Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14. Die Hantierung

Während Spinoza über die wirkliche Existenz der Dinge, über den in ihnen selbst ruhenden Grund ihres Daseins, über ihre notwendigen und zufälligen Bestimmungen sich in tiefes Nachdenken versenkte und die hierauf bezüglichen mathematischen Beweisführungen des Cartesius genau erwog, hatte auch sein Vater über den zureichenden Grund der wirklichen Existenz nachgedacht und seine Beweisführungen waren nicht minder auf Ziffern und Zahlen gebaut als die des Philosophen. »Beharrst du noch immer dabei,« sagte er eines Tages zu seinem Sohne, »nicht Rabbine werden zu wollen? Hast du bedacht, was du mir und dir dadurch tust? Ich sehe leider noch meine höchste Freude vor mir ins Grab dahinsinken.« –

»In den Sprüchen der Väter heißt es,« entgegnete Baruch mit gepreßter Stimme, »Rabbi Zadok sagt: mache aus deiner Kenntnis vom heiligen Gesetz keine Krone, um damit groß zu tun, und mache auch keinen Spaten daraus, um damit zu ackern. Es steht schlimm um jede Religion, solange ihre Verkündiger einen klingenden Lohn erhalten.«

»Gut, ich bin mit Rabbi Zadok einverstanden; wie aber, wenn man keinen anderen Spaten hat? Sieh, ich rede stets offen mit dir: unsere Miriam ist jetzt Braut mit Samuel Casseres, er will mit dem Manne der Rebekka die Diamantmühle vergrößern, er will neue Geheimnisse besitzen; meine Töchter wären nun mit Gottes Hilfe versorgt, nur du allein bist noch da. Soll ich dir's verhehlen? Mein Rechtsstreit steht schlimm, und was ich dir nach meinem Tode hinterlassen kann, ist so blutwenig, daß du davon nicht leben kannst; Gott soll aber mich und meine Kinder und Kindeskinder davor bewahren, daß sie mit Trauer im täglichen Gebete sagen müßten: Herr laß uns nicht bedürftig werden der Gaben derer, die aus Fleisch und Blut geschaffen sind. Drum sage, was ist zu tun?«

»Soll ich ein Handelsmann werden?«

»Nein, das würde ich selber nicht zugeben, du hast von Kindheit auf keinen Handelsgeist gehabt. Zwar gibt es jetzt wieder neue Wege für den Handel, und wir brauchen nicht mehr alle so zusammengedrängt zu sein wie hier in Holland, wo einer dem anderen den Vorteil vor der Nase wegschnappt. Nach Batavia zu gehen, das ist nichts, denn die dort sind, denen geht es herzlich schlecht und viele wollen wieder zurückkehren; aber es ist Nachricht eingegangen, daß Rabbi Menasse ben Israel, der mit dem Lordprotektor unterhandelt, es wahrscheinlich dahin bringen wird, daß die Juden wieder nach England ziehen dürfen.«

»Ich habe davon gehört,« erwiderte Baruch, »Rabbi Menasse soll dadurch am meisten Stimmen für sich gewonnen haben, daß er sagte, die wahre Erscheinung des Messias könne nicht vor sich gehen, wenn nicht vorher die Verheißung in Erfüllung gegangen wäre, daß Israel in alle Lande zerstreut sein würde. Das war eine unredliche Spitzfindigkeit.«

»Laß das gut sein,« sagte der Vater, »ein großer Teil des Volkes tut's nicht anders, als er muß betrogen sein, und da tut man ihm den Gefallen; aber das sind Dinge, die uns jetzt nichts angehen; bedenke du jetzt, womit du künftig deine Existenz sichern willst.«

»Rabbi Gamaliel lehrt: schön ist das Studium des Gesetzes verbunden mit einem bürgerlichen Gewerbe, beiden obzuliegen macht des Lasters vergessen; das Studium ohne Arbeit ist am Ende ein müßiges und verleitet zu Sünden.« Baruch führte noch mehrere Beispiele an, daß die größten Väter der Synagoge Handwerker waren, und schloß mit den Worten: »Ich möchte ein Handwerk lernen.«

»Du brauchst nicht so viele Stellen aus dem Talmud anzuwenden, ich habe gar nichts dagegen, wenn du ein ehrbares Handwerk lernen willst.«

Spinoza war froh, daß sein Vater nicht durch die angeführten Beispiele allein bewogen wurde, in sein Vorhaben einzuwilligen, denn er hatte sich gewissermaßen des vielbekannten »frommen Betrugs« hiebei bedient. Er war fest entschlossen, nie und nimmer in den gewöhnlichen Schlendrian einzutreten, und Wissen und Gewissen für das tägliche Brot zu verkaufen; konnte er mit dem Werke seiner Hände sich seinen Lebensunterhalt verschaffen, so blieb ihm seine Überzeugung frei und er brauchte sie nicht den Erfordernissen und Bedürfnissen der Alltäglichkeit anzupassen. – Oder findet sich auch bei den Geistern ersten Ranges jene Leere, jene unbefriedigte Sehnsucht, die uns so oft überkommt, wenn wir immer und immer nur die Feder führen, das tote Wort zu beleben, neue Gedanken und Gefühle auszugraben und zu meißeln angewiesen sind? Erfaßt auch sie jener unbezwingbare Drang nach einer körperlich anspannenden Beschäftigung, welche das durch einseitige Nerventätigkeit gestörte Gleichmaß wieder herstellen soll?

Es war für unseren jungen Freund fruchtreich, darüber zu denken, welchem Gewerbe er sich widmen sollte. Jetzt erinnerte er sich, wie oft er bei den Diamantmühlen stehen geblieben war und die Pferde in der unteren Roßmühle beobachtet hatte, die vermittels des Rades die Werkzeuge in den oberen Stockwerken in Bewegung setzen. Das Schleifen und Schneiden der Diamanten war ein Geheimnis seiner Glaubensgenossen, und sowohl dieses zog den Knaben mächtig an, als auch die vertraulich ihm eröffnete Kunde, daß der Diamant nur durch Diamantensplitter geschliffen und geschnitten werden könne. Wie oft, erinnerte er sich auch, war er beim Gange in die Talmudschule und zu Magister Nigritius selbstvergessen an den offenen Werkstätten und den Fenstern stehen geblieben, innerhalb deren die Menschen in ihrem Gewerbe sich mühten. Wie war der betrachtende Blick des Knaben von diesen Hantierungen gebannt und wie tief hatte sich in sein Herz ein Verlangen nach gleicher Tätigkeit eingesenkt! Jetzt zum ersten Male stieg die Erkenntnis vor ihm auf, wie das, was man freien Willensentschluß nennt, in seinem Grunde nur Ergebnis eines empfangenen Eindruckes ist, der sich selbst seine oft kaum bemerkbare Folgenreihe entwickelt. Er verweilte bei diesem in die Tiefe führenden Gedanken nur flüchtig, denn seiner Phantasie eröffneten sich die zahllosen Werkstätten, darin die Menschenkraft die Erzeugnisse der Natur baut und bildet und aufs neue umschafft. Nur wer die Gebilde des Lebens neu formt und bindet, nur der hat das wirkliche Leben empfangen. Welch tausendfältiger Segen liegt in der Arbeit selbst, wie in ihren Hervorbringungen! Und eine Hand faßt die andere und ein Denken strömt in das andere aus dem geschaffenen Gebilde. Die ganze Menschentätigkeit ist eine unermeßliche brüderschaftliche Werkstätte. Aber auch hier hat einer den anderen gewaltsam von sich geschieden, und wie die Kirchen im Reiche des Denkens und Empfindens, so hatten die Zünfte in der Arbeit der Hände ihre erwählten Genossen. Es bestand zwar kein gesetzliches Hindernis, das den Juden von irgend einem Gewerbe ausschloß, aber Gewohnheit und bequemes Herkommen machte die Zunftmeister widerwillig und ausschließend.

Wieder war es Cartesius, von welchem die Entschließungen Spinozas einen Anstoß erhielten, der zu eigenen Zielen führte. Spinoza studierte die Dioptrika des Cartesius und lernte hier zum ersten Male das Gesetz der Refraktion, sowie die erste richtige Erklärung des Regenbogens kennen. Der von Huygens damals erhobene und allgemein geteilte Vorwurf, daß Cartesius jenes Gesetz aus dem in Holland verbreiteten Manuskripte von Snellius entnommen habe und die Erklärung des Regenbogens von Antonio de Dominis und Kepler gekannt haben müsse, ohne weder diesen noch jenen zu nennen; alles das schien für den jungen Forscher jetzt von minderer Bedeutung, und doch bewegte es ihn seltsam, daß es auch im Reiche des Geistes eine Veruntreuung geben solle. Der sonst dunkle Ausspruch des Talmud: »Wer ein Wort, einen Gedanken im Namen seines Urhebers vorbringt, der bringt die Erlösung über die Welt,« ging ihm jetzt als Gesetz der Wahrhaftigkeit auf.

Das Verfahren von Cartesius war, wenn auch nicht zu entschuldigen, doch daraus zu erklären, daß er als Hofmann und in leichter Anbequemung gewohnt war, sich in Fremdes und Äußerliches zu finden und es leicht als Eigenes und Inneres anzusehen.

Es war eine reine Andacht, als in Spinoza der Entschluß eine feste Gestalt gewann, sein Leben nur durch eigene Tätigkeit und durch nichts Ererbtes zu fristen und gleicherweise im Denken die Wahrheit in sich zu finden.

Eines Tages erklärte Spinoza seinem Vater, daß er die Kunst, optische Gläser zu schleifen, erlernen wolle.

»Aber das ist ja ein Handwerk, das nur kümmerlich einen Menschen ernährt,« entgegnete der Vater, »wie willst du einst mit einer ganzen Familie davon leben? Oder soll gar mit dir der ruhmvolle Name unserer Ahnen erlöschen?«

Spinoza antwortete nicht unmittelbar auf diese Mahnung; er hoffte und ahnte vielleicht, diesem Namen auf andere Weise ewige Dauer zu verschaffen. Er berührte indes bald eine in dem Vater schmerzlich wiederklingende Saite, indem er seinen Trieb nach Unabhängigkeit darlegte und bemerkte, daß ein Rabbi durch den empfangenen Sold wie durch unabweisbare Ehrengeschenke doch nur ein Diener der einzelnen werde. Eine mit Wehmut gemischte Heiterkeit sprach bei dieser Darlegung aus dem Antlitze des Vaters, der oft beifällig nickte. Der alte Spanier sah in seinem Sohne den gleichen stolzen Sinn, der in ihm selber noch nicht erstorben war. Kann man die Welt nicht durch Ansehen und Macht zwingen, so ist es wohlgetan, sich von ihr abzuwenden und in der Abgeschiedenheit ihrer nicht zu achten. So regte sich's in den Gedanken des Vaters und immer wieder erwies sich der aufgelockerte Boden und die eigentümliche Mischung seiner Bestandteile, daraus die Lebenskraft Spinozas zu freier Blüte erwuchs.

»Nun meinetwegen, es sei,« ließ sich endlich der Vater vernehmen, »wenn ich alle Gewerbe betrachte, finde ich nirgends etwas Besseres, wenn man kein großes Kapital einzusetzen hat.«

Vater und Sohn gingen nun zu dem als tüchtig bekannten Meister Christian Huygens, einem Oheim des gleichnamigen Mathematikers, der aber, wie es schien, weder mit dem dichterischen Genie seines Bruders noch mit dem seines Neffen eine Verwandtschaft hatte.

Spinoza erklärte dem Meister im Verlaufe der Rede, daß er die Gesetze der Optik schon kenne, und auch ziemliche mathematische Kenntnisse habe; er fragte nun, ob er vielleicht in einem halben Jahre das Handwerk erlernen könne. Der Meister, der alle Anträge bis jetzt ruhig angehört hatte, sprang bei diesen Worten so entrüstet auf, daß ihm die Brille bis auf die Nasenspitze herabfiel.

»Daß dich der – –, da möcht man katholisch werden, was die Jugend jetzt für Knirps im Kopf hat,« rief er, »ich bin siebenundvierzig Jahre bei dem Geschäft, ich darf sagen, daß ich's versteh', und daß ich's auch jemand lehren kann, und doch hab' ich drüben in der Werkstatt Gesellen, die schon fünf und sieben Jahre dabei sind, ich will das Mikroskop da auseinander legen, ich will's, wie es da ist, auffressen, wenn mir's einer wieder zusammenlegen kann wie sich's gehört. Da meinen sie nur, aus den Büchern könnt' man alles lernen, ich geb' keinen Pfifferling für all die Geschichten: das Papier ist geduldig, das läßt darauf drucken, was man will. Ich hab' auch einmal ein Mikroskop gemacht nach der Vorschrift, wie es in einem Buch gestanden hat, aber es war gerad' für nichts. Wer nicht selber bei dem Geschäft ist, der kann sein Lebtag nicht wissen, wie man nur die rechte Blende ins Glas hineinbringt. Bleibt mir vom Leib mit euren gelehrten Geschichten.«

Auch die Frau Meisterin trat hinzu, sie hatte den Nasenklemmer in die Hand genommen und agierte nun heftig mit dem Instrumente.

»Ja,« rief sie, »wenn man das nur so mir nichts dir nichts lernen könnte, möchte jeder Weißnichtwas herkommen, und will nur auch schnell Optikus werden.«

Nur mit Mühe wurden die guten Leute wieder beruhigt.

»Ich bin ein Mensch wie ein Lamm,« sagte dann der Meister, »wer mit mir nicht auskommt, kann mit niemand in der Welt auskommen.«

»Ja, er ist nur zu gut gegen alle Welt,« fiel die Frau Meisterin ein, »und was er dann bei anderen verschüttet hat, will er mit mir einbringen.«

»Laß gut sein,« sagte der Meister, »du läßt dir nichts geschehen; aber ich will ehrlich und offen mit Euch reden, Ihr sollt nicht hinterdrein sagen können, das hätt' ich Euch vorher sagen sollen. Erstens ist es ein ungesundes Geschäft; seht mich an, wie ich da bin, hab' ich schon mehr als drei Zentner Glas geschluckt; ich weiß wohl, ich treib's nicht mehr lang, nun in Gottes Namen.«

»Versündige dich nicht, Christian,« fiel die Frau Meisterin ein, »wenn's mit den Sechzigen so stark bergab geht, und man in drei Jahren dem Doktor und dem Apotheker keinen Deut gegeben hat, mein' ich, dürft' man Gott danken. Ihr müßt nicht alles so genau nehmen, was er sagt.«

»Jetzt laß mich reden, ich weiß, was ich red',« entgegnete der Meister, und suchte sich ein Ansehen zu geben; er bog nun nächst dem kleinen Finger auch den Ringfinger an der linken Hand und sprach: »zweitens ist es ein schlechtes Geschäft, es kommt nichts dabei heraus.«

»Ja, da hat er recht,« kommentierte die Meisterin, »als wir unser Gewerbe eröffneten, da waren wir und der verstorbene Greenwond, der bei dem abgebrannten Rathause gewohnt hat, die zwei einzigen, und jetzt sind dreiundzwanzig in der Stadt; man verdient kaum mehr das Wasser zur Suppe, und Ehr' und Schande halber kann man doch das Geschäft nicht aufgeben. Wir sind zwei alte Leute, wir brauchen wenig, und mit Sparen und Hausen schlagen wir uns so durch, daß, wenn das Jahr um ist, man mit knapper Not sein bißchen Sach' noch beieinander hat; ich weiß nicht, wie's die Leute machen, die einen Haufen Kinder haben und von dem kleinen Verdienst leben.«

Der Vater wollte, durch solche Vorstellungen bewogen, seine Einwilligung zurücknehmen, aber Spinoza blieb standhaft, und so kamen sie mit dem Meister überein, daß Spinoza gegen eine mäßige Entschädigung so lange lernen dürfe, als es ihm behage.

Es war nun abermals eine neue Atmosphäre, und zwar eine mit Pechgeruch und Glasstaub erfüllte, in welche Spinoza eintrat. Einen großen Teil des Tages brachte er fortan in der Werkstätte zu. Er lernte den scharfen Diamant handhaben, der in den einen Schenkel des Zirkels eingesetzt war, um aus den Scheiben Stücke von beliebiger Große herauszuschneiden, aber noch nahmen diese Stücke beim Bruche willkürlich kristallisierte Formationen an. Spinoza trat nun in den ersten Grad der edlen Schleifkunst ein. Das ausgeschnittene Stück wurde mit Pech auf eine Schraubenmutter aufgesetzt, diese an einen Hebel befestigt und nun mit dem rechten Fuße das Rad gedreht. Um dieses war ein Riemen gespannt, der griff in eine Spindel ein, darauf ein ganz flacher bleierner Teller aufgesetzt war; der Teller drehte sich und mit der linken Hand wurde der Glasscherben darauf gedrückt, der so lange Kreise auf demselben beschrieb, bis das Glas die beabsichtigte Form erhalten hatte. Stets mußte nasser Flugsand aufgeschüttet werden, um die Entzündung der harten sich reibenden Stoffe zu verhüten, um die Rauheit des Bleis zu vermehren. Das erste Stadium war hiemit beendigt. Spinoza mochte sich wohl das Handwerk weniger mühsam und vor allem reinlicher gedacht haben; aber gerade diese Beigaben der Arbeit wurden seiner Denkerweise wieder zu einer notwendigen Durchdringung des Wesens. Die Menschen sind leicht geneigt, rauh und abstoßend erscheinende Tätigkeiten als niedrige herabzusetzen; Spinoza gewöhnte sich immer stetiger daran, die Vorkommnisse des Lebens nicht nach gewohnten Eindrücken zu erfassen, sondern in ihrem Wesen zu ergründen. Auch diese Arbeit ist nur ihrer einseitigen Erscheinung nach unreinlich, nur der Arbeitende wird während seines Tuns von Sand und Staub bedeckt, die Arbeit an sich aber hat die höchste Sauberkeit und Reinheit zum Zweck. – Im zweiten Stadium entschied sich's nun, ob das flache Glas eine hohle oder erhabene Form erhalten sollte, und je nachdem wurde eine hohle oder erhabene Messingplatte auf die Walze gesetzt; mit Pech wurde wechselsweise auf der einen Seite des Glases eine Schraube aufgeklebt, und diese in der Mutter vermittels eines Stiftes auf der Messingplatte herumgedreht, worauf dieselbe Bewegung wie im ersten Stadium begann. Zwischendrein mußte immer der durchgeschliffene Schleifsand, nun zum Glättsand verdünnt, mittels eines Pinsels auf die Platte übertragen und dazwischen aus dem daneben stehenden zinnernen Becher ein Schluck Wasser aus dem Mund und auf die Platte gespritzt werden.

Nachdem beide Seiten so zubereitet waren, ging es an das dritte Stadium. Der Messingteller wurde heiß gemacht, ein runder Drillfleck, auf der Kehrseite mit Kitt bestrichen, wurde auf der Vorderseite mit sogenanntem Caput mortuum (Eisenoxyd) bezogen, wiederum immerwährend Wasser aufgetröpfelt und so das Glas poliert. Hatte das Glas die drei Stadien, Schleifen, Glätten und Polieren durchlaufen und konnte man mit der Lupe weder Riß noch Fuge entdecken, so war es vollendet.

Spinoza hatte die handwerksmäßigen Schwierigkeiten bald überwunden, und das erste Glas, das er von der rohsten Verarbeitung an ohne fremde Beihilfe zur vollen Zufriedenheit des Meisters vollendet hatte, machte auch sein Auge hell erleuchten. Dieses Anschauen der vollendeten Arbeit war wie wechselseitiger Dank: Dank aus dem toten Stoffe, der zu seiner Bestimmung verklärt war, und Dank aus der Seele des Arbeitenden, daß der rohe Stoff das Gepräge seines Willens trug. Die mathematische Berechnung und Zusammensetzung der Gläser begriff er schneller, als der Meister vermutet hatte. Die Bücher mußten doch nicht lauter Unnützes enthalten haben.

Während Spinoza hier ein Glas schliff, um den Kurz- und Schwachsichtigen das Ferne nah und das Nahe näher zu bringen, arbeitete er im Geiste die feinsten Okularien aus, um die Geistespupillen der Mit- und Nachwelt zu unterstützen und zu schärfen. – Er freute sich, daß das immerwährende Geraspel nur kurze Besprechungen unter seinen Nebengesellen zuließ. Er konnte umso ungestörter seinen Gedanken folgen.

In der Werkstätte war ein lustiger Geselle, mit einer zarten und edlen Gesichtsbildung und kunstlos herabfallenden braunen Locken; mit Singen und Jubeln stelzte er jedesmal zur Türe herein, denn er ging an Krücken, da er krumme und rückwärts gewachsene Füße hatte. Während er seine Krücken neben sich hinstellte, und die Hemdärmel aufstreifend seine Werkbank in Ordnung brachte, die er in eigener Weise nur mit dem Knie drehte, gab er fast regelmäßig eine Rede zum besten. Einst sagte er: »Bin ich nicht viel besser daran als der König Nebukadnezar? Der hat, glaub' ich, irdene Füße gehabt, und hätte nicht über unser schlechtes Pflaster holpern können. Ich hab' doch noch einem Baum seine Arme ausgerissen, und hab' mir Füße daraus gemacht; der nächste beste Adler, der mir zwischen die Beine kömmt, dem rupf' ich seine Flügel aus, und näh' mir sie an; ich kann's von unserem Herrgott schon verlangen, daß er mir Flügel gibt, warum hat er mir Füße gegeben, die ich nicht brauchen kann? Brüder! dann ist's aus, dann könnt ihr fünf Tage in der Woche blauen Montag halten; man braucht keine Feinröhre mehr. Will so ein gelehrter Herr wissen, wie einer von den Sternen aussieht, da bin ich, der Peter Blyning, da; für ein gutes Trinkgeld flieg' ich hinauf und spionier' alles aus. Vielleicht bleib' ich aber auch droben und komm' gar nicht mehr herunter; wenn mich so ein schönes Mondmädchen heiraten will, ich bin gleich dabei, da unten muß ich doch ledig sterben.«

Ein schallendes Gelächter lohnte stets seine Worte, und er ergriff jede Gelegenheit, um seine Redekunst zum besten zu geben. »Eigentlich sind wir alle, wie wir da sind, lauter Krückenfabrikanten; was unser Herrgott verpfuscht hat, müssen wir wieder gut machen; hätt' er der Welt bessere Augen ins Gesicht gesteckt, braucht' man keine Fernröhre und keine Brillen. Gott verzeih' mir's, aber ich bin manchmal martialisch bös auf ihn. Was hab' ich ihm getan, daß er mich halb fertig in die Welt geschickt hat? Wenn er mir drüben keine besseren Füße gibt, so kann er sein ewiges Leben für sich behalten, ich nehm's nicht.« Alle glotzten ihn mit blöden Gesichtern an, wenn er so sprach, nur Spinoza suchte ihn zu überzeugen, daß körperlicher Schmerz und Mangel kein wirklicher, und daß es der höchste Beruf des Menschen sei, den ihm von Gott zugeteilten Bestimmungen gemäß zu leben, und nicht nach einer Kraft zu verlangen, die uns von der Natur verweigert ist, sonst kämen mir nie zur wahren Befriedigung.

»Ja, Ihr habt gut reden,« sagte Peter, und seine Stimme hatte einen wehmütig zitternden Klang. »Ihr habt gut reden, verlang' ich denn etwas mehr, als was mir als Mensch gehört? Seht, nur ein einzigmal in meinem Leben möcht' ich tanzen, ich schwör' Euch, ich würde mich gleich darauf gern ins Grab legen. Wenn ich Tanzmusik höre, ja in diesem Augenblicke, wo ich nur daran denke, mein' ich, ich müßt' vor Zorn aus der Haut fahren: ich möcht' mir die Augen auskratzen, so schäm' ich mich oft, ich hab' mir schon mehr als einen Rausch getrunken, bloß weil ich gefürchtet hab', ich könnte vor aller Welt weinen.«

Spinoza suchte besänftigend auf Peter einzuwirken, er gewann ihn dadurch besonders für sich, daß er sich bisweilen Handgriffe von ihm zeigen ließ; aber unser Philosoph wurde bei seinen Einreden oft gewahr, wie unendlich schwer es ist, von der steilen Höhe des allgemeinen Idealismus herunterzusteigen bis zu den alltäglichen Bedürfnissen und Fragen der gewöhnlichen Menschen.

Auch in die Werkstätte war die Kunde gedrungen, daß Spinoza ein großer Gelehrter sei, und die Gesellen waren stolz auf einen solchen Lehrling und rühmten sich dessen in den Schenken; in ihrem Benehmen gegen ihn selbst aber ließen sie ihn unverhohlen merken, daß er doch nur ein Jude sei und hatten einen gewissen Adelsstolz und eine zutrauliche Herablassung gegen ihn. Mit Bekämpfung jeglicher Empfindlichkeit hielt sich Spinoza nur an die letztere Wahrnehmung, sein mildes und doch gehaltenes Wesen entwaffnete jede Roheit und die Gesellen hatten bald eine gewisse wie verabredete Hochachtung vor Spinoza. Ein kurzes, eindringliches Wort, das er sprach, wirkte oft lange nach im Geiste derer, die es gehört. Auch Meister Huygens und seine Frau liebten den bescheidenen und stillen jungen Mann sehr. Es waren nicht Hirten und Fischer, nicht Menschen in einfachen Lebensverhältnissen und im stetigen Verkehr mit der ewigen Natur, zu denen er wie vordem die alten Weisen treten könnte, seine eigene Erkenntnis bereichernd und neue ausstreuend. Da war eine Welt, deren Tätigkeit der ursprünglichen Einfalt ferne lag, da waren Menschen, die tagüber unter allerlei Geräusch lebten: da dringt nur schwer am Feierabend ein Wort in die Seele. Und doch, ob am rauschenden Bach oder am sausenden Rad, der Menschengeist ist sich ewig gleich wie die Luft, die die verschiedenen Schallwellen trägt, und das Priestertum, das dem ewigen Gesetz dient, muß sich immer wieder erneuen. Wie es in der Natur draußen sproßt, jede Pflanze für sich lebt, und doch vor dem Gedanken des Menschen aufgeht und sich zusammenschließt zur großen Einheit, so auch ist die Menschentätigkeit in allerlei Berufsarten gesondert, die jeder, nur auf das einzelne gerichtet, zu erfüllen trachtet; vor dem denkenden Geiste aber schließt sich alles zusammen zu einem großen einheitlichen Getriebe.

Spinoza fühlte sich besonders beglückt, mitten inne in der Reihe derer zu stehen, die mit ihrer Hände Kraft das Leben erneuen. Denn alles, was da besteht, erfüllt still die Bedingungen des ihm aufgelegten Gesetzes. Die Arbeit aber ist des Menschen. Er vollführt das Lebensgesetz, indem er es frei erkennend betätigt; und es ist ein großer majestätischer Chor, der all das Lehren und Federkritzeln, all das Hämmern, Graben, Bohren und Sieden in vereinzelten Werkstätten und was daraus hervorgeht, zusammenschließt. Das stille Naturleben hat das bloße Dasein, die Erkenntnis hat das Denken für sich; in der Arbeit ist Dasein und Denken eins.

Spinoza war einig, heiter und zufrieden.

Nicht so zufrieden war Olympia, als er ihr seine neue Lebensweise erzählte: »Es freut mich zwar, daß wir auch hierin übereinstimmen,« sagte sie, »den ganzen lieben langen Tag bloß eigenen oder fremden Gedanken nachhängen, ist zu viel oder zu wenig Arbeit; ich komme dann meist so weit, daß mir's peinlich wird und ich froh bin, wieder die Stiche zählen zu müssen. Wenn ich sticke, da hab' ich meine besten Gedanken. Sehen Sie die Rosenguirlande dort? Geschichten, toller, umfangreicher als die Gesta Romanorum sind dort unter den Nähten gefangen – ach! wie froh war ich damals, daß ich eine Handarbeit kannte.«

»Ich arbeite aber nicht bloß, damit meine Hände etwas zu tun, sondern auch, damit meine Zähne etwas zu kauen bekommen.«

»Ich bemerke seit geraumer Zeit,« erwiderte Olympia, »die Lektüre des Tacitus bewirkt einen ganz besonderen Humor bei Ihnen.«

»Daß ich nicht wüßte, es ist mein völliger Ernst, ich will durch mein Handwerk künftig für meine Nahrung sorgen.«

»Wozu hätten Sie denn aber so viele Kenntnisse gesammelt? Ich will nicht hoffen, daß es bloßer Egoismus war. Mein Vater will sein Institut erweitern und da sollen Sie ein Hauptlehrer werden; wollen Sie nicht mein Kollega sein?«

»Ich muß leider nein sagen. Nennen Sie es immerhin Egoismus, ich habe die nächsten Pflichten gegen mich, und muß erst mit mir im reinen sein: kann ich dann etwas lehren, was den Menschen nützlich ist, werde ich's bedenken, aber nie und nimmer werde ich die kleinste Überzeugung für ein vergängliches Gut verhandeln.«

»Sie erscheinen doch stets wie der Deus ex machina,« sagte Olympia zu dem eintretenden Oldenburg, »wissen Sie schon, Ihr Taufpate bereitet sich vor, erbgesessener Meister eines Handwerks zu werden?«

»Ein Apostel aller Lande, wollen Sie sagen,« entgegnete Oldenburg.

»Wär's noch eine Beschäftigung,« fuhr Olympia fort, »wie sie die großen Weisen und Staatsmänner des Altertums hatten, der Feldbau, das ließe ich mir noch zur Not gefallen; es liegt etwas Großes darin, so die Extreme zu vereinigen und mit dem gebildetsten Geiste die Arbeit des rohen Naturmenschen zu verrichten, selbst die des Fischers und Zimmermanns hat noch etwas Poetisches; aber in einem Winkelzimmer Gläser zu schleifen, da verdumpft und verkrüppelt Leib und Seele. Mir kritzelt's in der Vorstellung, wenn ich nur an Glasschleifen denke. Die Hand eines Philosophen, die das Rad einer Maschine dreht und sich mit dummem Handwerkszeug abmüht: das ist ein widerwärtiger Gedanke.«

»Schelten Sie das Handwerkszeug nicht,« entgegnete Spinoza mit besonderem Ernste, »es ist ein Attribut der Menschennatur. Das Tier hat nur seine natürlich angeborenen Werkzeuge zum Bau seines Nestes, zur Erlangung seiner Nahrung, zu Verteidigung und Angriff; der Mensch hat die außer ihm liegenden Erzeugnisse der Natur zu seinen Gliedmaßen gemacht: fehlt ihm die Flugkraft des Vogels, die Schnellfüßigkeit des Hirsches – Pfeil und Kugel überholen beide; seine Hände können nur mühsam den Boden aufgraben, er schmelzt das Eisen und spitzt es zu Hacke und Pflug und jocht die Kraft der Tiere ein, und Baum und Stein zerschneidet und formt er. Die friedlich bildenden und schaffenden Werkzeuge sind das edelste Erbe der Menschheit, sind heilige Überlieferungen. Wer ein verbessertes Werkzeug den Nachkommen übergibt, reicht ihnen die helfende Hand, und hier gibt es Tausende unsterblicher Geister, die namenlos fortwirken. Könnte ich in Denken und Tun etwas hervorbringen, das den Menschen außer mir zur Erkenntnis und Verschönerung des Lebens dienen kann, ich wäre glücklich: nie aber darf man vergessen, daß alles Überlieferte nur Werkzeug zu eigenem Schaffen ist.«

»Das ist alles schön und sinnreich,« sagte Olympia, und nach Frauenart einen einzelnen Gedanken herausreißend, fuhr sie fort, »das können Sie ja aber alles denken, ohne selbst Handwerker zu sein. Warum wollen Sie sich mit heiligen Äxten, heiligen Hacken und heiligen Feilen belasten?«

»Weil ich, um in Ihrer Weise zu antworten, mit einem heiligen Körper belastet bin, der sein Futter will; und an dem Handwerke, das ich gewählt habe, will ich Ihnen noch dazu alle Künste der Dialektik vordemonstrieren: zwei hohlgeschliffene Gläser aufeinander gelegt, zeigen einen durch sie betrachteten Gegenstand verkehrt, das Reflexionsglas dazwischen bringt ihn in seiner wahren Gestalt näher.«

»Wann bist du geboren?« unterbrach ihn Oldenburg.

»Eine sonderbare Frage, Herr Gevatter,« erwiderte Spinoza, »wenn du's noch nicht weißt, im November des Jahres 1632.«

»Das paßt vortrefflich,« fuhr Oldenburg fort, »du hast wohl nie etwas von dem Görlitzer Apostel gehört, der ewig in apokalyptischer Ekstase faselte? Im November 24 hat er das Zeitliche gesegnet; er war seines Handwerks ein ehrsamer Schuster, und ich werde nun aus der Apokalypse beweisen, daß sieben Jahre nach seinem Tode ein neuer Philosoph geboren werden mußte, der auch ein Handwerker ist.«

»Ihr Beispiel hinkt,« sagte Olympia, »denn Ihr Jakob Böhme war ein Schuster und wurde als solcher ein Philosoph, während unser Malediktus vom Philosophen zum Handwerker wurde.«

»Verzeihen Sie,« sagte Spinoza, »der Witz hinkt nicht, sondern hat ein Überbein, denn es sind acht Jahre von 24 bis 32.«

»Tut nichts,« versetzte Oldenburg, »so ein Jahr wird doch amputiert werden können. Aber ernstlich, du beleidigst deine Freunde durch den Zweck, den du mit deiner Lebensart erstreben willst; mir ist die Sache so selbstverständlich, daß ich nicht nur vor unserer Freundin, sondern vor jedem darüber sprechen könnte. Hast du mir nicht selbst zugestanden, daß unter Freunden alles gemeinsam sein muß? Sind wir so ätherisch, daß wir bloß klingende Worte und Gefühle und nicht auch unser klingendes Geld einander mitteilen dürfen?«

»Ich erkenne dein freies Herz und du weißt, wie ich dir dadurch am besten danke,« entgegnete Spinoza, »aber ich habe dir schon gesagt, daß ich nie ein Geschenk von einem Freunde annehme, so lange ich von meiner Hände Arbeit leben kann.«

Spinoza ließ sich durch nichts abhalten, sein Handwerk emsig zu betreiben.


 << zurück weiter >>