Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

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25. Freiwerben

Um dieselbe Stunde als Spinoza die Synagoge verließ, entriegelte der Küster eine Seitentür an der katholischen Kirche zu St. Johann: zwei festlich gekleidete Männer traten heraus, der eine blassen, kummervollen Antlitzes, der andere heiter lächelnd: es waren van den Ende und Kerkering.

»Mich friert,« sagte der letztere, »mir ist doch, als wäre mir das gewohnte schützende Kleid entrissen und es fröstelt. Als ich dort auf den Knieen lag, den gewohnten und doch fast vergessenen Glauben abschwor, und in euren aufgenommen wurde, preßte sich mir's eiskalt im Herzen zusammen und ich konnte kaum das verlangte Wort mehr hervorbringen. Es ist gut, daß in der letzten Ausführung von Entschlüssen uns keine Entscheidung mehr freisteht.«

»Dieser Krimskrams der Empfindung,« entgegnete van den Ende, »ist nichts als Folge der kühlen Kirchenluft und deiner ungewohnten Lage, die dir die Blutbewegung hemmte. Komm, mein Sohn; der Wein, den sie dir dort versagen und für sich allein behalten, ist in anderen Schenken viel besser zu haben. Und sieh dir die ganze Sache, wie du richtig gesagt hast, für eine Kleiderangelegenheit an; du hast dich, wie es die Mode verlangt, zur Hochzeit ausstaffiert, weiter nichts.«

Dennoch ging Kerkering scheuen Blickes dahin, er meinte, es müsse ihm jeder ansehen, was mit ihm geschehen sei. Erst als man von der St. Olaikirche nach dem Hause van den Endes abbog, trat wieder Rot auf seine Wangen. In dem Studierzimmer des Arztes, wo dieser dem neuen Täufling, wie er es nannte, »die Muttermilch der alma mater Natur« zutrank, ward Kerkering erheitert von dem feurigen Wein und stimmte mit ein in den Scherz über die kindhafte Empfindlichkeit, die ihn befangen hatte.

Van den Ende hatte Olympia einen Besuch ansagen lassen, diese aber ließ erwidern, daß sie krank zu Bette liege; er eilte zu ihr und ließ Kerkering allein.

»Mein Kind, sagte der Vater zu seiner Tochter, »ich trete eine beschwerliche, vielleicht auch gefahrvolle Reise an. Es ist mir ein Trost, dich in treuer Obhut zurück zu lassen.«

»Darf ich denn durchaus nicht wissen wohin und wozu? Warum habe ich Ihr Vertrauen verloren?« fragte Olympia.

»Du sollst dich nicht unnütz ängstigen und abhärmen; ist's vollbracht, wirst du dich dessen vor allen erfreuen. Ich muß auf einer großen Bühne mitspielen. Ich weiß nicht, wird's zum Weinen oder zum Lachen. Jedenfalls ist's der Mühe wert, sich dafür mit Haut und Perücke einzusetzen. Sie sollen erfahren, daß Lucian und Demokrit auch zur Tapferkeit befähigen, so gut wie ihre finsteren Götter. Doch, das sollst du später alles wissen. Jetzt aber laß mich als Vater, als Freund zu dir reden. Sieh, ich komme festlich geschmückt zu dir. Sprich jetzt mit jenem Stoiker zu jedem Körperleiden: ich bin stärker als du. Schmücke dich mit uns. Hier nimm.«

Olympia hörte verwundert den in ihrer Stille doppelt lauten und heiteren Ton ihres Vaters und sah erstaunt auf den dargereichten Perlschmuck.

»Was soll das?« fragte sie.

»Diesen Brautschmuck seiner Mutter sendet dir unser Freund als Morgengruß und sagt dir, daß er mehr Tränen um dich vergossen als Perlen im Meeresgründe ruhen.«

»Hat er geweint? Ich hätte nie geglaubt, daß er das täte. Gewiß geschah es, weil er seinen väterlichen Glauben abschwören und den unsrigen annehmen soll.«

»Er hat's getan, mein Kind. Es war noch hartköpfiger Protestantismus genug in ihm, der dagegen protestierte; aber es sollte ein Zeugnis seiner Liebe sein. In Kerkering gibst du mir meinen Cornelius wieder.«

»Wehe!« rief Olympia und verhüllte ihr Antlitz in den Kissen. Erst nach langem Drängen des Vaters erhob sie sich wieder und sagte schluchzend: »Wir sind alle unglücklich. Meine Liebe gehört – Sie wissen es, Vater, warum muß ich es aussprechen? Spinoza liebe ich und werde von ihm geliebt mit all der göttlichen Hoheit seines Geistes, wie noch nie ein Mädchen geliebt wurde.«

Van den Ende schlug sich mit der geballten Faust an die Stirn. Lange ging er nachdenklich im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich wieder vor das Bett seiner Tochter. »Liebe Olympia,« sagte er, »sei offenherzig gegen mich. Habt ihr euch eure Liebe schon gestanden?«

»Ja.«

»Und hofftest du auf meine Zustimmung?«

»Zuversichtlich, denn Ihr freies Denken darf kein Vorurteil kennen.«

»Ich will es auch nicht. Laß uns die Sache unbefangen überlegen. Womit wolltet ihr euch denn ernähren? Du weißt, was ich besitze, ist nicht eigentlich mein.«

»Spinoza würde einen Lehrstuhl der Philosophie und Mathematik an irgend einer Universität annehmen.«

»Das geht nicht so bald, er ist von den Juden als Ungläubiger verstoßen, und die Pfaffen aller Konfessionen reichen sich die Hände, wo es gilt, den gemeinsamen Feind zu unterdrücken. Er könnte einstweilen Gläser schleifen und du könntest mit Orgelspiel oder sonstigem Unterricht etwas erwerben, es könnte schon hinreichen, um euch vor dem Hungertod zu wahren, und habt ihr auch bloß das leere Wasser, so brockt ihr eure Philosophie ein, ist auch eine nahrhafte Speise; aber eure Kinder werden sich leider nicht damit zufrieden stellen lassen. Eure Liebe ist nichts als ein falscher Syllogismus –«

»Vater, Sie sind sehr hart.«

»Ich bin es nicht; freilich, auf eurer Geisterhöhe, wo ihr euch von lauter Genien umflattern laßt, die weder Mark noch Knochen haben, da muß euch jemand, wie ich, als ein Barbar erscheinen. Ihr habt die ewigen Probleme vom Schicksal der Menschheit und vom Weltdasein enträtselt, was kümmert's euch, wenn euer Schicksal und die Fristung eures Daseins euch Tag für Tag ein neues Problem aufzuknacken gibt? Eure Seelen lieben sich, und die lieben Seelen, ach, das sind gar bildsame gute Geschöpfe, denen keine Entbehrung zu hart ist.«

»Ist das die Ruhe, mit der Sie zu mir reden wollten? Verdienen die Entsagungen, die ich freudig über mich nehme, solchen Spott?« fragte Olympia.

»Du hast recht,« erwiderte der Vater, »du magst ihn heiraten, ich will dir's nicht wehren: des Menschen Wille ist sein Himmelreich, das ist auch mein Wahlspruch. Aber das eine bedenke noch: wie wirst du es ertragen, wenn deine Freundinnen und Bekannten die Nase rümpfen und kichern, wenn sie dich mit ihm über die Straße gehen sehen: seht, da geht sie, werden sie sagen, sie wäre sitzen geblieben, wenn sich nicht der arme Jude, den seine Sippschaft selber verstoßen, ihrer erbarmt hätte. Ich kann ihnen nicht unrecht geben, wenn sie denken: hätte er sie wirklich geliebt, so hätte er freiwillig seinem alten Glauben entsagt und nicht erst gewartet, bis man ihn ausstieß; denn das ist und bleibt in den Augen der Welt ein Schimpf. Und wenn sie dann weiter zischeln werden: Wie war sie sonst so stolz und hat auf uns herabgesehen, die ist nun glücklich, sie braucht nicht einmal einen Kleiderschrank; das abgetragene Kleid, das sie schon vor zehn Jahren hatte, ist nun mit der Zeit ihre ganze Garderobe geworden, wir haben von Herzen Mitleid mit ihr. – Ich weiß wohl, solche Dinge können und dürfen deinen Entschluß nicht wankend machen, ich sage dir es auch nur, damit du dich darauf gefaßt hältst. Ich will Spinoza auch in gar keinen Vergleich setzen mit Kerkering; sein Geist ist groß, und eine Minute, da in seliger Harmonie eure Seelen ineinanderklingen, wiegt jahrelange Entbehrungen, wiegt allen Genuß der irdischen Freuden auf; du liebst und verehrst ihn, du bewunderst die Majestät seines Geistes, ich glaube nicht, daß er diese Herrschaft über dich mißbrauchen wird; solche Fälle mögen nur selten vorkommen. Was ist dagegen Kerkering? Er hat seine Liebe besiegelt, indem er zu deiner Kirche übertrat, er hat eine mächtige und ruhmvolle Genossenschaft verlassen, er hat dich nicht zur Teilnehmerin der peinlichen Vorbereitungen gemacht und dir keinerlei Verantwortung zugeschoben; du solltest mühelos die Frucht seiner Arbeit empfangen. Und so wird er allzeit handeln. Du sollst durch seine Tat nicht zu Dank gebunden sein, er macht keinen Anspruch als den, daß er dich liebt. Er betet dich an, alle deine Worte sind ihm Orakel, ja der leiseste Wunsch deines Herzens ist ihm Befehl, den er mit Freuden erfüllt; aber du hast recht, du willst keinen Mann, den du beherrschen darfst, des Weibes schönste Zierde ist Gehorsam, Gehorsam, und selbst gegen despotische Unterdrückung. Was kann dir Kerkering bieten? Nichts als ein gutes, treues Herz, das nur für dich allein schlägt; er kann dir ein Leben voll Glanz, Ehre und Genuß bereiten, du wirst Gegenstand des Neides bei allen deinen Freundinnen sein. Was ist aber dieses alles gegen den Hochgenuß der überschwenglichen Geistesharmonie? Gewiß, sie ist ewig, und ihre Ewigkeit überdauert ein Jahr, vielleicht auch zwei; ist das nicht genug?«

Van den Ende schwieg, Olympia schluchzte und weinte nicht mehr; stillträumend spielte sie mit der Perlschnur, die vor ihr lag.

»Darf ich das Bett verlassen?« fragte sie endlich.

»Jawohl,« sagte der Vater und schmunzelte zufrieden vor sich hin, als er das Zimmer verließ. –

Olympia stand auf und kleidete sich an. »Ich habe dem Vater meine Liebe stärker gezeigt, als sie ist,« sagte sie zu sich. »War es nicht anfangs bloß verletzte Eigenliebe und die Lust, keinen unbesiegt zu wissen, die dich ihm in die Arme führte? – Nein, du liebtest ihn ehedem und liebst ihn noch.« Sie nahm die Perlschnur, hing sie um den Hals und betrachtete sich wohlgefällig im Spiegel. »Ich hätte keinen andern Mann bekommen, werden sie sagen; was kümmert's mich? Sagt mir doch mein Bewußtsein: diese Perlschnur und mit ihr des Lebens schimmernde Genüsse waren in meiner Hand, und ich verschmähte sie. Aber tue ich recht? Er ist eine geborene Einsiedlernatur, die Wissenschaft ist seine Göttin; ich befreie ihn nur, ich gebe ihn sich selbst zurück, wenn ich ihm meine Hand weigere. Nein, dieser Flitter blendet mein Auge. Und doch, kann seine starkgeistige Kraft sich nicht anders gebärden, wenn er in deinem Besitze nicht mehr mit Huldigungen um dich zu werben hat? Er weiß, daß du dich klein fühlst ihm gegenüber; wie oft meistert er dich und wie anders wird er's dann noch tun. Nein, er ist mild und gut, du aber bist zu schwach und die unterwürfige Anbetung Kerkerings lockt dich ...«

Sie legte die Perlschnur weg und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Wieder stand sie vor dem Spiegel und starrte traumhaft verloren hinein; sie sah sich abgehärmt, zerrissen, bespöttelt und verlacht durch die Straßen gehen, sie verscheuchte diese wahnsinnige Verwirrung nur durch einen lauten Triller. Als ihr Vater sie so munter hörte, trat er zu ihr ins Zimmer. »Kerkering,« sagte er, »wartet draußen, er will nicht von der Stelle weichen, bis er das entscheidende Ja oder Nein erhalten hat. Ich glaube deine Gedanken zu kennen, ich will dich zu keinem Entschlusse nötigen, aber zu Hilfe kommen darf ich dir. Komm mit.« Olympia schmiegte sich wie in demutsvollem Kindesgehorsam an den Vater und bedeutete ihn, daß sie ihm willfahre, und dieser Ergebung lag doch, ihr selbst halb verhüllt, ein Eigenwille zu Grunde, der sich nur mit jenem Scheine deckte. Der Vater faßte sie an der Hand und führte sie in das andere Zimmer zu Kerkering mit den Worten: »Hier bringe ich dir deine Braut, mein Sohn.«

Kerkering nahm einen Brillantring von seiner Hand und steckte ihn an die Olympias. »Mein auf ewig,« sagte er, und drückte einen herzhaften Kuß auf ihren Mund.

Um dieselbe Stunde, da Spinoza mit den Lockungen erweiterten Lebens in Ruhm und Genuß gekämpft, hatte auch Olympia mit den Versuchungen gerungen und war ihnen erlegen. –

Kerkering und seine Braut saßen am Abend in traulichem Gespräch nebeneinander, van den Ende rieb sich die Hände und ging heiter lächelnd im Zimmer auf und ab. Olympia fühlte sich immer mehr befriedigt in der Nähe Kerkerings, ja sie fand ihn jetzt so liebenswürdig, daß sie sich darüber schalt, ihm nicht schon längst ihr Herz geschenkt zu haben. Kerkering erzählte ihr, daß er ein wohldressiertes Reitpferd für sie gekauft habe, und daß sie wieder wie vor Jahren majestätisch zu Pferde sitzen und mit ihm durch die Straßen fliegen müsse. Ein glänzendes, genußreiches Leben breitete er mit den lockendsten Farben vor ihr aus, Olympias Wangen durchschoß ein glühendes Rot, ihr Herz pochte laut, Kerkering hielt sie umschlungen. Da trat zur ungewohnten Stunde und mit ungewohntem, feierlichem Ernst Spinoza ein. Olympia riß sich aus der Umarmung Kerkerings los; eine Sekunde lang drückte sie sich mit der Hand die Augen zu, sie stand auf und ging Spinoza entgegen.

»Ich weiß, Sie lieben keine aufgeregten Szenen, wie ich selber nicht,« sagte sie mit zitternder Stimme, »ich habe vor meinem Vater und vor Kerkering kein Hehl: wir liebten uns. Erinnern Sie sich jener feierlichen Stunde, da Sie mich beschworen, zu vergessen, was wir uns waren und werden wollten? Jetzt ist die Zeit gekommen. Herr Kerkering ist – mein Bräutigam.« Sie mußte sich an ihrer Orgel halten, Spinoza stand wie festgebannt, sprachlos vor ihr; starr blickte er sie an.

»Ich bitte,« begann Olympia wieder, »entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht.«

»Ich wünsche, daß Herr Kerkering Ihnen das Glück bereiten möge, das ich selber einst in glücklichen Stunden Ihnen zu bieten gehofft hatte,« erwiderte Spinoza; seine Stimme klang heiser. Er blieb noch lang, sprach von den gleichgültigsten Dingen und mit einem Humor, den man gar nicht an ihm gekannt hatte. So fern ihm auch sonst die Täuschung war, hier hatte er sich in einer zwiefachen gefangen. Er glaubte Olympia durch diese Heiterkeit ihren Schritt zu erleichtern, und erschwerte ihn nur damit, er glaubte seiner Manneswürde es schuldig zu sein, länger zu bleiben, um in Ruhe zu scheiden; im Grunde war es doch auch, weil er nur schmerzvoll von dieser holden Umgebung, wo das höchste Liebesglück ihm geblüht hatte, sich auf immerdar losreißen konnte.

Auch Oldenburg kam, und zum ersten Male küßte er Spinoza, nachdem er das Ereignis vernommen hatte.

Kerkering war überaus heiter und scherzte, daß er erst heute geboren sei und bat, daß ihm Olympia ein Wiegenlied singe; Oldenburg bat um das Lied von der Jungfrau unter den Linden, Olympia sträubte sich, aber jetzt drang auch Kerkering gerade auf dieses, er verlangte es als erste und einzige Willfahrung seines erneuten Lebens, und von allen Seiten bestürmt, setzte sich Olympia fast willenlos an die Orgel und sang:

Es sollt' eine Jungfrau früh aufstehn.
Und ihren Liebsten suchen gehn;
Sie sucht' ihn unter den Linden,
Und konnt' ihren Liebsten nicht finden.

Mit einem Mal' kam ein Herr daher.
»Was tut Ihr hier allein?« fragt er,
»Zählt Ihr die grünen Bäume,
Oder die gelben goldnen Rosen?«

»Ich zähle die grünen Bäume nicht
Und pflück' auch die goldnen Rosen nicht.
Ich hab' meinen Liebsten verloren.
Keine Nachricht kommt mir zu Ohren.«

»Habt Ihr Euren Liebsten verloren?
Keine Nachricht kommt Euch zu Ohren?
Er ist auf Zeelands Auen,
Und verkehrt mit andern schönen Frauen.«

»Ist er auf Zeelands Auen,
Verkehrt mit andern schönen Frauen,
So möge der Himmel sein Führer sein
Mit allen den hübschen Jungfräulein.«

Was zog er aus seinem Ärmel hold?
Eine Kette von rotem Gold.
»Die will ich Euch, schönes Kind, schenken,
Wollt nicht an den Liebsten mehr denken.«

»Und wäre die Kette noch einmal so lang,
Und hinge vom Himmel zur Erde entlang,
Viel lieber mag sie mir fehlen,
Als daß ich einen andern tät wählen.«

Das aber rührte dem Herrn sein Blut.
Er sprach: »Schönes Kind, seht Euch vor, was Ihr tut,
Ihr seid meine rechte Frauen,
Mit keiner andern laß ich mich trauen.«

Noch hatten die letzten Töne nicht ausgeklungen, als Spinoza seinen Hut nahm und ging. Olympia stand auf und schlug den Deckel ihrer Orgel zu, daß die Pfeifen wirr ineinander brausten.

Mit übervollem und darum fremder Teilnahme bedürftigem Herzen war Spinoza zu Olympia gekommen. Es gibt Stunden, da der, dem die Tempel aus Stein erbaut verschlossen sind, sich im Tempel eines treuen Menschenherzens erheben muß.

Das Schicksal hatte Spinoza darauf hingewiesen, nur aus sich selbst Beseligung zu schöpfen.

Wohl hatte er sich trösten mögen, daß er nun nicht mehr genötigt war, seinen der Wahrhaftigkeit allein zugewandten Geist vor einer ihm nicht genehmen Form beugen, und in des Tages Last und Mühe Überzeugungen verschweigen, Überzeugungen bemänteln zu lernen; wohl hätte er sich beruhigen mögen, daß eine Liebe vernichtet war, um derenwillen er oft so schmerzlich gerungen; aber das ist der Liebe ewiges Rätsel, daß sie sich sehnt nach dem verlorenen Schmerz, nach der verlorenen Sehnsucht. Schwermut und Bitterkeit drohten ihn zu erfassen, aber in selbstbezwingender Erkenntnis lernte er immer bestimmter jener Seelenruhe teilhaftig werden, die die Freiheit des Geistes ist, indem sie sich der Notwendigkeit alles Geschehenden unterwirft und ihren Gesetzen nachgeht, gleich als wäre nicht das eigene Herz davon betroffen.

Jedes Versenken in Trauer, deren schmerzenreiche Folgen mit der Vernunft besiegt werden können, ist teilweiser Selbstmord; wer frei sein, das heißt nach den Gesetzen seiner Vernunft leben will, darf nie aufhören zu sein, und solches läßt er geschehen, sein lebendiges ewiges Dasein wird unterbrochen, wenn er sich von den Affekten bewältigen läßt. Nur ein Leben in der Vernunft ist das wirkliche und ewige Leben.

Es galt einen gewaltigen Kampf, ein Losringen von aller Besonderheit und aller schmeichelnden Anmutung, die ihn endlich auf die Spitze des reinen Denkens führen füllte, und ihn zu dem fast unfaßlichen, die Welt scheinbar verschmähenden und doch sie verklärenden Ausspruche befähigte: »Ich erörtere die Handlungen und Bestrebungen des Menschen gleich als ob von Linien, Flächen oder Körpern die Rede wäre.«

Die Freunde erkannten mit staunender Bewunderung die Siegeskraft Spinozas, der mit dem freien Gedanken das Leben mit all seinen Begegnissen überwunden hatte und nun in stiller Glückseligkeit es erst wahrhaft sein eigen nennen konnte.

Keine Glorie umschwebte sein Haupt, sie durchleuchtete sein ganzes Sein.


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