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Eines Tages wollte sich Wigram erheben; da ging durch seine Gelenke der reißende Schmerz, den er lange schon verbissen, unerträglicher als je. Er konnte nicht von der Stelle, und als er Kantilener wiedersah, da war es im Spitale, in das man den starken Mann getragen, der seine Pflicht bis zum Zusammenbrechen getan hatte.
Beinahe den ganzen Herbst und den Winter hindurch pflegte Kantilener den zusammengebrochenen Freund. Als dieser mit verkrümmten Gliedern aus seinem Siechtum erstand und zum ersten Male ins Freie zu humpeln vermochte, begleitete ihn Kantilener sorglich. Wigram lenkte in den föhnwarmen Spitalsgarten ein, von dem man über die alte Bastei nach dem Stadtparke sah. Jener Winter auf Sechzehn war wie ein Frühling und stimmte viele Schmerzen milder durch seine viele Sonne.
In einem Lehnstuhl ließ sich Wigram nieder, und Kantilener legte dem alten Freunde, der ganz grau geworden war, eine dicke Wolldecke um Hüften und Beine.
»Ich werde wohl gänzlich untauglich gesprochen werden,« begann Wigram.
Kantilener seufzte. »Hast du immer noch nicht genug?«
»Ach,« sagte Wigram, »ich glaube, das Meine getan zu haben und freue mich auf den Rest Freiheit, den das Leben noch für mich hat. Ich werde nach München zu Herrn Rabesam gehen.«
»Glücklicher,« sagte Kantilener.
»Hast du kein Wort der Verwunderung?« fragte Wigram.
»Warum?« gab Kantilener erstaunt zurück.
»Alter Freund! Willst du mich belügen? Hast du nicht gesehen, daß der Wigram von einst gänzlich zerbrochen ist? Der Wigram, der auf Frau Elsens Frage ›was ist Wahrheit?‹ ganz fest und ruhig sagen konnte: ›meine Wahrheit‹? Der Wigram, der der Welt zwei eisenfeste Bücher hinhielt und sich sagte: ›nach innen hin kein Gesetz als das eigene‹? Und jetzt hab ich mich ganz verloren, und dem Staate habe ich gedient, ohne zu denken, und mich selber ausgestrichen: viel zu gern und leicht, Kantilener!«
»Es haben sich mehr Anarchistenherzen gebeugt in diesen Tagen,« sagte Kantilener lächelnd. »Das macht dich doch nicht kleiner; dein Opfer!?«
»Das Opfer des Lebens und der Gesundheit nicht,« sagte Wigram düster. »Wohl aber das der persönlichen Überzeugung. Ich habe mein Herz den großen Majoritätsströmen gebeugt, wie ein widerstandsloser Herdenschwächling; und die Erkenntnis davon hat mich zerbrochen.« Wigram grub sein Antlitz in die von der Krankheit knotig gewordenen Hände und schwieg lange Zeit; sein Körper bebte.
Kantilener ließ ihn mit sich ins reine kommen. Dann sah Wigram wieder auf und sagte: »Der Westen und der Süden Deutschlands sind sein Athen; der Osten ist Sparta. Daß die beiden verbündet sind und miteinander leiden und sterben, während doch Wasser und Öl sich nicht fremder sind, das ist das Ungelöste, das an mir frißt. O Freund, und wie es frißt!
»Wir Österreicher sind berufen, die deutsche Seele zu erlösen; denn wir allein haben etwas vom Blute des Orients in den Adern, ohne das kein beruhendes Mittelmaß sein kann; kein besonnenes Stehenbleiben mit den Worten: ›So! Bis hierher hastete ich; nun will ich leben.‹ Verstehst du das? Leicht gibt sich auf, wer zur Ziffer erzogen wurde. Aber wer nach der Weisheit alter Tage des Orientes sein einsames Menschentum gewann und es dann aufgeben soll, der zerbricht; – der zerbricht!«
Großes Leid drang aus dem Tone dieses Rufes.
Kantilener sagte: »Was willst du jetzt tun?«
»Nach Kanossa gehn,« erwiderte Wigram bitter. »Er hat das Wort gewußt, das ich vergessen und verleugnet habe, er; Rabesam. Weißt du, was er mir antwortete? ›Gib dem Staat, was des Staates ist: Arbeit und Leben. Aber nie gib ihm und dem trüglichen Tage, was Gottes ist, dein einsam Menschentum! Ganze Völker sterben. Und sie dürfen und sollen es auch. Aber die tiefe, suchende, einsame Menschenseele, die in Gott aufblüht, die darf nicht sterben!‹ Das hat erst er mir sagen müssen! Hunderte von denen, die man die Besten nannte, haben dies ihr einsam Menschentum und ihre Überzeugung dahingegeben wie ich! Sie nennen es schön. Ich aber sage dir, Freund: wie wenig Männer mehr gibt es doch, in denen unveränderlich der Gott steht! ›Wer wesentlich geworden ist, den kann nichts mehr ändern,‹ sagte der Alte. Wer von uns allen ist denn wesentlich geblieben? Mit der Majorität hab ich mitgeschrien. Darum muß ich mich jetzt beugen vor dem alten Herrn und ihm fortan folgen, als der demütigste seiner Schüler; ich, der ich mich Meister glaubte. Denn Er allein ist Er selber geblieben.«
»Ich beneide dich,« sagte Kantilener. »Du wirst den Frühling in der Weltstadt sehen, in der einzigen, wirklichen deutschen Weltstadt. Du wirst im milden Spruche Rabesams deine Seele erheben und heilen. Ich muß in wenigen Wochen fort in die Berge; dort erhalte ich eine Ambulanz und dort werde ich zehnmal soviel Menschen sterben sehen müssen, als hier, wohin doch nur die Starken gelangen, die eine Bahnfahrt aushielten. Du kannst zu dir selber; ich bin nur Instrument mehr.«
Und während Wigram mit dem langsamen Aufatmen des seelisch Genesenden dem gelobten München zufuhr, stand Kantilener an seiner Station zur tiefsten Not. Das war in den Bergen Südtirols.
Ein kleines, kahles Haus war ihm zugewiesen worden, an dem immer wieder die Granaten rissen. Dort verband Kantilener Sterbende. Er war in eine Art Bewußtlosigkeit eingehüllt; wie im Traume tat er es. Denn die ewige Nähe des Todes, die kreisenden Flieger mit ihren erbarmungslosen Bombenwürfen und die immer wieder einschlagenden Granaten, die einen Rückzug aus dem Häuschen für heute völlig sperrten, das Brechen, Splittern und Heulen hatten den Arzt in jene stumpfe Gleichgültigkeit versenkt, die, wohltätig genug, den Menschen zur fühllosen Maschine wandelt. Er verband, tröstete, operierte, alles vollkommen automatisch. Wenn ein Verwundeter besonders gellend aufschrie, dann zerriß einen Augenblick der Schleier der Gleichgültigkeit, und Kantilener zuckte zusammen. Dann biß er die Zähne aufeinander und arbeitete weiter, blutig wie ein Schlächter und mit aufgekrempelten Ärmeln.
Platzende Granaten interessierten ihn gar nicht mehr. Ein höherer Offizier kam vorüber, abends einmal: »Bravo, Herr Oberarzt! Das bringt Ihnen den Franz Josefs-Orden.« Kantilener hörte es kaum.
Nur einmal stutzte er. Mitten in der Reihe der Dahingerissenen kam er an ein blasses Gesicht, das ihn an etwas erinnerte, was jetzt Nebensache war. Etwas von einsther. Der junge Verwundete trug die goldene Tapferkeitsmedaille und daneben das Verdienstkreuz der Offiziere. Er war also Freiwilliger gewesen und dann vorgerückt. Einer von den zahllosen Helden dieser Tage. Und so schön, so schlank. – Und eine entsetzliche Wunde …
Kantilener ließ, so wenig Zeit er hatte, dem jungen Offizier das blasse Antlitz reinigen. Da kam Bewußtsein über sein dumpfes Hirn. Er hielt in der Hast dieses geschäftsmäßigen Verbindens und Schneidens und Sägens inne. »Karminell,« sagte er erschrocken.
Mit unsäglicher Sorgfalt behandelte er den Schwerverwundeten und mit Überwindung mußte er dabei das nervös werdende Rütteln und Zittern seiner Hände bändigen. Überall entströmte hier das junge Leben. Da war nichts mehr zu halten. Und er versuchte es dennoch. Es mußte.
Den besten Platz an leidlich geschützter Stelle wies Kantilener dem Ohnmächtigen an, dann ging das stumpfe Hilfshandwerk weiter. Und die Granaten johlten und splitterten.
In der Nacht erwachte der junge Mann und hatte große Augen. Forschend wanderten sie das steinkahle Zimmer ab und wurden immer besonnener und klarer. Kantilener kam zu ihm und brachte ihm zu trinken. Mit staunenden Augen maß ihn der Verwundete.
»So treffen wir uns wieder, ja!« sagte Kantilener, um nur etwas zu sagen. Dann fragte er: »Wie gehts?«
»Gut,« sagte der junge Karminell. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, wendete sich aber wieder ab und schien zu schlafen.
In der Nacht begann der Todeskampf; bald rang der arme junge Mensch mit Delirien, bald wurde ihm wieder alles klar. Kantilener hielt ihn in den Armen.
Jedesmal, wenn er zum Bewußtsein kam, sah der Sterbende den Arzt mit eigentümlichen Augen an, sagte aber nichts. Er schien mit sich zu ringen.
Einmal setzte er wie zu etwas Großem an; dann besann er sich, lächelte schwach und fragte: »Wozu war dies alles?«
Kantilener sagte: »Wollen Sie einen Priester?«
»Der kanns mir nicht sagen. Aber den alten Herrn Rabesam möchte ich fragen.«
»Was wollten Sie ihn denn fragen?«
»Warum Gott, wenn er da ist, uns dies alles antut und schweigt.«
»Herr Rabesam leugnet, daß Gott schweige.«
Der arme junge Mensch fiel in Schlaf, ohne daß Kantilener ihm Rabesams Trost geben konnte; einen Trost, der jetzt wohl auch zu anstrengend gewesen wäre. Todmüde saß er am Bette des Fiebernden und nickte zuletzt selber ein.
Gegen Morgen wurde er durch einen erstickten Ruf des jungen Offiziers geweckt. Er sah eine unsägliche, tierisch hilflose Angst in den entsetzten Augen und griff nach dem Ballon Sauerstoff, nach Kampfer, nach den geizig versteckten und aufgesparten Mitteln für höchste Bedrängnis und Qual.
»Wo fehlts?« fragte er hastig und suchte den Puls zu ergründen. »Haben Sie keine Luft?«
»Vater!«, rief der junge Mensch. »Vater! Hilf mir!«
Kantilener warf einen irren Blick in die aufgerissenen Augen, die an ihm so bittend hingen. Dieses Bewußtsein war doch nicht getrübt!
»Was Ihr Vater vermöchte, will ich alles tun,« sagte er herzlich.
»Aber Du, Du bist ja mein Vater,« schrie der gequälte Junge heraus. »Du hast es mit meiner Mutter gehabt und lässest mich jetzt so, so –! – Hilf mir oder nimm mir dieses Leben; du gabst es. Ja, Du!«
Da kletterte eine so hurtige, eine so entsetzliche Angst in der Seele Kantileners empor, daß die Todesnot des Jungen stumpf sein mußte gegen ihr zersägendes Weh. Alles verstand er auf einmal. Die plötzliche, eisige Ruhe des jungen Menschen ihm gegenüber, die versteckten Fragen der neugierigen Magelon und das vorsichtigere Ausforschen O'Briens. Der hier starb, war sein eigen Fleisch und Blut aus der einzigen Liebe seines Lebens.
Und während er alles versuchte, was die arme Kunst, die er gelernt, bieten konnte, wand sich sein großes, schönes Kind erstickend in seinen Armen, rang, erhob sich, sank dahin, versank in Bewußtlosigkeit, schrie wieder auf …
»Herr Oberarzt!«
Kantilener mußte fort, mußte anderswo helfen, schnell!
Und als er nach einer Viertelstunde zurückkam, war sein herrlicher Junge, ganz ohne ihn, und ohne daß jemand sein letztes Wort gehört hätte, dahingeschieden …