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(Das folgende wurde im Mai des Jahres dreizehnhundertsechzig in Form eines Testamentes niedergeschrieben)
Mein teurer und vielgeliebter Sohn! Wenn du dereinst dieses lesen wirst, so werde ich, dein Vater, nicht mehr unter den Lebenden weilen. Bete alsdann für meine Seele und bedenke, daß ich dieses mein Testament für dich niedergeschrieben habe zu einer Zeit, wo mein Gemüt und mein Geist noch unter dem frischen Eindruck der ungeheuern menschlichen Ungerechtigkeit stand, wovon hier die Rede ist und woraus du dir eine Lehre und ein Beispiel nehmen mögest, wie du weise und in Ruhe und Sicherheit mit den Deinigen leben kannst.
In meinen Jünglingsjahren hatte ich den Ehrgeiz, mich dem geistlichen Stand widmen zu wollen, um mich darin zu den höchsten Würden aufzuschwingen, denn kein andrer Beruf dünkte mich so ehrenvoll wie dieser. Zu diesem Zweck und Ende lernte ich lesen und schreiben und gelangte darauf mit viel Mühe und Fleiß dahin, mich in die geistliche Zunft aufnehmen zu lassen. Aber da ich keine hohen Beschützer hatte, auch sonst mir keinen Rat wußte, wie ich zu meinem Ziel gelangen könnte, faßte ich den Entschluß, mich dem geistlichen Kapitel von St-Martin als Schreiber, Rubrikator und Registrator anzubieten. Da nämlich dieses Kapitel die angesehensten und reichsten Persönlichkeiten der Christenheit zu Mitgliedern zählt und sogar der König von Frankreich ihm als einfacher Chorherr angehört, hoffte ich, mit der Zeit in einem dieser hohen Herren infolge geleisteter Dienste einen Protektor zu finden, durch dessen Macht und Einfluß es mir gelingen könnte, in den höheren geistlichen Stand aufzurücken, mit der Mitra gekrönt zu werden so gut wie irgendein anderer und in einem, ich weiß nicht mehr wo, gerade vakant gewordenen Erzbistum Unterschlupf zu finden.
Aber ich hatte mir mein Ziel zu hoch gesteckt, und meine ehrgeizigen Pläne wurden mir bald genug durch Gott und die Ereignisse in ihrer Eitelkeit offenbar. An meiner Statt wurde Herr Jehan de Villedomer, der inzwischen Kardinal geworden ist, erwählt, und ich wurde zurückgesetzt. Als Pflaster auf die Wunde bekam ich durch die Güte des vortrefflichen Herrn Hieronymus Cornill, geistlichen Ober-Strafrichters von St-Maurice, die Stelle eines Protokollisten des erzbischöflichen Kapitels von Tours, welchem Amt ich mit Ehren vorstund, denn ich wußte die Feder mit großem Geschick zu führen und war dafür bekannt.
In demselben Jahre, wo ich mein Amt antrat, begann der große Hexenprozeß der Rue Chaude, von dem heute noch die alten Leute ihren Kindern und Enkeln erzählen, so wie damals in ganz Frankreich von nichts anderm gesprochen wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde ich von meinem guten Meister aufgefordert und angestellt, die Akten des Prozesses zu führen und alle Protokolle und Schreibereien dabei zu übernehmen, weil er der Meinung war, daß ich für diese Unterstützung, die ich dem Kapitel durch meine Schreiberdienste leistete, auf irgendeine höhere Würde für meine Person rechnen und meinen Ehrgeiz hierdurch befriedigen könne.
Nämlich der genannte hochwürdige Herr Hieronymus Cornill, damals sich den Achtzigern nähernd und ein Mann von großem Verstand, Gerechtigkeitssinn und Wohlwollen, witterte von Anfang an in dieser Sache viel Böswilligkeit. Trotzdem er keinerlei Vorliebe für die Weiber hegte, die ihren Leib zur Lust hingeben, und in seinem Leben nur mit heiligen und hochehrbaren Frauen verkehrt hatte (welcher großen Keuschheit er seine Wahl zum obersten geistlichen Richter verdankte), hatte er trotz aller Zeugenaussagen und der eigenen Geständnisse jener Angeklagten allmählich die sichere Überzeugung gewonnen, daß dieses arme Wesen zwar die Grenzen ihres Handwerks überschritten habe, aber von dem Verdachte der Hexerei ganz freizusprechen sei; daß ihr großer Reichtum ihren Feinden und andern Leuten, die ich dir hier vorsichtshalber nicht näher bezeichnen will, in die Nase gestochen (man sprach davon, daß sie damit die ganze Grafschaft von Touraine hätte kaufen können) und daß der Neid ihrer Mitschwestern, der ehrbaren Frauen von Tours, über das arme Ding tausend Lügen und Verleumdungen ausgesprengt, die wie ein Lauffeuer sich verbreiteten und auf die geschworen wurde wie auf das Evangelium.
Indem genannter Herr Hieronymus Cornill also nicht zweifelte, daß dieses Mädchen von keinem andern Teufel als dem Liebesteufel besessen war, hatte er sie im geheimen aufgefordert, sich gegen ihre Kläger auf das Gottesurteil zu berufen, da er mit Sicherheit voraussetzte, wie es ihm auch von den betreffenden in Aussicht gestellt worden, daß mehrere tapfere, angesehene und sehr reiche Edelleute Gut und Blut daran wagen würden, sie zu erretten. Hiernach sollte sie sich für den Rest ihrer Tage in ein Kloster zurückziehen, nachdem sie vorher, um den bösen Zungen das Maul zu stopfen, all ihr Gut dem Kapitel von St-Martin vermacht habe. Auf diese Weise sollte die süßeste Menschenblume, die je auf dieser Erde erblüht war, daß sie selbst ihre Verfolger verzauberte, und die allein aus allzu großer Schwäche und aus Mitleid gegen die Liebesschmerzen ihrer Verehrer gesündigt hatte, vorm Holzstoß bewahrt bleiben und an Leib und Seele gerettet werden.
Aber jetzt mischte sich der leibhaftige Teufel in der Gestalt eines Mönchs in diese Angelegenheit. Dieser, mit Namen Jan van dem Haag, hatte erfahren, daß das arme Weib in seinem Gefängnis mit der Ehrfurcht einer Königin behandelt wurde, und da er längst darauf ausging, die Tugend, Keuschheit und Ehrenhaftigkeit des Herrn Hieronymus Cornill aus böser Feindschaft zu verdächtigen, erhob er gegen den geistlichen Richter den öffentlichen Vorwurf, die Angeklagte zu begünstigen, weil er selber in ihre Netze und Fallstricke geraten und durch ihre Zauberkünste innerlich zum Jüngling und glücklichen Liebhaber umgeschaffen worden. Auf diese boshafte Verleumdung hin starb der edle Greis aus Kummer in Zeit von vierundzwanzig Stunden nicht ohne das Bewußtsein, daß Jan van dem Haag seinen Untergang geschworen hatte, um seines Amts und seiner Würden teilhaftig zu werden. Wirklich besuchte unser gnädiger Herr Erzbischof die Mohrin in ihrem Gefängnis und fand dieselbe ohne Ketten in einem anständigen Raum mit gutem Lager. Denn es war ihr gelungen, mit Hilfe eines Diamanten, den sie an einem Orte aufbewahrt hatte, wo ihn niemand vermutet und männiglich sich gewundert, wie er da habe festhalten können, die Gunst des Gefangenwärters zu erkaufen. Nach dem Reden der Leute soll dieser Kerkermeister sogar, entweder aus Liebe zu seiner Gefangenen oder aus Furcht vor den edlen Herren, deren Liebhabern, im geheimen ihre Flucht vorbereitet haben. Da nun der gute Hieronymus Cornill am Sterben lag, wußte Jan van dem Haag dem Kapitel einzureden, daß alle richterlichen Akte und Urteile des Oberrichters für null und nichtig zu erklären seien. Dazu sei erforderlich, so demonstrierte Jan van dem Haag, damals noch ein simpler Vikar an der Kathedrale, daß der Sterbende eine öffentliche Beichte ablege auf seinem Totenbett.
Wurde also der gute Herr Hieronymus Cornill auf Betreiben des Jan van dem Haag durch die Herren vom Kapitel zu St-Martin und zu St-Marmoustiers, durch den Herrn Erzbischof und den päpstlichen Legaten, weil es der Vorteil der Kirche erheische, so lange gemartert und gequält, bis er nach langem Widerstreben mürbe wurde und sich zu der verlangten öffentlichen Selbstanklage herbeiließ, der die angesehensten Leute der Stadt beiwohnten und die eine unbeschreibliche Bestürzung und Aufregung in der Stadt hervorrief. In allen Kirchen der Diözese wurden öffentliche Gebete und Bußandachten abgehalten, um diese Schmach und Schande abzuwaschen. Ein jeder glaubte schon den Teufel bei sich durch den Kamin einreiten zu sehen.
Aber das Wahre an der Sache ist, daß mein guter Herr Hieronymus in wilden Fieberphantasien lag und auf diese Weise das falsche Geständnis von ihm erpreßt wurde. Nachdem der Fieberanfall vorüber war und der heilige Mann von mir den üblen Handel erfuhr, vergoß er bittere Tränen. Er starb in meinen Armen in Gegenwart seines Arztes, ganz in Verzweiflung über diesen teuflischen Mummenschanz, und seine letzten Worte lauteten, daß er sich vor dem Throne des Ewigen niederwerfen und Gott anflehen wolle, eine solche unerhörte Ungerechtigkeit nicht geschehen zu lassen. Die arme Mohrin hatte sein Herz durch ihre Tränen und durch ihre Reue sehr gerührt; in ihrer Beichte, die sie ihm vor ihrer Berufung auf ein Gottesurteil abgelegt, hatte sie ihre himmlisch reine Seele, die ihren Körper bewohnte, ganz vor ihm entblößt, und er sprach von dieser Seele als einem Diamanten, der würdig sei, nach beendigter zeitlicher Buße im Jenseits die Krone Gottes zu schmücken.
Als ich nun, mein lieber Sohn, durch das Gerede der Leute und die Aussagen des Sterbenden eingeweiht in das verruchte Treiben, sah, wie die Sachen standen, schützte ich auf Anraten des François de Hangest, des oft genannten Meisters Medicus unsers Kapitels, eine Krankheit vor und verließ den Dienst an der Kathedrale von St.-Maurice, um nicht meine Hand in unschuldiges Blut tauchen zu müssen, das zum Himmel schreien wird bis an den Jüngsten Tag.
Damals wurde der genannte Kerkermeister abgesetzt, und der zweite Sohn des Folterknechts kam an seine Stelle. Dieser warf die Mohrin in einen finstern Kerker, beschwerte ihr in unmenschlicher Weise Hände und Füße mit fünfzig Pfund schweren Ketten und legte ihr einen hölzernen Gürtel um die Hüften. Das Gefängnis wurde von den Armbrustschützen der Stadt Tours und den Waffenknechten des Erzbischofs bewacht. Die Arme wurde gefoltert, und mit zerbrochenen Gliedmaßen, vom Schmerz überwältigt, sagte sie alles aus, was Herr Jan van dem Haag von ihr zu hören wünschte. Sie wurde verurteilt, unter dem Portal der Kirche, mit einem Hemd vom Schweltuch bekleidet, drei Tage öffentlich am Pranger zu stehen und hierauf am Hügel von Saint-Étienne auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden.
Ihre ganze Habe sollte dem Kapitel anheimfallen et cetera.
Dieser Urteilsspruch verursachte großen Aufruhr und Kriegslärm in der Stadt. Drei junge Ritter von Touraine schwuren, im Dienste des armen Weibs zu sterben und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Befreiung zu erlangen. Sie kamen in die Stadt mit einer großen Schar von Kriegsleuten, begleitet von Tausenden alter Soldaten, Handwerkern, Kranken und Leidenden, die die besagte Mohrin vom Tode, vom Hunger errettet, die sie gepflegt, gekleidet, getröstet, denen sie in jeder Art Mißgeschick beigestanden. Immer größer wurde deren Anzahl, aus allen Winkeln der Stadt kamen sie hervor, denen die Mohrin sich einst hilfreich erwiesen, und unter der Führung der genannten Edelleute und ihrer Krieger versammelten sie sich eines Morgens und zogen, vermehrt durch eine große Menge Gesindels, das auf zwanzig Meilen im Umkreis zusammengelaufen war, auf die Höhe des heiligen Ludwig, von wo sie sich gegen das erzbischöfliche Gefängnis in Bewegung setzten und zu dessen Belagerung schritten. Stürmisch verlangten sie die Auslieferung der Mohrin, scheinbar, um sie zu töten, in Wahrheit aber, um sie zu befreien und sie auf einem bereitgehaltenen Renner das Weite gewinnen zu lassen; denn sie wußten, daß die besagte Mohrin reite wie ein Stallmeister.
In diesem furchtbaren Aufstand wälzten sich mehr als zehntausend Menschen brüllend und johlend von der Brücke her gegen die Wälle und Gräben des erzbischöflichen Palastes, außer denen, die weithin auf Dächer und Zinnen geklettert waren, um den Spektakel mit anzusehen. Bis hinüber ans andere Ufer der Loire, bei St. Symphorion, konnte man das schreckliche Geschrei der Menge hören, von denen die einen in gutem Glauben den Tod der Hexe verlangten, die andern das Gefängnis stürmen wollten, um die Arme entkommen zu lassen. Das Gestoß und Gedränge war so fürchterlich in diesem wütenden und von dem zu vergießenden Blut der armen Mohrin bis zur Raserei aufgepeitschten Volkshaufen (die, wenn sie das Glück gehabt hätten, das wundersame Weib zu sehen, alle zu ihren Knien gesunken wären), daß sieben Kinder, elf Frauen und acht Bürger zerdrückt, unter die Füße getreten und wie zu Brei zerstampft wurden. Ganz entsetzlich waren die Schreie dieses schrecklichen Ungeheuers, dieses Leviathans, den man Volk nennt, dessen brüllende Stimme bis auf die Dörfer hinaus gehört wurde: »Heraus mit der Hexe!« schrie es, »liefert sie uns aus! – Reißt sie in Stücke! – Hierher! – Ich will ein Viertel von ihr! – Ich will ihr Haar! – Mir einen Fuß von ihr! – Mir den Kopf! – Mir ihr Ding! Ist es rot? – Darf man es sehen? Wird es gebraten werden? – Zum Tod mir ihr! – Zum Tod!« – Jeder sagte sein Sprüchlein. Aber der Ruf: »Gerechtigkeit Gottes! In den Tod mit dem Sukkubus!« wurde so einstimmig und in so wilder Raserei von der tobenden Menge herausgeschrien, daß einem das Herz hätte bluten können vor Erbarmen und daß vereinzelte Rufe um Gnade völlig erstickt wurden. Um diesen furchtbaren Sturm, der alles niederzufegen drohte, zu besänftigen, hatte der Erzbischof den Einfall, in großer und feierlicher Prozession das Allerheiligste durch die Straßen zu tragen. Damit rettete er das Kapitel vor seinem Untergang. Denn das fahrende Volk wie auch die Junker hatten geschworen, alles zu zerstören, das Kloster niederzubrennen und die Chorherren zu erwürgen. Vor dem Venerabile aber wich die Menge zurück, die Anstauung der Masse löste sich auf, die meisten trieb der Hunger nach Hause.
In der Nacht darauf aber hielten die Klöster, Bürger und adligen Geschlechter, die eine wilde Plünderung für den andern Tag befürchteten, eine Versammlung ab und erklärten ihre Zustimmung zu den Beschlüssen des Kapitels. Zugleich wurde mit Stadtsoldaten, Bogenschützen, Rittern und Bürgern eine improvisierte Stadtmiliz zusammengebracht und alles niedergestochen und niedergeschlagen, was sich an Straßenräubern, Buschkleppern, Landstreichern und Vagabunden, von dem Gerücht des Aufruhrs angelockt, in der Stadt zusammengezogen und die Masse der Mißvergnügten vermehrt hatte.
Der edle Herr Harduin von Mayen, ein ehrwürdiger Greis, nahm sich die losen Junker ad coram, die die Mohrin unter ihren Schutz genommen, und stellte ihnen mit ruhigen Worten vor, ob sie denn um der schönen Augen einer Frau willen ganz Touraine mit Feuer und Schwert verheeren wollten? Ob sie sich denn getrauten, wenn sie wirklich zu ihrem Ziele gelangten, des räudigen Gesindels wieder Herr zu werden, das sie herbeigerufen hätten, und nicht vielmehr befürchteten, daß der unbotmäßige wilde Haufe, nachdem er die Schlösser ihrer Feinde zerstört, sich an die ihrer Rädelsführer machen würde? Überdies gab er ihnen zu bedenken, daß sie wenig Hoffnung hätten, sich der Kirchenregenten von Tours zu bemächtigen, da nun der erste Ansturm niedergeschlagen, die Stadt gesäubert und genügend Zeit gewonnen sei, die Hilfe des Königs anzurufen.
Auf solche und tausend ähnliche Reden der Weisheit antworteten die Junker, daß es dem Kapitel ja ein leichtes wäre, das schöne Weib bei Nacht heimlich entkommen zu lassen, womit dem Aufruhr aller Grund und Vorwand genommen sei. Der päpstliche Legat aber, jener obengenannte De Censoris, widerstrebte solchen humanen Vorschlägen, er erklärte, daß die Kirche in Sachen der Religion nicht um ein Haarbreit nachgeben dürfe, und also mußte das beklagenswerte Frauenzimmer für alle bezahlen, denn es wurde beschlossen, daß keine Untersuchung wegen des Aufruhrs eingeleitet werden sollte.
Nun hatte das erzbischöfliche Kapitel freie Hand und konnte die Hinrichtung des armen Weibs zum Vollzug bringen. Auf zwölf Meilen im Umkreis erschienen die Menschen zu dieser Zeremonie, und an dem Tage, wo die Hexe, nachdem der göttlichen Gerechtigkeit genuggetan, der Gewalt des weltlichen Richters überliefert werden sollte, um auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt zu werden, würde niemand mehr eine Wohnung in der Stadt Tours gefunden haben, und wenn er auch einen ganzen Goldgulden dafür geboten hätte, wenn er sogar ein mächtiger Abt gewesen wäre. Schon die Nacht vorher schlief eine große Menge auf freiem Feld, unter Zeltdächern und Strohhütten. Die Lebensmittel reichten bei weitem nicht hin, und viele, die mit vollem Magen gekommen waren, kehrten mit leerem zurück und hatten doch nichts gesehen als den Schein des Feuers aus der Ferne. Den meisten Gewinn aber von der ganzen Sache hatten wieder die Wegelagerer und Schnapphähne längs der Heerstraße. Das unglückselige Weib war quasi tot. Ihre Haare waren gebleicht, sie war nur noch Haut und Knochen, und ihre Ketten wogen schwerer als sie selber. Wenn sie überreichlich die Lust der Welt genossen hatte in ihrem Leben, an diesem Tage mußte sie sie teuer bezahlen.
Diejenigen, die sie sahen, als sie vorübergeführt wurde, erzählten, wie so herzzerreißend sie weinte und jammerte, daß sie ihren erbittertsten Feinden hätte Mitleid einflößen müssen. In der Kirche mußte man ihr einen Knebel in den Mund stecken, den sie zerbiß wie einen Strohhalm. Dann band sie der Henker an einen Pfahl, da sie sich nicht aufrecht halten konnte und alle Augenblicke aus übergroßer Schwäche zur Erde fiel. Plötzlich aber erhielt ihr Peiniger einen Faustschlag ins Gesicht. Das arme schwache Weib hatte, so erzählte man sich, die Stricke, mit denen sie gebunden war, wie morschen Zunder zerrissen und von sich abgeschüttelt. Ehe man sich's versah, war sie entschlüpft. In Erinnerung an ihr früheres Handwerk war sie mit unglaublicher Geschicklichkeit an den Säulen und Steinbildern der Kathedrale bis zu den obersten Galerien emporgeklettert und an den zackigen Kapitellen und Friesen wie ein Vogel hingehuscht. Schon war sie auf dem Dache angelangt, als ein Soldat ihr einen Pfeil nachsandte, der ihr den Fußknöchel zertrümmerte. Aber trotz unsäglicher Schmerzen lief das arme Weib wie besessen, mit blutenden Wunden und zerschmettertem Fuß noch immer das Dach entlang, so entsetzlich war ihre Angst vor den Flammen des Holzstoßes. Sie wurde schließlich ergriffen, gebunden, auf einen Karren geworfen und zum Richtplatz geführt, ohne daß noch ein Laut aus ihrem Munde gekommen wäre.
Ihre unbegreifliche und fast wunderbare Flucht aus der Kirche aber trug nur noch mehr zu dem Teufelsglauben des Volks bei, und viele sagten, sie sei in Wahrheit durch die Lüfte davongeflogen und habe nur einen elenden Leichnam an ihrer Stelle zurückgelassen.
Als der städtische Henker sein Opfer in die Flammen warf, machte sie noch zwei oder drei verzweifelte Sprünge, dann brach sie über den lodernden Scheiten zusammen, die noch Tag und Nacht weiterbrannten. Am nächsten Abend ging ich hin, um zu sehen, ob von dem schönen, süßen Weibe noch etwas übriggeblieben war, aber ich fand nichts als ein paar Knochen von ihr, und ihr Schambein, das sich trotz des Feuers noch feucht anfühlte und zu zittern schien. Ich kann dir nicht sagen, mein Sohn, denn es ist in Worten nicht auszudrücken, was für eine finstre und dumpfe Traurigkeit während ganzer zehn Jahre auf meiner Seele lastete. Immer stand vor meinen Augen dieser Engel, den die verruchten Menschen also geschunden und zugerichtet hatten, immer sah ich voll Schmerz und Liebe ihre schönen Augen auf mich gerichtet: kurz, die übernatürliche Schönheit dieses liebreizenden Wesens umgaukelte mich als eine holdselige Erscheinung bei Tag und bei Nacht, und oft lag ich stundenlang in der Kirche, wo sie gemartert worden ist, und betete für ihre Seele. Nie konnte ich ohne Zittern und Beben den Großmeister und Ober-Strafrichter Jan van dem Haag ansehen, der später bei lebendigem Leibe von Würmern gefressen wurde. Der Aussatz hat diesen Richter gerichtet. Außerdem verzehrte eine Feuersbrunst sein Haus; seine eigne Frau und alle, die Hand an den Holzstoß der Mohrin gelegt, starben in den Flammen.
Dieses, mein vielgeliebter Sohn, hat mich nachdenklich gemacht, und ich habe meine Gedanken niedergeschrieben, damit sie für alle Zeiten in unsrer Familie als Regel und Richtschnur des Lebens dienten.
Ich verließ den Dienst der Kirche und heiratete deine nachmalige Mutter, die mich unaussprechlich glücklich machte und mit der ich alles teilte, mein Leben, mein Gut, meinen Leib und meine Seele. Sie stimmte auch vollkommen mit mir überein in den folgenden Lehren und Regeln der Weisheit. Diese aber sind:
Um glücklich zu leben, ist es vor allem nötig, daß man nichts zu schaffen habe mit den Mitgliedern der Geistlichkeit. Erweise ihnen alle schuldige Ehrfurcht, aber laß sie nie dein Haus betreten, sowenig wie alle diejenigen, die aus irgendeinem Grund, gerechtem oder ungerechtem, deine Vorgesetzten oder an Stand höher sind als du.
Als zweites merke dir und mache dir zur unverbrüchlichen Regel, einen bescheidenen Stand zu wählen, darin zu verharren und allen Schein des Reichtums und der Wohlhabenheit zu vermeiden, um keines Menschen Neid herauszufordern. Hüte dich, irgendeinem Menschen zu nahe zu treten; denn man muß eine Eiche sein an Kraft und Stärke, die alle geringeren Pflanzen zu ihren Füßen tötet, um nicht das Opfer des Neids zu werden, den man erregt, und dann noch müßte man unterliegen, denn menschliche Eichen sind ein gar seltenes Gewächs, und kein Tournebouche soll sich jemals schmeicheln, eine Eiche zu sein, schon aus dem einfachen Grund, weil er ein Tournebouche, id est ein Schlinggewächs ist.
Zum dritten merke dir: niemals mehr als ein Viertel deines Einkommens auszugeben, den Stand deines Vermögens zu verschweigen, deine Pläne und Absichten nicht an die große Glocke zu hängen und niemals Amt und Würden anzunehmen. Mache es dir zur Gewohnheit, in die Kirche zu gehen wie die andern und deine Gedanken für dich zu behalten, da sie ansonst nicht mehr dir, sondern den andern gehören, die Verleumdungen daraus spinnen und sich einen Mantel daraus machen, den sie nach dem Winde drehen.
Viertens laß dir gesagt sein, im Gewerbe der Tournebouche zu verharren, als welche Tuchmacher sind und Tuchmacher bleiben sollen, jetzt und immerdar. Verheirate deine Töchter an ehrliche Tuchmacher und schicke deine Söhne in die Tuchmachereien der andern Städte des Königreichs. Gib ihnen diese weisen Vorschriften auf den Weg, daß sie sich redlich nähren in der Tuchmacherei und jeden ehrgeizigen Gedanken weit von sich weisen. »Tuchmacher wie ein Tournebouche« muß ihre Losung und ihr Ruhm sein, ihr Wappen und ihre Ehre, ihre Devise und ihr Leben. Indem sie also immer Tuchmacher sein und bleiben werden, kann es den Tournebouche nicht fehlen, vergnüglich im verborgenen sich hinzuschlingen und im Schatten ein Leben zu führen gleich den kleinen fleißigen Insekten, die, wenn sie sich in einem Balken eingenistet haben, ihre Löcher bohren und mit aller Sicherheit den Faden ihres Knäuels abspinnen, bis er zu Ende ist.
Fünftens sollst du nie eine andre Sprache reden als die der Tuchmacherei und niemals Reden führen über Religion und Regierung. Laß die Regierung des Staats und der Provinz, laß Gott und die Religion sich im Kreise drehen oder nach links oder rechts abbiegen, wenn sie die Laune ankommt, und halte dich in deiner Eigenschaft als Tournebouche still hinter deinen Ballen Tuch.
Also werden die Tournebouche, von niemand in der Stadt weiter bemerkt, in Frieden leben mit ihren jungen Tournebouche, werden ihren Zehnten und ihre Abgaben bezahlen wie alles, was sie Gott und dem König, der Kirche und der Gemeinde zu bezahlen mit Gewalt gezwungen werden; denn mit diesen Mächten soll niemand Streit und Händel anfangen. Darum ist es nötig, das Vermögen der Familie zusammenzuhalten, weil man sich damit die Sicherheit seiner Existenz gewährleistet, niemand etwas schuldig bleibt, immer Korn auf seinen Speichern hat und hinter geschlossenen Türen und Läden seines Lebens froh werden mag. Dann wird weder der Staat noch die Kirche, noch die hohen Herren den Tournebouche etwas anhaben können. Wenn es gar nicht anders geht, mögt ihr diesen Herrschaften gelegentlich einige Taler leihen, doch ohne die Hoffnung zu nähren, sie, ich meine die Taler, je wiederzusehen.
Dergestalt werden die Tournebouche sich beliebt machen zu allen Zeiten und bei aller Welt, und spotten werden über die Tournebouche nur die Taugenichtse und Habenichtse. Sie werden euch die krummbeinigen Tournebouche, die struppigen Tournebouche, die widerborstigen Tournebouche nennen. Laßt sie reden, die Dummköpfe. Die Tournebouche werden nicht verbrannt und gehängt werden zum Vorteil des Königs, der Kirche und der andern; die klugen Tournebouche werden heimlich ihre Säcke voll Geld und ihre Wohnungen voll Glück haben, ohne daß es die andern auch nur ahnen.
Und also, mein teurer und vielgeliebter Sohn, befolge meine Ermahnungen zu einem unauffälligen und bescheidenen Leben. Bewahre diese Schrift in deiner Familie und halte sie heilig wie eine Charta magna. Als das heilige Evangelium der Tournebouche möge sie jeder auf seinem Totenbette seinem Nachfolger vermachen, bis es Gott dem Allmächtigen gefallen wird, das Geschlecht und den Namen der Tournebouche auszulöschen auf dieser Erde...
Dieser Brief wurde aufgefunden in der Hinterlassenschaft des François Tournebouche, Schloßherrn von Verretz, Kanzlers des königlichen Herrn Thronfolgers, der bei der Auflehnung dieses Prinzen gegen seinen Oberherrn und König durch Beschluß des Pariser Parlaments zum Tode und zur Konfiskation aller seiner Güter verurteilt worden ist. Später wurde der genannte Brief als historische Kuriosität dem Gouverneur von Touraine übergeben und von mir, Pierre Gaultier, dem Gerichtsschöffen und Vorsitzenden der Zunftmeister, den Prozeßakten des erzbischöflichen Archivs einverleibt.
Nachdem der Autor die Hieroglyphen und Paraphrasien dieser Pergamente aus ihren lateinischen Schnörkeln in unsere Muttersprache übersetzt und dem Eigentümer zurückgegeben hatte, hat ihm dieser gesagt, daß die Brenzelgasse von Tours nach einigen also genannt werde, weil dort die Sonne mehr brenne und senge als irgendwo sonst. Dieser Version zum Trotz werden alle Leute von einer höheren Einsicht geneigt sein zu glauben, daß der genannte Straßenname gewiß irgendwie mit der brenzligen Geschichte zusammenhängt, die wir hier erzählt haben. Diesen kann der Autor nur beistimmen.
Diese Historie lehrt uns, mit unserm Körper keinen Mißbrauch zu treiben, sondern ihn allein anzuwenden zu unsrem zeitlichen und ewigen Heil.