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»Die Juden wollen Alarm gegen dich schlagen, sie betrachten dich als Ausreißer und wollen, daß du wieder zur Fahne zurückkehrst.« So sagte Oldenburg zu Spinoza, als er mit Meyer in dessen Zimmer trat.
»Fürchte nichts,« sagte Meyer, »du hast dich so hoch hinaufgebettet, daß ihnen der Atem ausgeht, bis sie zu dir hinaufkommen.«
»Wie wär's,« fragte Oldenburg wieder, »wenn du dich, während sie nach dir fahnden, unter eine andere Fahne begeben und dich in eine andere Uniform gesteckt hättest?«
»Du hast doch einst den Turenne so sehr gelobt,« entgegnete Spinoza, »weil er das nicht tat? Ich wüßte nicht, welche Uniform mir paßte.«
»Du hast recht,« sagte Meyer, »müßte ich dir eine Uniform zuschneiden, ich würde die ganze Himmelsdecke dazu verbrauchen, und Sonne und Mond dir als Ordenszeichen an die Brust hängen.« Ein Gelächter entstand und Oldenburg begann wieder: »Wozu diese Plänkeleien? wir müssen der Sache auf den Leib rücken; Meyer von seinem hiatromathematischen Standpunkte aus, behauptet immer, das Streben aller Vernünftigen müsse dahin gehen, allen positiven Glauben und vornehmlich alle Autorität der Bibel auszurotten. Luther, sagt er, habe den Traditionsglauben gestürzt, er habe uns aber auf den unfruchtbaren Sand des bloßen Bibelwortes gesetzt, er beruft sich sogar auf dich und sagt, du hieltest nichts von den Propheten und den heiligen Geschichten.«
»Wenn er das tut, so hat er unrecht. Ich glaube, die Prophetie kann vermöge ihrer inneren Anschauung oder Phantasie, die wir als unmittelbare göttliche Gabe bezeichnen können, das Wahre oft ebenso richtig erkennen als die sich immer klar bewußte Vernunft; nur weil jene sich noch auf der niederen Stufe der Wahrnehmung hält, ist sie dem Irrtum auch mehr bloßgestellt als die reine Vernunft. Theologie und Philosophie sind sich nicht einander entgegengesetzt, sie beruhen bloß auf ganz anderen Grundlagen. Ich bin von dem ewigen und unerschöpflichen Nutzen vieler der sogenannten heiligen Geschichten für das gemeine Volk überzeugt. Wer an sie glaubt und sein Leben danach einrichtet, hat als Erbe sich eine große Summe von erfahrungsmäßigen Wahrheiten angeeignet, zu denen eine geringe Anzahl Menschen, die nicht daran glauben mag, nur unmittelbar durch ihre Denkkraft und somit aus sich selber heraus gelangen können. Jene wie diese sind selig, diese aber noch seliger, weil sie aus sich selber die Gesamtheit ihrer von der Natur gegebenen Gesetze erforschen; die Bibel kann den Anspruch auf diese für alles ausreichende Gesamtheit nicht machen und hat ihn auch nie gemacht, sie ist ein nach und nach entstandenes Werk mit mancherlei Äußerlichkeiten; ihr Zweck ist nicht Wissenschaft und Denken, sondern Glauben und Handeln, und darum ist es gut, daß wir einsehen, wie wir alles ebensogut und noch bestimmter aus der eingeborenen Denkkraft schöpfen können.«
»Siehst du, da hab' ich wieder meine Erbsünde,« fiel Meyer ein; »zuerst sagte man: die menschliche Natur ist von Grund aus und ursprünglich schlecht, sie kann das Höhere gar nicht erfassen, und dann sagte man: deshalb muß eine übernatürliche Offenbarung sie aus diesem Zustande erlösen. Man schlug der Menschheit ein Bein ab und triumphierte: seht ihr's? sie kann nicht allein gehen und stehen, drum muß man ihr einen Stelzfuß anschnallen und alle Sonntage nach dem Riemenwerk sehen, damit die Menschheit wieder sieben Tage laufen kann.«
»Meyer! du willst nur immer die Hinterlassenschaft der Erbsünde bereichern,« sagte Oldenburg und fuhr, zu Spinoza gewendet, fort: »Sage mir offen: bist du denn nicht überzeugt von der Abgelebtheit und einengenden Beschränktheit des Judentums?«
»Das ist viel gefragt; aber ich muß dir vorerst wiederholen, daß kein Glaube uns jene wahre Seligkeit bietet, die allein aus der Erkenntnis der inneren Notwendigkeit unserer Naturgesetze entspringt. Schon längst ist es so weit gekommen, daß man fast niemand mehr, wer er sei, ob Christ, Türke, Jude oder Heide als solchen erkennt, sondern nur nach den äußeren Sitten und Gebräuchen, oder weil er diese oder jene Kirche besucht, dieser oder jener Meinung anhängt und auf die Worte irgend eines Meisters zu schwören pflegt. Das eigentlich Entscheidende und Maßgebende ist schließlich der individuelle Charakter; darum neigen die Bekenner ein und desselben Glaubens, ja oft die Bekenner ein und desselben philosophischen Systems zu so verschiedenen Gestaltungen ihres eigenen und des gesamten Lebens. Was nun das Judentum betrifft, so erkennt dieses selber einen gottseligen Lebenswandel unabhängig von jener bestimmten Offenbarung als Gesetz an; Noah, Abraham, Isaak und Jakob werden als gottselig gepriesen, obgleich sie lange vor der Offenbarung auf Sinai lebten. Moses, vermöge seiner erhabenen göttlichen Eigenschaften, gab dem Volke das Gesetz als Recht, als Staatsverfassung. Diese ist zertrümmert; das Urrecht, aus eigener Erkenntnis sich die göttlichen Gesetze zu begründen, tritt also auch im Judentume mit allgemeiner Geltendmachung ein.«
»Mir waren die Juden stets ein merkwürdiges Phänomen der Geschichte,« sagte Meyer. »Die Juden müssen so lange bestehen, als es eine positive Religion gibt. Diese wunderbare Zähigkeit, mit der sie die fürchterlichsten Schläge des Geschicks überdauert haben, muß den Beweis in sich tragen, daß ihre Mission noch nicht erfüllt ist, und daß sie im Verlaufe der Geschichte noch einmal einen mächtigen Hebel bilden können,«
»Dir gefallen solche Abnormitäten –,« sagte Oldenburg und Spinoza erwiderte: »Es gibt keine Abnormitäten, alles hat seinen bestimmten Grund, aus dem es notwendig und folgerecht in solcher Ordnung hervorgehen muß. Wenn nicht die Einrichtungen ihrer Religion sie ihrer Männlichkeit beraubten, so würde ich unbedingt annehmen, daß die Juden, wie das bei dem Wechsel der menschlichen Dinge wohl möglich ist, einst, wenn sich die Gelegenheit gibt, ihr Reich wieder errichten und Gott sie von neuem erwählen könnte. Wir haben hievon ein Beispiel an den Chinesen, die ihr Reich wieder erlangt haben. Aber die Mission der Juden ist wohl erfüllt, es ist bei ihrer Erhaltung durchaus nichts Wunderbares; nur der Haß der Nationen hat sie erhalten, und sie selber haben sich dann durch ihre Gebräuche von allen Völkern abgesondert. Diese Gebräuche können fallen wie alle übrigen Zeremonialgesetze, die nur lokale Geltung hatten, und der Haß der Nationen kann sich in Liebe verwandeln.«
»Ich wäre stolz darauf, ein Jude zu sein,« sagte Meyer; »man ist in entschiedener Opposition gegen allen Schlendrian geboren und stellt den Riß, der durch das Herz der jetzigen Menschheit geht, in sich unmittelbar dar. Der von seiner eigenen ohnedies zerrissenen Tradition freigewordene Jude ist der eigentliche unbefangene Fremdling in der Welt, ausgerüstet mit allen Waffen des männlichen Geistes und doch wie mit unbestochenem Kinderauge die ganze historisch gegebene Welt prüfen und umstellen, das ist ein Vorzug und eine Freiheit, die kein anderer sich so leicht erringen kann. Wir anderen haben alle zu viel teil an der Weltherrschaft und zu viel Schonung und Gewöhnung dafür. Und schon in der großen Weltgeschichte zeigt sich's, daß die Erneuerung der ganzen Welt nicht von den herrschenden Völkern ausging; kein Grieche, kein Römer brachte die neue, die ganze Welt umgestaltende Lehre, sie ging aus dem verschmähten, unterdrückten und von der eigentlichen Weltbewegung ausgeschlossenen Volke hervor. Im Altertum lebte der Mensch in vollkommener Einheit: die Religion war Staatsverfassung und die Staatsverfassung Religion. So war es in Rom und Athen, in Ägypten und China, und am vollkommensten in Palästina. Mit der Zerstörung des jüdischen Staates und mit dem Auftreten des Christentums gab es erst eine Religion als solche, denn jetzt erst wurde sie losgeschält vom Staate. Zweierlei Mächte waren es fortan, die den Menschen in Beschlag nahmen und ihm seine Einheit raubten: Staat und Kirche. Das Christentum hat im Papismus bis jetzt gerungen, beide wieder zu vereinigen; die Macht des Papismus ist gebrochen, die alte Zweiheit ist wieder da, und das Christentum gibt keine Staatsverfassung.«
»Ich glaube, wir haben die Rollen gewechselt,« erwiderte Spinoza, »das Christentum hat sich nicht an Nationen und Staaten, sondern an die Menschheit, an den allgemeinen Menschen gewendet, um ihn innerlich frei zu machen; nie wollte es äußeres Gesetz sein. Vermöge der Erkenntnis unserer inneren Gesetze können und müssen wir Staat und Kirche einrichten, in beiden aber dem Forschergeiste, der alles in Frage stellen darf, freien Spielraum lassen, sonst legen wir wieder durch äußere Gesetze unsere innere Freiheit in Banden. Die zeitlichen religiösen und politischen Beigaben der Christuslehre sind eben nur zeitliche. Wenn Christus sagt: »Schlägt man dich auf den rechten Backen, so reiche auch den andern dar« (eine Verhaltungsregel, die auch Jeremias in seinen Klagliedern gibt), so kann das nur zu einer Zeit der Unterdrückung und Rechtlosigkeit gelten; sonst aber ist es pflicht- und vernunftgemäßer, dem, der dir einen Schlag gibt, zwei dagegen zu geben, oder ihn, wo das Recht herrscht, vor Gericht zu belangen, damit die Lasterhaften nicht gewonnen Spiel haben mit ihrer Lasterhaftigkeit.«
»Mit allen diesen Ansichten,« sagte Oldenburg, »würde ich nicht lange anstehen, mich zur christlichen Religion zu bekennen; du brauchst es nicht aus Überzeugung für das Positive derselben zu tun; ich schlösse mich an deiner Stelle dadurch nur der größeren und bildungsreicheren Menge an, die auch den bedeutendsten Einfluß auf die Geschichte der Zeit zu üben vermag. Es ist nicht Eitelkeit, wenn man einen unschönen Auswuchs im Gesichte ausschneiden läßt; man unterwirft sich dadurch nur der Pflicht gegen sich und andere, alles Störende abzutun.«
»Und ich,« sagte Meyer, »ich würde dich von diesem Tage an nicht mehr so schätzen und achten können, du wärest dir selber abtrünnig geworden. Aber wie ich höre, minnest du ja die heilige Olympia. Nun, das ist doch ein universelles Mädchen! Zuerst hat sie einen Katholiken, dann einen Reformierten zum Geliebten gehabt; jetzt hat sie einen Juden und, wie ich glaube, in dem Kerkering einen Lutheraner als Kebsgeliebten daneben, ist sie mit euch beiden fertig, verschreibe ich ihr einen Türken.«
»Spotten und Witzeln ist deine Erbsünde,« entgegnete Spinoza streng, »aber ich verlange, daß du mit Ehrerbietung von Olympia sprichst.«
»Ach, die hochgelahrte Olympia!« scherzte Meyer, »sie kann amo im Präteritum vollkommen konjugieren; doch, ich muß ja ernsthaft sein. Zuerst war ein Maler, der ein paar Monate hier in diesem Zimmer gewohnt hat, von ihr bezaubert. Es war ein blutjunger Mensch, mit ausgezeichnetem Talente und übersprudelnder Gemütsfülle; ich kam damals selber häufig in das Haus des van den Ende und gestehe, daß ich nicht wenig dazu beitrug, daß van der Spyck das Verhältnis löste. Hätte ich aber vorher gewußt, was daraus erfolgt, ich hätte meine Hand nicht dazu geboten; denn van der Spyck ergab sich von da an dem Trunk, sank von Stufe zu Stufe immer niederer, bis er es endlich hier nicht mehr aushielt und nun unstet und flüchtig in der Welt umherirrt. Sowohl van der Spyck als Olympia wendeten ihren Groll gegen mich; ich kam seitdem nicht mehr in das Haus meines Kollegen. Der zweite Geliebte Olympias war ihr Musiklehrer; der schwamm ewig in lauter Musik, er war nie zu sehen ohne ein Musikheft unter dem Arm, und wo er ging und stand, bewegten sich seine Finger wie zum Orgelspiel. Ich glaube, daß er mit einem Notenblatt unter dem Arm auf die Welt gekommen ist, und daß er schon seinen ersten Schrei aus D dur tat; ach! der schwärmte mit Olympia im Reich der Töne. Den wies nun der Brummbaß des Vaters aus dem Paradiese. Denke dir aber die fürchterliche Prosa: der Mensch hätte doch wenigstens mit einem Pistolenschuß sich das Finale machen sollen, aber grausam! nicht volle acht Tage darauf hat der Musikschlüssel schon ein anderes Schloß aufgemacht, er ist verlobt mit der Tochter des Aufsehers bei dem Huys te Sinnelust; Eine Art Konzertsaal mit verschiedenen seltenen musikalischen Instrumenten. er erhält das Amt seines Schwiegervaters und lebt nun mit seiner musikalischen Ehehälfte ein bürgerliches Andante. Ich will nur sehen, wie es mit Euch schließen wird.«
Spinoza ging nachdenklich und ärgerlich im Zimmer auf und ab; es war ihm fast wieder so wie damals, als Chisdai das lichte Bild Olympias mit seinem Zelotismus begeiferte.
»Ich begreife dich nicht,« sagte Oldenburg, »du täuschest dich gewiß, wenn du glaubst, du liebst sie; diese Gemütsruhe, dieses Versenken in Gedanken, die zur Liebe in keinem Bezuge stehen, wäre nicht möglich, wenn das wahre Liebesfeuer dir durch die Adern flösse.«
»Kennst du denn alle Besonderheiten der Liebe in den verschiedenen Individuen, um das so bestimmt und unbedingt auszusprechen?« fragte Spinoza.
»Ich kenne die Liebe, und war ich auch stürmischer als mancher andere, so kenne ich doch ihren ewigen Urquell, der bei allen derselbe sein muß. Meine Bekanntschaft mit Olympia datiert von meiner Liebe her; Maria war die Freundin Olympias. Inniger als ich hat wohl nie ein Mensch geliebt; mit Mitleid und Hohn sah ich auf die Alltagsmenschen herab, die den Tag über an ganz andere Dinge denken und ein beliebiges Geschäft treiben, Physik studieren, Staatsakte ausfertigen, Handelsbriefe schreiben können, und dann, wenn das Tagewerk vollendet ist, oder ein Sonntag im Kalender steht, mit dem Liebchen einen Spaziergang machen. Die trefflich eingeschulten Herzen, wie eng und kalt erschienen sie mir, der ich keinen anderen Gedanken kannte, kein anderes Gefühl wollte, als die Liebe allein. Ich hatte eine neue Seele gewonnen mit einer unzerstörbaren Einheit, denn der eine und ewige Gedanke war nur sie, und sie allein. Wenn ich den süßen Atem Marias einsog, oder wenn ich in der fernen Heimat einsam wanderte, immer war ihre Seele bei mir; überall dachte ich, bald ist sie hier mit dir, du nennst sie dein – ich schauderte oft vor der unendlichen Überschwenglichkeit dieses Glücks, es war zu groß, ich hätte es nicht ertragen können. – Ich wurde schmählich um die Geliebte und um den besten Teil meiner Gefühle betrogen. Eine andere Liebe? ich mag und darf sie nicht wünschen; war mir's versagt, in jenem ersten Feuer der Liebe meine Seele aufgehen zu lassen, so verachte ich jene bürgerlich wohlerzogene Liebe, ich bin froh, daß ich zu alt bin, um noch einmal einer Versuchung ausgesetzt zu sein; ich habe einen Wirkungskreis gefunden und Beruhigung in ihm.«
»Die Ehe ist ein heiliges und ewiges Naturgesetz,« erwiderte Spinoza, »sie ist des Menschen schönste Zierde, wenn sie aus reiner vernünftig bewußter Neigung geschlossen wird.«
»Ich will die Ehe nicht angreifen,« entgegnete Oldenburg, »aber das ist ein Fluch, der auf der Menschheit lastet, je weiter sie voranschreitet, daß es immer unmöglicher wird, gerade dann ihres Genusses teilhaftig zu werden, wenn die Natur es erheischt. Was sollen Kunst und Wissenschaft und Industrie? Mögen sie alle zu Grunde gehen, wenn nicht der Mensch –«
»Der kann,« unterbrach ihn Spinoza, »naturgemäß leben, wenn er früh gelernt hat seiner Leidenschaften Herr zu sein, und den ewigen Vernunftgesetzen gemäß zu handeln. Freilich, dazu ist nötig, daß diese nicht als äußere uns aufgedrungene erscheinen, denn sonst wird die äußere Macht der Leidenschaften sie oft im Kampfe besiegen; haben wir aber, vermöge unserer inneren Vernunftgesetze, die Nichtigkeit aller Macht und alles Genusses der Leidenschaft erkannt, so führen wir ein Leben, wie es unsere wahre Natur erheischt.«
»Es ist nicht Allen gegeben,« entgegnete Oldenburg, »gleich dir der Welt den Rücken zu kehren, oder vielmehr in dem Himmel des eigenen Selbstbewußtseins sich über ihr zu wiegen; es gibt stürmische, drangvolle Geister, die nur ein glücklicher Leichtsinn in dieser Welt voll nichtiger Wichtigkeiten, voll notwendiger Willkür lebensfroh erhalten, und vor Wahnsinn und Verzweiflung wahren kann.«
Mit mildem Tone lenkte Spinoza das Gespräch wieder zurück, indem er sagte: »Ich kehre der Welt den Rücken nicht, wie du glaubst; und genieße sie in meiner Weise vollauf.«
»Und betrügst dich, wenn du glaubst, sie mit Olympia noch mehr zu genießen.«
»Oldenburg, du hast zu hoch gespannte Ansichten von der Ehe,« bemerkte Meyer; »glaube mir, ich habe jetzt die zweite Frau, und lebe stets zufrieden; man wird in der Ehe weder so glücklich, als die Schwärmerei hofft, noch so unglücklich, als sie fürchtet. Meine jetzige Frau kannte ich vor der Hochzeit nur wenig, wir lernten uns nach und nach kennen und aneinander gewöhnen. Was man von Seelenharmonie träumt, ist gar nichts Wesentliches, meine Frau zum Beispiel ist echt frommgläubig, und doch leben wir einig, ja es wäre mir sogar nicht lieb, wenn sie nicht so wäre; dieser stille Glaube gibt den Frauen einen besonderen Reiz. Ich habe zwei gesunde muntere Jungen, habe ein geordnetes Hauswesen, und darf sagen: ich lebe glücklich.« »Du weißt, ich achte und verehre Olympia von Herzen,« sagte Oldenburg, »aber eine Verbindung mit ihr muß ich dir widerraten. Ich mische mich nur mit Widerstreben in diese Angelegenheit und würde es auch noch jetzt unterlassen, wenn ich nicht deine beneidenswerte Kraft kennte, trotz alles Widerstreites dir jegliches rein und heilig zu erhalten. Hier aber laß dich bekehren. Es ist die erste Liebe nicht, mit der Olympia dir zugetan ist; der frische Himmelstau ist weg, diese Lippen haben schon einen anderen geküßt, dieses Herz hat schon für einen anderen geschlagen, und – du darfst mir's nicht verargen, daß ich es sage – es ist die wahre Liebe nicht, die du gegen sie hegst, sonst könntest du unmöglich in diesem ruhigen Gleichmut dich bewegen.«
»Ich muß dir abermals wiederholen,« entgegnete Spinoza, »daß es nichts wahrhaft Wünschenswertes gibt, das vernünftige Überlegung nicht ebenso tief und noch weit dauernder erfassen könnte, als Schwärmerei und ungestüme Leidenschaft.«
»Mir fällt etwas anderes ein,« sagte Meyer, »wäre es, positiv-rechtlich gefaßt, nicht gestattet, daß Juden und Christen einander heiraten?«
»Kein Rabbine auf Erden könnte ein positives Hindernis dagegen aufbringen. Die Christen sind, vom jüdischen Standpunkte aus betrachtet, nur eine jüdische Sekte, daß ihre Zahl im Verlauf der Geschichte die größere wurde, verändert an dem Sachverhalt nichts. Wir haben unter den Juden Sekten, ja sogar unter den Talmudisten einzelne, die den Glauben an einen Messias als unwesentlich nicht zu den Grundgesetzen der Religion rechnen. Es kann also eine gegenseitige Verschwägerung zwischen Juden und Christen nicht verboten werden.«
»Solange diese Wechselheiraten nicht stattfinden werden,« begann Meyer wieder, »wird das Gehässige, das sich an den Namen ›Jude‹ knüpft, nicht unter allen Verhältnissen ausgerottet werden können. Nun wäre ich fast doch für diese Verbindung, es wäre großartig, wenn du auch hierin der jüdische Erlöser werden könntest. Aber nein, du mußt nicht nur Jude, du mußt auch Junggeselle bleiben. Nur so vollführst du deine Mission. Wer sich an das Familienleben und die Gesellschaft anschließt, dessen geradliniges, streng folgerichtiges Leben und Denken wird durchschnitten und unterbrochen. Ablenken, Umbiegen ist notwendig gegeben, und ich merke es schon an meinem Berufe, was es heißt, von den tausend einzelnen Erscheinungen des Lebens den Blick immer bald da, bald dorthin ablenken zu lassen. Die stetige, ununterbrochene Strömung zwischen der denkenden Seele und einem Gedanken, den sie sich vorgesetzt, wird so vielfach durchkreuzt und unterbrochen; die Brutwärme verflüchtigt sich, erkaltet, und muß immer aufs neue wieder erregt werden. Darum freue dich, daß du Jude von Geburt bist und ein Junggeselle durch Geschick und freien Willen bleiben sollst.«
Zum ersten Male war Spinoza froh, als die beiden Freunde sich entfernten. Von allen Neigungen des Menschen scheint die Frauenliebe allein dem Glauben ähnlich: ihr letzter Grund beruht allein in der Persönlichkeit, deren gerechtes Anschauen, keinem anderen erkenntlich, es zum Frevel macht, sie anzutasten. Warum mußte Spinoza von einer Liebe erfüllt sein, die mit solchem Widerstreit gegen die Welt verknüpft war und daher jedem und besonders den Freunden ein Recht gab, sie zu durchforschen? Einer minder streng und unnachsichtlich nach innerer Wahrhaftigkeit strebenden Natur hätte solcher Eingriff den sanften Schmelz stiller Empfindung verwischt und ihn bitter gegen die Freunde oder selbstzweiflerisch in sich gemacht. Spinoza lernte auch hierin aus der klaren Erkenntnis sich jene Weihe erringen, die man sonst nur der unvermittelten Empfindung zuzuschreiben gewohnt ist.