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Kantilener saß in jenen Tagen, da er seines schmerzlichen Erlebnisses noch nicht ganz genesen und Herrn Rabesams Wort noch Same in ihm war, ohne Wurzel, bei dem ärmsten und erbärmlich geschlagensten aller Freunde aus alten Tagen. Er hatte so viel zu tun, ihn am Selbstmorde zu hindern, daß er sein eigen Leid und seine Grübeleien hinten lassen mußte.
O'Brien war am Verzweifeln! Er hatte ein Bein verloren. Er, der schöne, stolze und stattliche Mann, der nur für und durch die Frauen lebte! Wennschon der Kriegsverletzte in diesen Tagen längst kein schauerliches Bild mehr bot, sondern ein rührend schöner Eindruck geworden war, O'Brien wußte davon nichts. Er tobte gegen das Schicksal und wünschte sich den Tod. Umsonst sagte ihm Kantilener: Du bist wie jene verderbten Römer aus der Verfallzeit, die sich die Adern öffneten, wenn ihre Einkünfte auf ein bürgerliches Maß herabgesunken waren! O'Brien aber rief: »Ich will als Musterstück des Lebens dasein, und ich will ein Meisterstück draus machen oder der Geier hol' es!«
Den hohen Orden, der ihm für sein übermenschliches Ausharren im Feuer erst jetzt aufs Bette gelegt wurde, schmiß er an die Wand. O'Brien war gänzlich zerstört, nachdem er Ungeheuerliches vollbracht und ertragen hatte.
Es war schon der Rede wert, was er und der junge Karminell ausgehalten hatten. Im haushohen Schnee lebten sie monatelang wie die Nordpolfahrer, und ihre Maschinengewehre froren oft ein, so daß sie sie mit der Lötlampe zur Vernunft bringen mußten. Gegen eine halbe Brigade hielten O'Brien und Ottokar von Karminell einen vereinzelten Berg mit lachenswert geringen Kräften. Die beiden waren immer auf dem vordersten Posten, angebetet von ihren Tirolern, aber immer, alle Tage die Totengräber ihrer besten und treuesten Kerle! Seit dem ersten Schneefall, im August noch, hielten sie eine Stellung, die vor wenigen Jahren noch unbewohnbar geschienen hatte wie der Nordpol. Sie lebten in Häusern aus Eis und Schnee, sie aßen Schnee, und wenn man ihnen Talgkerzen brachte, so brannten sie die in ihrem inneren Menschen ab. Bis zum Unerträglichen stieg ihre Not, als O'Brien durch absplitternde Felsen sein Teil an einem Granatschusse bekam, der ihm beinahe den Kinnbacken sprengte. Ein Tuch um die Kiefer geschlungen, sagte er durch das Telephon nach unten: nun wäre es allerhöchste Zeit zur Ablösung. Aber man befahl, man bat zuletzt durch den Draht: »Haltet aus; wir haben keine Leute!« Da wurde auch der junge Karminell verwundet. Zwei Maschinengewehrschüsse fuhren ihm durchs dicke Fleisch über den Hüften, links und rechts. Es war zu ertragen; er blieb oben. So hielten sie sich den Winter durch, bis man, gerade am Weihnachtsabend, an die Übermenschlichen dort im Eise dachte und ihnen Kunde sagte, morgen in der Nacht käme Ablösung.
O'Brien hatte seine Leute angesehen; er sagte ihnen in eigentümlichem Tone: »Denkts euch, Leuteln, sie glauben, wer anderer kann jetzt nur so gleich das leisten, an was wir uns monatelang gewöhnen haben müssen! Wir sind wohl kaum eitel geworden da heroben, aber: Sagt's selber. Geht der Posten nicht in den ersten acht Tagen verloren, wenn Menschen heraufkommen, die das noch nicht g'wöhnt sind, was wir ausg'halten haben?«
Da schrieb die Tiroler: »Der Posten muß unser bleiben! Und es kann ihn niemand halten als wir selber. Wir wollen bleiben.«
So gab O'Brien den Anruf hinunter, es wäre eine Eselstat, verweichlichten Nachschub dorthin zu riskieren, wo nur eine am Platze herangezüchtete Rasse auszuhalten vermöchte. »Wir haben diese Zinken nicht gegen Tod, Teufel, Feind und Hunger und Eis gehalten, damit ihn der nächste Kommandant bewundernd verliert. Hier sind wir, hierher gehören wir, hier bleiben wir.«
So war O'Brien, so war der junge Karminell.
Als der langsam ablaufende Schnee die Wirkung der ganz großen Granaten nicht mehr abzudämpfen vermochte, schossen dann die Italiener mit dickem Eisen nach den unerreichbaren Zinnen und legten Minen unter die Felsen. O'Brien und sein Ziehsohn gingen an die böseste Stelle, und das zerschmetterte Gestein riß dem jungen Major ein Bein weg. Er war noch davonzubringen und kam in das nächste große Spital. Das war, seit Innsbruck überfüllt war, in München. Ottokar aber, sein junger Adjutant, war nicht weit fortzubringen gewesen, und wie er sterben gemußt, das wissen wir …
Über den Tod hatte O'Brien immer gutlaunige Witze gerissen; seine Mannschaft hatte oft mit ihm darüber gelacht. Der Verlust eines Beines aber brachte ihn bis zu völliger Zerrissenheit. Er beneidete den jungen Karminell und konnte nicht begreifen, wie man so, halb, leben könnte. Entweder ein Prachtexemplar oder tot; das war seine Moral. Nun tobte er gegen Gott, die Welt, den Staat, gegen alle Ideale der Menschheit und tat sich dabei durchaus keinen Zwang an. Damit er nicht demoralisierend wirke, wies man ihm ein eigenes Zimmer in einem hübschen Sanatorium an. Dort sollten seine Freunde die Lebensgier des Wildlings zu stillen versuchen.
Vergeblich!
Als O'Brien das Wundfieber überwunden und sich selber mehr gefunden hatte, merkte er, wie man ihn zähe zum Leben zurückführen wollte. Er blieb schweigsam. Aber sein Arzt und Kantilener, der abwechselnd mit dem andern die Wache bei ihm teilte, merkten, wie er auf Selbstzerstörung sann.
Da kam denn Kantilener abermals zu dem alten Herrn Rabesam, der schon recht schwach und krank geworden war. Seine Wunde war aufgebrochen von jenem Grazer Steinwurf. Er fieberte und hielt sich nicht mehr gut auf den Beinen. Aber gerne ging er mit Kantilener zu dem, der einst im Übermute gesagt hatte, er wolle der Apostel des Verkünders der Gotteswiederkehr sein.
Von allen Dingen, die O'Brien noch zu reizen vermochten, war dies das einzige, was er als ungelöst empfand und gerne als Trost hinübergenommen hätte: Hatte Rabesam die Wahrheit? War er nur ein Kleinsektenstifter, oder wehte von ihm die künftige Seelenruhe?
Der alte Herr ging gerne zu O'Brien, wie er zu jedem Verzweifelnden mit besonderer Liebe ging. Nur Neugierigen antwortete er nicht. Birgid und Magelon begleiteten ihn, voll erregten Mitleids!
Und O'Brien, der sich gebärdet hatte, als wäre in ihm der Mittelpunkt der Welt verletzt und verstümmelt, wurde allsogleich klein und stille, ja erwartungsfroh, als er diese hellen, unantastbar ewigen Augen des alten Herrn sah. Aus ihnen drang ein Gottesglaube, der nicht von dieser Erde war!
Und mit dem alten Herrn waren zwei schöne Mädchen gekommen. Da nahm sich der ehemalige Schwerenöter gründlich zusammen. Und Magelon sah ihn so warm an …
»Da ist ja unser Glückskind«, sagte Herr Rabesam freundlich und selbstverständlich, als er an O'Briens Bett trat.
»Glückskind«, rief O'Brien wütend.
»O du angeschossener Armer,« lächelte der alte Herr. »Muß dir ich, den das Alter viel hoffnungsloser zerbröckelt hat, als dich deine Granate, erst sagen, daß du Glück hattest, ob du nun das Kind Gottes seiest, oder das dieser Erde? Bist du das entrückbare Kind, das heimverlangt, so ist nichts, was dir dienlicher wäre, als das Leid.
»Verlangst du aber noch das Glück dieser Erde, so bist du behütet vor seinem größten Trug; dem lügnerischen, ichsüchtigen Weibe. Die dich fortan lieben können, die sind die tiefsten, die besten, die sichersten.«
O'Brien sank in seine Kissen zurück und schloß eine Weile die Augen. Er war bestochen worden. Er überlegte, wie das geschehen war. Und er mißtraute der wunderbar lieben Stimme des Greises. So ein bloßer Stimmton kann Paradiese lügen, solange er da ist. Ist er verweht, so ist der Zauber dahin, und das Elend der Verlassenheit noch größer. Einen Blick warf er auf Magelon; die hielt ihn liebevoll aus. –
So sagte O'Brien: »Wenn ich jetzt ruhig bin, was wird mich in Ruhe erhalten, wenn Sie weggegangen sein werden, alter Herr?«
»Wenn du willst, du großes Kind: Gott selber.«
»Ich danke, der ist der schweigsamste Umgang, von dem ich weiß!«
»Wer sagt dir denn, er schweige? Zum Glücklichen spricht er freilich nicht; zum Leidenden, wenn der nur will, redet er wunderbar.«
»Deutsch nicht,« sagte O'Brien bitter. »Was für eine Sprache werde ich erst lernen müssen, damit ich ihn verstehe?«
»Die Sprachen sind zum Zwecke dieses Lebens und zur Nützlichkeit erfunden worden und also unverständlich für Gott,« sagte Herr Rabesam lächelnd. »Gott redet die Sprache, die von je aus ihm in dieses Leben dringt. Gott redet die Bildersprache.
»Sieh um dich! Überall spricht er, und alles ist Symbol! Deine Gier, zu leben und deine Sehnsucht, zu sterben, weil du nicht alles sein kannst. Alles, mein Freund, ist nur, wer nichts ist.
»Der Pendel jener Uhr dort, der eben deshalb nie zur Ruhe kommt und immer links und rechts abwägen muß, weil er die Zeit misset, er ist ein Stück Bildersprache.
»Willst du noch weitere Symbole im Gewehr, das ob deinen Häupten hängt? Der Rest von Fisch auf deinem Teller hier, ist er nicht abermals Gottes Bildersprache? Der Fisch war unter Wasser, wie wir unter Luft leben. Er wußte so wenig vom Leben außerhalb des Wassers, wie du von jenem auf den luftlosen Sternen. Sein Emporkommen in jene andere Welt war sein Tod. Und wir nähren uns von ihm, damit wir sinnen können.
»Vielleicht nährt sich einst von deiner, aus dieser Welt geangelten Lebensgier Göttlicheres, damit es sinnen könne.
»Widerspenstiges Kind, das nicht einsieht, daß es auf einem Beine Gott näher humpeln kann, als auf zwei gesunden, die nur den Weg zum großen Frauenhause des Lebens sicher finden!
»Was willst du mit zwei Beinen? Auf die Schneehöhe der Alpen steigen, um dort zu erleben, daß schweißriechende Menschen Karten spielen? Sieh durch dies dein Fenster, Unersättlicher. Wie sie dort ferne und rein leuchten, die Berge Tirols, die du verteidigt hast. Leben jetzt nicht die saligen Frauen dort, wo dir sonst jener emporgewanderte Schmutz gelebt hätte? Reißt nicht die Dichtung der Sehnsucht an deinem Herzen? So ferne und blau und als Dichterwerk wird dir hinfort Welt und Leben sein. Der Jammer der Erfüllung wird dich seltener zerreißen und herunterdrücken, und du wirst wünschen, dichten, malen! Du wirst Zeit haben, die Bildersprache Gottes zu lernen, Glücklicher du!«
Sagte O'Brien: »Vater Rabesam, ich will meine Augen zumachen, um besser zu sehen, was du sagst. Ich denke daran, daß ich auch blind werden konnte. Und ein blinder Dichter hat vom Paradies gesungen. Du hast recht; es hat mich Gott vielleicht nur ganz milde gestraft, und dennoch kann ich von ihm reicher werden. Kommst du am Abend wieder? Denn ich mißtraue mir selber. Wer weiß, wie verzweifelt ich dann bin; am Abend überfallen mich alle Kobolde der Schwäche; kommst du wieder?«
»Ruhe jetzt; ich komme wieder«, sagte Rabesam und legte seine Hand auf die Stirne O'Briens, den dabei eine Zuversicht ohnemaßen durchrann. Dann ging er fort.
Aber der alte Herr fühlte, daß wieder, wie immer, wenn er sich gab, eine Kraft von ihm gegangen war. Und er wußte, daß der Vorrat nur mehr klein war. Dann mußte er ins Abendrot gehen.
Der ungestüme O'Brien war aber doch nicht so leicht nachdenklich zu stimmen und zu beruhigen, wie Kantilener oder gar Wigram, der sich selber kaum gänzlich verlieren gekonnt. Schon am selben Abend ließ er den todmüden alten Herrn, den ein Fieber leise zu rütteln begann, zu sich rufen. »Meister, gib mir wieder dein Wort und deine Wahrheit! Ich vergehe sonst!«
»Frage, so will ich antworten«, sagte Herr Rabesam und setzte sich still wie ein reiner Geist an das Bette des Verfieberten. Er hatte John Hatchet und die Magelon mit sich genommen; deren dunkles Gesicht ruhte wie der Abend selber auf dem schönen, unglücklichen Antlitz O'Briens. Herr Rabesam lächelte über beide.
»Wir wollen uns aber erst den Himmel besehen«, sagte er, als er sah, wie O'Brien sich anstrengte und nicht gleich eine Frage zusammenfassen konnte, die seiner ganzen Ungeduld und Seelennot Ausdruck gäbe. »Wenn du, Thomas O'Brien, jetzt diese goldenen Wolken sehen könntest, die wie Traumschiffe ins Abendland schwimmen, du würdest sehr ruhig werden.«
»Das ist es ja, daß ich sie nicht sehen kann, daß ich ihnen nie mehr wieder nachwandern können werde; o nie, nimmermehr!« O'Brien stöhnte vor Leidenschaft. »Die blauen Berge bleiben mir ewig ferne; die raschen Pferde laufen ohne mich, und mit den Bächen kann ich nicht mehr gleichen Schritt halten! Sitzen muß ich, sitzen mit brennendem Herzen!«
»Thomas, ist dies nicht gerade das Schöne, daß dein Herze brennt? Hast du nie den Jammer der Erfüllung in reicher Leute Gesichtern gesehen, wie sie stumpfhin in ihren Automobilen die ganze Welt besaßen, nicht aber sich selber? Du kannst die fernen Berge nicht haben, von denen du doch weißt, wie unbeseelt sie sind, seit der Mensch sie erobert hat? Du sehnst dich nach den Wolken und weißt doch, daß sie nicht mehr ferne, sehnsüchtig und schön sind, seit tausend Flugzeuge sie durchdonnern? Und doch hast du dich niemals gesehnt, den zu haben, der nie zu erobern sein wird, wie jene Berge und die Lüfte?
»Niemals zu erobern! – Es sei denn durch Leiden und Einkehr in die Welt deiner Seele«.
»Meister: wie willst du mir denn beweisen, daß Gott da ist? Daß es überhaupt eine Kraft gibt außer der ewig blinden, die mich da hingeschmettert hat!?«
»Sie hat dich vielleicht verstümmelt, um dich zu gewinnen. Denn du warst zu schön. Das ist Reichtum. Du weißt, aller Reichtum ist verdammt oder doch der Verdammnis am nächsten. Der einzige wolltest du sein und alles wolltest du haben. Nun aber sagt dir der, den du den Ewigblinden nennst: Nichts sollst du haben und alles sein. Von deinem Lehnstuhl aus kannst du es; nie vom Kraftwagen aus!«
»Es ist ohnehin alles eins«, rief O'Brien. »Zuletzt kommt der Tod, und er ist stärker als dein Gott.«
»Du weißt es selber, daß der Tod eines ganz sicher nicht ist: das, was wir das Nichts nennen. Und jetzt höre gut zu. Wäre das neu, was ich sage und verkünde, so wäre es zeitlich: Eitle und vergängliche Einfälle. Aber was ich dir sage, das hat jeder Einsame erkannt seit Jahrtausenden und früher. Plato und Silesius haben empfunden und gesagt, was ich euch verkündet habe, und den Hochmut habe ich nie gehabt, Neues aufzustellen! Zeitlos ist, was sie alle erfuhren, diese Aussterbenden, diese Kinder des Abends. Der Inder und Aristoteles und Eckhart und der aus Assissi und der Schuster Böhme, die alle; Blätter, die vom Baume des Lebens mußten, weil sie zu denken begannen. Eben darum aber, weil es unzeitlich ist und immer gleich war, was sie empfanden, darum ist es von Gott. Es ist der Beweis, daß ein Geist ewig durch dieses Leben und dennoch außerhalb seiner Trugbilder hindurchschwebt. Daß dieser Geist der deine ist, wenn du ihn willst. Du kannst dich gänzlich mit ihm erfüllen; du kannst es zeitweise tun, oder gar nicht. Er ist immer da und stets bereit für dich.
»Ist er nicht da, so ist er bloß dir nicht da. Darum darfst du ihn nicht leugnen.
»Es hat darüber einmal ein russischer Dichter das rechte Wort gesagt. Ein Pilger wird von einem nachdenklichen Vagabunden gefragt: ›Gibt es einen Gott?‹ Da sagt der Pilger: ›Wenn du an ihn glaubst, so gibt es ihn. Glaubst du an ihn nicht, so gibt es ihn nicht.‹ Nicht wahr, es klingt albern und foppend, geradezu einfältig; dies Wort! Wie jede Wahrheit. – Wahrheit ist so selbstverständlich, daß man sie euch Verbildeten immer durch Gleichnisse und Bilder schulgerecht machen muß. Darum habe ich gesagt: Gott ist ein Induktionsstrom der menschlichen Sehnsucht.
»Er ist mehr; er ist weniger. Wie du ihn willst, so ist er. Und er hat dir einen Fuß genommen, damit du ihm nicht davonliefest, du zerstreutes Kind.
»Dies Leben ist nicht gegeben, um den Ameisen nachzutun; fressen, um zu arbeiten und arbeiten, um zu fressen. Sondern das Bild der Ameisen ist uns gegeben zum Nachdenken und zur Warnung. Gott redet nur die Bildersprache und wahrlich: kurz ist das Leben, um diese zu lernen! Dies Leben ist uns gegeben, um die Sprache Gottes zu lernen und uns zu vertiefen in sein großes Bilderbuch! Du hast, O'Brien, immer nur das Bild ›Weib‹ sehen wollen und auch das nie begriffen. Abermals: ahnst du, warum dir ein Bein fehlt?
»Es ist sehr nebensächlich für Gott, ob du glaubest. Für dich aber nicht. Daß er dir geholfen hat, näher an ihn zu kommen, erfüllt mich mit Staunen. Es kann sein, daß er sich Menschen auswählt. Die Großen von ehedem haben es geglaubt.«
Diese Worte sagte Herr Rabesam langsam, nachdenklich und mit ungemein gewinnender Innigkeit, während seine hellen, blauen Augen bezwingend auf dem immer ruhiger werdenden Antlitze O'Briens ruhten, das sich durch die Arbeit des Nachdenkens und der beginnenden Rührung zu veredeln begann.
Der Abend war grau geworden, die bangste Zeit vorüber; eine milde und nicht heiße Nacht begann; immer noch lag O'Brien mit verwunderter Seele und dachte in einer seltsamen Zufriedenheit nach. Endlich fragte er wieder, aber nur mehr leise, wie ein Kind:
»Also ist Gott da?«
»Er ist immer da und nie. Nie für den, der sich nicht nach ihm sehnt.«
»Was lebt weiter an mir?«
»Das, was nicht du bist. Deine Liebe, deine Andacht, deine Demut, deine Aufopferung und deine Selbstvergessenheit. Mache dich gänzlich zu Geist, zu Güte und Hingabe, und du lebst ewig.«
»So ist dies Leben ein Irrtum Gottes?«
»Es ist ein Symbol Gottes. Seine Schule ist es. Noch einmal: Er redet die Bildersprache. Jedes Wesen ist eines seiner Worte.«
Und er erhob sich und ging. Er ließ einen lichten Schein über O'Briens Antlitz, und so befreit und erleuchtet war der verstümmelte Offizier, daß er kaum merkte, wie es Magelon war, die an sein Bett rückte, und wie selten schön das Mädchen war, das ihn pflegte.
Leise buchstabierte er sich Herrn Rabesams Worte.
Hinter seinem Bette stand immer noch John Hatchet und stenographierte, füllte aus und notierte. Er sagte kein Wort, klappte dann sein Notizbuch zu und ging, mit einem ungeheuer zufriedenen und freudigen Good bye, fort. Er ging zu Wigram und Kantilener, um jetzt auch die auszufragen. Es war ihm nicht recht, daß Herr Rabesam seine Jünger immer einzeln vornahm. So bekam er die Lehre immer schon etwas umgefärbt und vorbeiverstanden. Darum hatte er gebeten, heute mit ins Spital zu dürfen.
Aber eines konnte Hatchet nie stenographieren, und das war eben Herrn Rabesams Eigenstes. Er konnte den sanften, liebevollen Glanz der Augen des väterlichen Mannes nicht wiedergeben, noch den tief durchdringenden Ton seiner gläubigen und tröstenden Stimme. Es strömte Leben von ihm; jenes Leben, das mit Recht genannt wird das ewige.
Aber Herr Rabesam ging sehr müde nach Hause.
Er hatte durch den Steinwurf zu Graz viel Blut verloren und hatte niemand etwas gesagt, daß er verwundet worden war. Und er hatte durch den geschlossenen Haß dieser Welt und durch die Absage sämtlicher Jünger, die er selber ins Leben zurücksandte, viel Gram gehabt. Er wußte, wie sehr allein er stand. Dies Ringen, ganz allein, mit dem Mehrheitsstrome, flammt und höhlt den aus, der einsam gegen eine ganze Erde steht, die durchaus nur in den Tag hinein leben will. Er rang noch, der alte Mann; aber er war nahe am Niederbrechen.
Es war gut; unten wartete Kantilener auf ihn. Den bat er: »Führe mich, mein Kind.« Und Kantilener schob seinen Arm unter den des Mannes, den er immer mehr als Vater fühlte. Er stützte den Ermüdeten und leise fragte er, was ihm fehle.
»Wir wollen in den großen Garten gehen, bis wir das Wasser hören oder den Wind; da wollen wir zuhören. Denn das gibt mir immer wieder frische Kraft. Wenn Menschen Worte machen, wenn ich selber Worte suchen muß, die doch alle müßiger sind, als was ich empfinde, dann gehe ich und höre, was der Wind sagt. Othmar Kantilener, der sagt Berauschendes! Ewiges sagt er. Und wenn ich den Urlaut höre, dann werde ich selber wieder stark. Die Menschen machen mich schwach.
»Es gehört ein Mut dazu, Othmar, der das ganze Grauen des Todes bei lebendigem Leibe einflößt, dies Leben überwunden zu bekennen und zu sagen: Ich will nicht fortleben. Zum verächtlichen Krüppel für dies Leben erklärt sich, mein Kind, wer das sagt. Und wehe ihm, ist er des höheren Lebens nicht gänzlich gewiß! Diese Verlassenheit ist so schrecklich, daß selbst die Größten noch an Heimat, Stadt, Familie und Volk hingen; Provinzler des Erdballs waren selbst die Träger heiligster Namen; so schwer ist entbundenes Menschentum!
»Als Christus aufschrie: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen‹, da war es, weil den ganz einsam Gewordenen die letzte Mehrheitsströmung, die Liebe, verlassen hatte. Die ist noch lange nicht Gott. Aber sie ist das jeweilige Lächeln Gottes. Es ist furchtbar, allein zu sein. Geh du zurück, wo warme Augen leuchten, du Kind des schönen Mittelmaßes!«
Sie waren weit hinausgekommen, wo die Sterne über den Wiesen leuchteten und die Büsche in Nebelmilch standen. Da kam herrlich ein Wind daher, und die Baumkronen rauschten auf wie Harfen.
»Er ist da«, sagte Herr Lukas. »Geh jetzt zu den warmen Lichtern und laß mich allein, mein Kind.«
Zögernd, als verriete er den alten Herrn, ging Kantilener durch die verschlungenen Alleen zurück und atmete auf, als aus einem Gasthause Menschenstimmen kamen; – so vergnügt, als wäre gar nicht Krieg und namenloses Wehe.
Und er ging zu diesen Menschen und setzte sich in ihre Nähe, froh, aus der beklemmend gewordenen Nähe des Greises entronnen zu sein.
In diesem Augenblick krähte irgendwo, trotz der Nacht ein Hahn.
Kantilener erschrak. Auch er hatte seinen Meister verlassen. Und ihm schauerte ob Herrn Rabesams ungeheurer Einsamkeit.