehen Sie, er hat jetzt das letzte verloren, was ihn vor der völligen Einsamkeit behütete, seine Heimat … Jetzt kann ihm, der nicht mehr jung ist, nur mehr ein stilles Weib Heimat werden. Ich bin für ihn zu ruhelos und zu voll von hundert Wünschen. Ich brauche einen, der mit mir wünscht und verlangt. Seine Frau müßte ihn unfühlbar und so von ferne mit ihrer Liebe und Sorge umgeben, wie eine schöne, weite Landschaft.«

»Sie sind viel tiefer geworden«, sagte Birgid und sah Magelon bewundernd an. »Und das haben Sie jetzt hübsch gesagt. Aber ich denke nicht daran, Herrn Joachim näherzutreten.«

Es wurde aber dennoch so; wie ein banger Zwang wurde es.

In ihren freien Stunden mußte nämlich Birgid Halfström den Verlassenen täglich sehen. Ihre Fenster gingen auf den englischen Garten hinaus, und gerade wo sie wohnte, war es so still und abgelegen, daß er immer wieder hinkam. Er hatte sie bisher noch gar nicht bemerkt, und immer, wenn er kam, versteckte sich Birgid hinter ihre weißen Gardinen, damit er gar nicht in die Lage käme, sie grüßen zu müssen und also gestört würde.

Aber sie sah ihm immer nach, so lange er in seiner seltsamen Verfemtheit dort die langen Alleen hinunterging, über denen der Himmel immer versagender zu werden begann.

Und die sichtliche, jedem Frauenherzen schreckliche Abgekehrtheit dieses herben, verbannten Herzens übte auch auf Birgid jenen Zauber, den sie gerade auf die mitleidvollsten und besten Frauenseelen wirkte. Sie hatte bald eine Himmelangst um ihn und meinte, sie würde ihn nicht lange mehr sehen. Denn er würde sich sicher das Leben nehmen; dort, wo in den Graubündner Felsbergen das ausgestohlene Adlernest war.

Jeden Tag, wenn er wiederkam, preßte sich ihr Herz ärger zusammen, und jeden Abend hatte sie damit zu kämpfen, nicht an ihn zu denken. Sie war wie verwickelt und gefangen.

Einmal stand er am Wasser und starrte so unerträglich lange und still hinein, daß ihre Angst sie antrieb, auszugehen und sich hinter ihn zu stellen, um zu helfen, wenn er in den Isararm spränge. Sie lief, was sie konnte und vermochte ihr heftiges Atmen kaum zu bändigen, als sie hinter ihm stand. Und er versenkte seine Augen immer noch in das rasche Wasser.

Da hielt es die Schwedin nicht länger aus, und sie trat an ihn heran mit einem tonlosen: »Guten Abend, Herr Joachim.«

»O guten Abend, Birgid, was macht mein Bruder?«

»Ach, Herr Joachim, er wird mir recht schwach. Besuchen Sie ihn doch und reden Sie ihm zu, seine Kräfte zu schonen. Überall umher geht er in die Spitäler und hilft den Verwundeten und Sterbenden; die Wunde an seiner Schläfe will aber nicht heilen, und so halten wir ihn für gefährdet.«

»Er muß sich erfüllen … Er hat es gut«, sagte Joachim nachdenklich. »Jeder wird ein wenig eilig, wenn er sieht, es geht ans Ziel.«

»Sprechen Sie nicht so schrecklich; es ist, als hätten Sie gar kein Herz. Und ich weiß, daß Sie ihn lieben.«

»Ich beneide ihn; ja«, sagte Joachim nachdenklich. Dann blieb er beinahe träumerisch stehen. »Sehen Sie doch,« sagte er plötzlich, »wie das erste Laub von den Platanen fällt. Da: ein Blatt nur! Kein Laub fällt so adelig, wie das der Platane. So verschwebt, so gleitend. Es läßt sich die meiste Zeit dazu. So wäre es freilich am besten; – sich Zeit lassen zum Sterben … Ja; ich will meinem Bruder diese heimkehrenden Platanenblätter zeigen und ihm sagen: nimm dir Weile.«

»O bitte, sagen Sie sich das selber auch«, rief Birgid zaghaft aus.

»Ich?« lachte er. »Ich fühle hier unter diesen Bäumen doch nichts anderes als Ewigkeit! Hier ist weder Eile noch Krieg. Hier ist man sicher. Und solange die Menschen ihre Hände nicht nach mir ausrecken, genieße ich die eigentümliche Lust« – Joachim erhob die Stimme, – »die etwa ein weiser Indier haben mag oder ein Nachfahre des Konfutse, oder ein Indianer. Nämlich? – Daß endlich der Erdteil der Ausrottung und der Unterjochung anderer, der Erdteil des Alkohols und der Kulturlüge, des Steinkohlenrußes, der unwürdigen Hast, der Gier, des verlorenen Tages (und was nicht noch ist er alles?), daß endlich dieser Feind allen göttlich stillen Menschentums, – Europa! – sich selber zerfleischt!«

»Es ist auch der Erdteil der Selbstaufgabe für andere«, sagte Birgid schüchtern.

Joachim sah sie warm und verwundert an. »Du gutes Kind«, murmelte er. Dann sagte er: »Selbstopferung? Damit beginnts langsam still zu werden. Ja, in den ersten zwei Jahren! Da hatten die Plattköpfe noch gute Tage, weil alle so schreien mußten wie sie. Da wurden die, welche sonst der Niemand waren, erst selber wichtig dadurch, daß sie diesen Niemand hergaben! Jetzt steckt da und dort aber doch ein einsames Menschentum den Kopf aus der Versenkung und fragt gehorsamst an, ob es nicht endlich auch ein wenig zu sagen habe. Na, warum läuft man jetzt immer mehr meinem Bruder nach?«

»Weil er an andere denkt und nicht an sich«, sagte die Halfström, leise wie bisher, aber etwas bitter.

»Weil er nicht für die Masse redet. Die Massen haben vorläufig bewiesen, daß nicht gerade sie das Glück über die Erde zu bringen vermögen! Wer mit ihr redet und für sie, der hat sich gerichtet vor dem Ewigen. Einen Journalfetzen soll man ihm als Grabstein aufstecken. Die Lehren, die mein armer Narr von Bruder da, ganz allein in Europa, weiterzutragen wagt, sie werden noch ertönen, wenn die heutigen großen Hühnerställe längst ihre ganzen Wichtigkeiten zu Ende gegackert haben werden.«

»Um Gottes willen, nicht so laut«, rief die Schwedin erschrocken.

Aber dieser Don Quichote der Einsamkeit lachte nur und erwiderte: »Einer, der so gewiß ist, allein zu bleiben, wie ich, darf schon laut reden. Die Verachtung eines ganzen Volkes ist mir nicht mehr, als wenn im Winter vierzehn Tage Ostwind wehte: Ich weiß, das sind zeitliche Späße. Nach fünfzig Jahren geht der Wind von weiß woher!«

»Sie werden aber in fünfzig Jahren nicht mehr dabei sein! Und gerade jetzt müssen Sie, zum wenigsten, nicht widersprechen.«

»Ich bin kein Pavian, der herdenweise vorkommt,« sagte Joachim trotzig, »und ich werde nie aufhören, die Sprache des Einsamen zu reden; besonders in einer Zeit, wo man dem Menschen, der einsam geboren ist und einsam sterben muß, ein widernatürliches Benehmen zumutet. Ein Benehmen, das natürlich ist bei Sechsfüßlern, die aus Eiern gekrochen sind, welche eine einzige Mutter legte! Bienen, Ameisen, sagt Lukas! Na: gebt uns allen eine Königin zur Mutter, so werden wir als Fürstenkinder und Geschwister ebenbürtig sein und Ebenbürtiges leisten. Sonst verschone man mich. Ich will als Mensch mich; – man reicht mir die andern! Oder gar mich den andern! Pflicht wird das genannt, und eine Moral will man den Menschen aufzwingen, die vor mehr als anderthalb Jahrhunderten ein König der Kasernen und Menschenverächter erdacht hat.

»Von unten her aber muß die Moral kommen! Aus Not, aus Armut, aus Leid! Nicht von einem Throne her! Darum hat sich die ganze Erde erhoben gegen dieses Pflichtgebot, das man, verlogen genug, einem Kant unterschiebt, der dergleichen niemals dachte oder sagte. ›Nicht die Wohlfahrt, sondern der Wille zur Pflicht ist das höchste Gut!‹ Ha, ja: aber der Wille zu meiner Pflicht! So meinte Kant. Nicht zu der, die mir jetzt, nach jenem alten, menschheitsverachtenden Rezept, irgend ein mediokrer Kopf diktieren möchte!

»Ich stehe hier, ich stehe allein. Und ich freue mich, daß denen, die mir Einsamen so viel von Pflicht reden, erst einmal ihr Geld weggenommen wird, von dem sie ja so gar nicht reden, und um das es, im Hintergrunde, allein geht. Armut führt ja zum Himmelreich; mögen sie erst durch dieses Tor! So: das sind meine Randglossen zu meines Bruders Verkündigungen … Ja!«

Und er wollte sich zum Gehen wenden. Da sagte die Halfström mit einer ungemein bescheidenen Innigkeit: »Ich wüßte nicht, was ich darum geben würde, wenn ich Ihr verbittertes Herz heilen und leicht machen könnte.«

Joachim Rabesam sah das schöne Mädchen an, und da ging ihm doch ein leiser Ruck durch die Seele.

Zögernd sagte er: »Ich würde doch immer bleiben, was ich bin.«

»Aber nicht mehr so allein!« hauchte das Mädchen. Dann gab sie ihm die Hand und sah ihm gerade in die Augen. »Es ist nicht schön, wie Sie die Menschen so links und rechts von sich wegschleudern. Sind denn Sie ein Eber und die andern alle Bluthunde?«

Damit ging sie und ließ den alternden Hagestolz in einer ganz eigentümlichen Ergriffenheit zurück.


Die Halfström strengte an diesem Nachmittage ihr sonst kluges Köpfchen sehr an, um über alle die Vorwürfe nachzudenken, die Herr Joachim herausgeschleudert hatte, und die dem, an Selbstaufgabe gewöhnten Mädchen so neu waren, daß sie sich lange bemühte, sie bei sich zu entkräften. Aber irgend etwas Geheimes und Lockendes zog aus diesen Lehren nach ihr hinüber. Sie bedauerte den Verbitterten innig; aber das stille Gebet, das sie dabei für ihn sprach, bekam (ganz ein wenig) von Respekt vor ihm selber, dem Unwegsamen, dem absoluten Heischer seines eigenen Ich. Auch dieses reine Weib geriet in den Bann solchen Trotzes.

Sie besuchte noch an demselben Abend die neue Freundin Magelon und erzählte ihr, daß nun auch zu ihr Herr Joachim gesagt, was er selten zu gestehen pflege. Es sei ihr aber das ein Beweis, wie sehr der Verödete ein Weib brauchen müsse: Magelon habe er sein Herz geöffnet und jetzt ihr. Sonst niemandem! »Er kann nur zu Frauen reden. So werden ihm nur Frauen zu antworten haben. Man muß ihn aus diesem Nordpol, aus diesem Packeis seines eigenen Wesens hervorziehen«, sagte sie.

»Wenn das Eine kann, so sind Sie es«, riet Magelon ein wenig kleinlaut. »Er ist schon halb verrückt.«

Und sie erzählte, daß Herr Joachim einmal übermütig auf die Bibel gepocht und ihr gesagt hatte: »Ich werd' Ihnen was zeigen. Da! Die Bibel erzählt, daß vordem Geister oder Engel vom Himmel zu den Menschentöchtern gekommen seien und sich nahmen, welche sie wollten, und Kinder mit ihnen hatten. Aber leider, dieses Geisterblut verdünnt sich immer mehr«, hatte der lange Rabesam dann höhnisch hinzugesetzt. »Noch die Antike kannte Göttersöhne und göttliche Menschen; unsre Doktores nicht mehr. Aber ich unterwinde mich und sage, daß ich solch ein Blut in dem unabweisbaren Abwehrdrange in mir fühle, der mich mit jedem Pulsschlage empfinden läßt: Ich – und die Menschen

»Das ist Größenwahn! Ja, das ist schon Größenwahn«, sagte die Halfström bekümmert. »Aber es hat etwas Reizvolles, so sich gänzlich selber der Eine und Einzigste sein zu können.«

Am andern Morgen sandte sie ihm ihr Stammbuch; vielleicht hatte er doch ein warmes Wort für sie. Er aber schrieb ihr, wohl mit Beziehung auf ihr gestriges Gespräch über die Zeit der alles überflutenden Staatsgewalt, hinein:

»Es ist Sünde gegen den Geist, ins Leben des Einsamen zu greifen.«

Die arme Halfström aber bezog das auf sich selber.


 << zurück weiter >>