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»Wie gefällt Ihnen Kerkering?« fragte eines Tages Olympia, als dieser nicht zu dem Unterrichte gekommen war.
»Wie Ihnen,« antwortete Spinoza.
»Sie bauen vielleicht doch zu viel darauf, daß wir uns so oft gegenseitig das Wort vom Munde wegnehmen,« antwortete Olympia: »was haben Sie an ihm zu tadeln?« Spinoza ward feuerrot, da er hierauf geradezu Antwort geben sollte; denn teils hatte er im stillen einen ähnlichen Tadel schon auf Olympia ausgedehnt, teils fürchtete er auch, daß Olympia seine Worte als Eifersucht mißdeuten konnte. Im Nu waren diese widersprechenden Gedanken gekommen und gegangen, und nach einer kleinen Pause fuhr Olympia fort: »Kerkering hat ein von Grund aus gutes Herz; seine Redseligkeit ist ein Nationalfehler der deutschen Hansestädter.«
»Nun sehe ich doch,« entgegnete Spinoza, »daß die Juden nicht allein das Schicksal haben, daß man vom ersten besten, der einem in den Wurf kommt, auf ihre Gesamtheit urteilt. Aber beachten Sie doch nur die Geschlossenheit und beständige Richtung nach dem Ethischen im Wesen unseres Oldenburg; warum machen Sie diese nicht zum Typus der deutschen Hansestädter?«
»Sie haben recht,« entgegnete Olympia, »aber Sie bringen mich noch soweit, daß ich mir gar kein Urteil mehr erlauben werde; ich lasse mich stets zu sehr von den nächsten Gegenständen bestimmen, und Sie fassen überall das Allgemeine so scharf.«
»Nennen Sie es nicht Männerstolz,« fiel Spinoza ein, »aber Sie bestätigen mir eine Wahrnehmung, die mir schon bei meinen Schwestern und deren Freundinnen auffiel: die Frauen scheinen selten Freude an der lautern Gerechtigkeit zu haben, sie urteilen nicht über die Tat, sondern über den Täter, und über diesen mit Zuneigung oder Abneigung.«
»Immerhin. Wir sind nicht für die Philosophie auf der Welt. Darin sind Sie also doch mit mir einig: Sie lieben auch nicht das prahlerische Klimpern mit allzeit fertigen Gedankenmünzen; läßt man diese Rechenpfennige allstündlich kursieren, so werden sie abgegriffen, verlieren alles frische Gepräge und behalten nur noch den einmal bestimmten Nennwert. So geht's Kerkering; an wahrem innerem Reichtum fehlt es ihm.«
»Es ist alles gut ausgeglichen,« sagte Spinoza, »er hat desto mehr von klingender Materie.«
Olympia schien nicht auf diese Wendung eingehen zu wollen, denn sie fuhr jetzt seltsam mit den Augen zwinkernd fort: »Unser Freund Oldenburg will immer, ich solle mich auch gleich meiner Namensschwester Olympia Morata in Poesien versuchen; aber ich muß bekennen, daß ich die Dichter nicht minder verehre als bemitleide, weil sie das Tiefinnerlichste ihrer ganzen Persönlichkeit vor den Augen der ganzen Welt darlegen können und müssen. Ich meine, wenn ich mein Eigenstes, das was den Kern meines Wesens bildet, hinausgegeben hätte an die Welt, ich hätte mich selbst nicht mehr: die Welt hat mich, ich bleibe nur ein Schatten dessen, was ich hergegeben, und ich müßte dann urplötzlich vergehen. Da halte ich es lieber mit den Philosophen des Altertums, die machten nie ihr eigenstes Gemüt zum Gegenstand der Darstellung, sie hatten eine esoterische Lehre, die nur in Symbolen, nie in Worten heraustrat.«
»Mit der Idee, von der Sie ausgingen,« sagte Spinoza, »bin ich ziemlich einverstanden; wäre ich Theologe, so konnte ich hier eine Allegorie daraus machen, daß der Hohepriester im Tempel zu Jerusalem nur einmal des Jahrs mit Gefahr seines Lebens das Allerheiligste betrat, von dort den unaussprechlichen Namen Jehovahs aussprach, daß alles Volk, das draußen stand, auf das Antlitz niederfiel. Durch einen kleinen »frommen Betrug« könnte man der Sache die Idee unterschieben, die Sie in anderer Weise soeben ausgesprochen; aber ich liebe das Ausdeuteln nicht, es ist meist Selbsttäuschung oder noch Schlimmeres.«
»Nehmen Sie doch die Sachen nicht so barbarisch genau, das ist ja herrlich ausgedrückt: nur einmal, wenn die Gottheit sich mit der Menschheit eint, darf das Allerheiligste des Herzenstempels geöffnet werden und das Unaussprechliche im Worte sich verkörpern. Ja, es gilt auch als Symbol für manche gewöhnliche Lebensverhältnisse: im alltäglichen Umgange sollen die uns nahe stehen, an einzelnen Ritzen, die sich öffnen, ahnen, was drin im Herzen verschlossen ruht und nicht ausgesprochen werden mag.«
»Ahnung, auch die zuversichtlichste schließt doch Täuschung in sich.«
»Nein, hier nicht, hier gewiß nicht. O! es ist ein seliges Bewußtsein, das Wort verschmähen zu können, und dennoch mit untrüglicher Zuversicht zu wissen, daß alle Wurzeln unserer Seele tief, wo kein Auge hindringt, freundlich verschlungen sind mit einer anderen. Was ist höher, als sich bei den tausend Begegnissen des Lebens so still ins Auge sehen zu können, und zu wissen: da drin lebt alles in gleicher Kraft und unzerstörbarer Harmonie wie in dir selber?«
Es war ein Blick voll unaussprechlich innigen Verlangens, mit dem Olympia auf Spinoza sah; ein dunkles Rot durchschoß ihre Wangen, ihre Lippen zuckten fieberhaft, ihr ganzes Wesen war Hingebung. – Spinoza schaute sie mit ruhiger Miene an. Sollte der Mann, der ein so feines Gefühl besaß, um den leisesten Regungen des Denkens und Empfindens nachzugehen, sollte er nicht einsehen, wie hier eine Seele nach bewußter Einigung mit ihm rang? Fühlte er nichts für sie, oder kämpfte er mit starkem Willen eine Neigung nieder, die ihm und Olympia nur Kummer und Unglück bringen konnte? –
»Das Unausgesprochene, von dem Sie reden,« sagte er nach einer peinlichen Pause, »muß, wie ich täglich mehr einsehe, bei dem, was wir über Gott und Natur denken, am ehesten ein solches bleiben; man wird meist nur halb verstanden oder mißverstanden.«
Es ist klar, er hatte Olympia erkannt, und wollte ihre Gedanken nur auf einen anderen Gegenstand lenken.
»Ich werde morgen nicht zu ihnen kommen können,« fuhr Spinoza fort, »meine Schwester Miriam verheiratet sich morgen mit dem jungen Casseres; wenn sie nur recht glücklich wird! Sie versteht mich noch am meisten, wir plauderten oft halbe Nächte lang miteinander.« Diese Ablenkung hatte den beabsichtigten Erfolg nicht.
»Sie sind doch um vieles glücklicher als ich,« entgegnete Olympia, »ich stehe so ganz allein. Meine Mutter habe ich nie gekannt. Sie können nicht ermessen, was das für ein Mädchen heißt: die Mutter nie gekannt zu haben; ich habe schon oft darüber nachgedacht, gewiß, es wäre was ganz anderes aus mir geworden, wenn ich nicht unter Männern aufgewachsen und nicht bloß von meinem Vater erzogen worden wäre. Der gräßliche Krieg hat mir meinen einzigen Bruder geraubt; meine Cousine Cäcilie, die seit meines Vaters Abreise bei uns im Hause ist, war seine Braut – ach! Sie hätten sich mit meinem Kornelius gewiß innig befreundet, vielleicht mehr als mit mir.«
»Das gewiß nicht – aber es ist eigen, daß Sie beide so heidnische Namen haben.«
Wollte Olympia auf diese Worte nicht eingehen oder überhörte sie dieselben wirklich? genug, sie fuhr in gleichem Tone fort: »Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wenn doch eines von uns sterben mußte, wär's nicht besser gewesen, ich wäre gestorben? Kornelius hätte der Welt nützen und sie genießen können; aber ich, wozu soll ich leben?«
»Um selbst an sich die Freude zu empfinden, um zu erleuchten und zu entzücken durch Ihren Geist und Ihre anmutsvolle Gestalt,« antwortete Spinoza, und er schalt sich in seinem Innern, denn er glaubte einen Frevel begangen zu haben mit dieser Rede.
»Sie scherzen,« erwiderte Olympia mit Bitterkeit, »einst, ich gestehe es, war ich auch so eitel, das zu glauben, aber ich lernte einsehen, daß mich die Natur mit einem anderen Lärvchen hatte ausstatten und zu einer anderen Zeit hätte in die Welt schicken müssen.«
»Ich bitte,« unterbrach sie Spinoza, »sündigen Sie nicht gegen sich selber; ich weiß gewiß, Sie denken besser von der Welt und von sich selbst. Ich darf Sie nicht loben, Sie sagen ja immer, ich hätte keinen Schönheitssinn.«
Cäcilie trat hier zu rechtem Zeitpunkte ein und befreite die beiden von einer peinlichen Unterredung, Spinoza verabschiedete sich bald darauf. Mit dem befriedigenden Gefühle der Selbstüberwindung ging er nach Hause, denn er glaubte mit männlicher Kraft die ersten Keime der Neigung Olympiens erstickt zu haben; eines gewissen heimlichen Triumphs, sich ohne Werbung von einem solchen Mädchen geliebt zu sehen, konnte er sich jedoch nicht erwehren.
Olympia war den ganzen Abend verstimmt, und als sie sich zu Bett legte, benetzte sie ihr Kissen mit vielen Tränen. »So weit ist es mit dir gekommen,« sprach sie zu sich, »daß du dich einem an den Hals wirfst, und er die Arme schlaff sinken läßt!« Sie seufzte tief, Cäcilie fragte sie oft, was ihr denn fehle; sie gab keine Antwort und tat, als ob sie nicht mehr wach wäre, in der Tat konnte sie aber noch lange keine Ruhe finden. »Er ist ein herzloser, eigensüchtiger Mensch mit frostigem Verstande.« Nein, das konnte sie doch nicht, so konnte sie ihn nicht denken; seine kindliche Bescheidenheit, seine über alles gehende Wahrhaftigkeit und vor allem die unauslöschlichen Zeugnisse des Wohlwollens und der Menschenliebe in seinen Zügen, das sanfte Lächeln seines lieblichen Mundes, die unergründliche Glut seiner schwarzen Augen! – nein, sie konnte ihn nicht zum Zerrbilde machen.
Singend und trillernd stand sie des anderen Morgens auf, und als sie an den Spiegel trat, sprach es aus ihren Mienen: »Nein, so weit ist es noch nicht, und wär' er ein Gott, und dünkte er sich erhaben über alle menschlichen Leidenschaften, es gilt meine Ehre und meine Selbstschätzung, er soll vor mir knieen, und hab' ich ihn dann gewonnen, nun denn, so will ich sehen, was ich beginne.« Mit vergnüglicher Selbstgefälligkeit machte sie ihre Toilette.
Nicht so heiter legte Miriam von Spinoza ihre Hochzeitgewänder an, denn das religiöse Herkommen hat sich hiebei in gar wunderlichen und scharfen Gegensätzen gefallen. Unter den schimmernden Hochzeitskleidern muß die Braut das Hemd tragen, mit dem sie einst in den Schoß der Erde gelegt wird – das Sterbehemd; die schönen Locken Miriams mußten von diesem Tage an unter Schleier und Haube begraben liegen, das große Gebet des Versöhnungstages mit dem langen Sündenregister mußte sie beten, weder Speise noch Trank durfte über ihre Lippen kommen, bis unter dem Trauungsbaldachin ihr der Gatte den Liebestrank im Hochzeitsglase reichte, sie daraus trinken ließ und dann das Glas an der Wand zerschellte.
Das Familienfest, seit ihrer Vertreibung unter alle Völker das einzige was den Juden an Freude verblieben war, erschloß die ganze Fülle seiner innerlich gehegten Lust. Aus der Rührung, die in den Vorbereitungen zur Trauung und in dieser selbst alle Herzen bewegt hatte, erhob man sich jetzt wie entlastet zu freier Heiterkeit. Die Gatten drückten einander die Hände und sagten sich damit, daß man im Anschauen des neuen Bundes den längst geschlossenen innerlich erneue; Jünglinge und Jungfrauen sahen sich erglühend an, und die einen wurden stille, die anderen desto übermütig lauter, um ihre Regung zu verbergen. Ein lärmendes Stimmengewirre herrschte unter den Versammelten und doch klang es jedem wie Harmonie; man drängte sich hin und her und jedes las die Freude aus dem Antlitze des anderen. Man freute sich endlich bei Tische des trauten Zusammenseins und der festen Angehörigkeit, man sprach es aus und trank dabei einander zu, und in diesem Aussprechen der Freude erwuchs dieselbe nur umso höher. Man lobte Braut und Bräutigam, ihre Schönheit, ihre Herzensgüte, ihr künftiges Glück, und empfand einen Abglanz von all diesem in sich selbst wieder.
Baruch war mitten in all der Gemeinsamkeit und Freudigkeit nur umso einsamer und trauriger. War es, weil er an Olympia denken mußte und sich dadurch fremd fühlte oder weil er durch sein Denken überhaupt von der gegebenen Gemeinschaft um ihn her abgelöst war?
Die Mahlzeit war vorüber, die Zigarren dampften lustig, die Gesellschaft gruppierte sich nach Gutdünken und jetzt war das Stimmengewirr noch belebter, daraus oft ein helljauchzendes Lachen auftönte.
Baruch war am Tisch sitzen geblieben, sein Angesicht war glühend rot, denn auch er hatte nicht minder als die anderen wacker von dem »süßen Feuer« getrunken; stillträumend schaute er in den Grund seines Bechers.
Chisdai, der, um seine vormalige Werbung zu verbergen, hier beim Hochzeitsmahle Miriams gesessen hatte, rückte jetzt mit Ephraim Cardoso Baruch näher. »Der Wein erfreut des Menschen Herz« (Ps. 104, 15) rezitierte er, mit lustigem Pathos den Becher schwingend.
»Darum wollen die Talmudisten wahrscheinlich auch,« erwiderte Baruch, »daß man keinen lebendigen Wein genieße, sondern ihn vorher schlachte durch das Hinzugießen von Wasser.« Baruch sprach diese Worte in seinen Becher hinein, Chisdai mußte sie überhört haben.
»Ja,« sagte Ephraim und trank Baruch zu, »unsere Vorfahren haben auch zu leben verstanden. Heißt es nicht im Talmud: der Geist Gottes ruht auf dem Menschen nur in der Freudigkeit? Ich war einmal dabei, als der verstorbene Professor Barläus zu Rabbi Menasse ben Israel sagte: nur die Griechen allein, nicht einmal die Römer, hätten wahrhaft gewußt, wie man angenehm lebt; die Juden hätten sich nur ewig damit beschäftigt, zu ergründen, was Gott sei, wie er sei und wie man ihm dienen müsse; das hätten sie auch in ihrer Art so ziemlich herausgebracht, die wahre volle Lust des irdischen Lebensgenusses sei aber dabei zu Grunde gegangen. Jetzt sollt' er einmal herkommen und sehen, ob wir nicht auch lustig und guter Dinge sein können in aller Gottesfurcht.«
»Du meinst es gut, Ephraim,« sagte Baruch und trank ihm freundlich zu.
»Und wenn's auch wahr wäre, was der Christ gesagt hat,« rief Chisdai und schlug dabei auf den Tisch, »darf man nicht alle Annehmlichkeiten, ja das Leben selbst hingeben für den Preis, daß wir allein die Offenbarung von dem wahren Wesen Gottes besitzen? Wir allein sind frei von jeglichem Wahn und Trug.«
»Ho! ho!« sagte Baruch, »du nimmst den Mund zu voll. Weißt du denn nicht, daß im Traktat Sabbat (und er bemerkte dabei nach Art der Schriftgelehrten die Seitenzahl 32) von dem Talmudisten Rabbi Samuel erzählt wird, er sei nie über eine Brücke gegangen, wenn nicht jemand von einem anderen Glauben mitging, weil gegen zwei Religionen zumal der Satan keine Gewalt haben könne?«
Chisdai kraute sich in seinem jungen Barte und fragte dabei: »Du studierst jetzt die Griechen und Römer, sage mir: findet sich im Judentum nicht alles und noch weit mehr, als alle Wissenschaften aller Völker je ergründen konnten?«
»Betrachte die Sache recht,« antwortete Baruch, »so steht in der Bibel ebensowenig oder ebensoviel von der lauteren Wahrheit als in anderen Büchern; betrachte es unparteiisch, und nicht vom jüdischen Stolze befangen: wird die menschliche Seele nicht bald im Blute bald im Odem steckend gedacht? Ja noch mehr, ist nach allen Stellen der Bibel Gott ein unkörperliches Wesen? Ich weiß wohl, die Bibel soll den Leuten die Sache mundgerecht gemacht haben, aber bedenke nur: Gott wird im Räume gedacht, denn er läßt sich in Wolken und Feuer gehüllt auf den Sinai nieder; in der Vision, da Moses ihn sah, war sein Fußgestell wie weißer Saphir. Und das ist die höchste Wahrheitsidee von Gott? Es finden sich mitunter erhabene und reine Ideen von Gott in der Bibel, aber wie er in den Dingen und aus ihnen ist, wie er sie schafft und erhält, das finde ich stets nur als vorweg angenommen, nie erwiesen. Und selbst das, worauf wir den meisten Nachdruck legen, der Begriff: der eine, der einzige, ist nicht ausreichend und kann nur uneigentlich gebraucht werden; weil wir von der allgemeinen Wesenheit Gottes uns keinen Begriff und Ausdruck bilden können.«
Chisdai ballte die Faust unter dem Tisch. »Und die Propheten,« fragte er, »die haben alle nichts Rechtes gewußt?«
»Die Propheten,« antwortete Spinoza, »waren große und rechtschaffene Männer, teilweise mit einem Geiste, der die Unendlichkeit und das All zu umfassen strebte; es waren Männer, denen zwar zunächst das Schicksal Israels, aber auch das der ganzen Welt am Herzen lag, wie Jesajas (16,9) »um Jäser weinte«; dabei waren sie aber Menschen wie wir, ja sogar in manchen Dingen noch unwissender als wir, denn sie kannten oft die ersten Grundsätze der Naturkunde nicht; wenn der Geist Gottes stets unmittelbar aus ihnen gesprochen hätte, wie konnten ihnen so einfache Dinge verborgen bleiben?« Er sprach noch weitläufig über diesen Gegenstand, und in Einzelheiten, die er anführte, wurde er immer schärfer und bestimmter. Chisdai blieb ruhig und kalt, nur bisweilen knirschte er die Zähne; als er endlich genug gehört hatte, entfernte er sich mit Ephraim, ohne ein Wort zu reden.
Spinoza blieb allein am Tisch, er mochte nicht aufstehen, so unbehaglich und zuwider war ihm alles. Eben hatte er einen Becher Wein hinuntergestürzt, um seine Gedanken zu verscheuchen, als seine Schwester Miriam zu ihm trat: »Was hast du getan?« sagte sie. »Der widerwärtige Chisdai speit ja Feuer und Flamme gegen dich. Ich stand eben draußen bei der Chaje in der Küche, und erinnerte sie daran, wie sie einst von meiner Hochzeit geträumt hatte, da hörte ich, wie Chisdai rief: Verflucht sei die Luft, die dieser Schändliche einatmet, du hast es gehört Ephraim, wie der Baruch Gott und die Propheten geschmäht hat; o! daß keine Hand vom Himmel herabreichte und ihm seine Lästerzunge aus dem Rachen riß! Aber ich will mein Haupt nicht ruhig niederlegen, bis er vertilgt ist von der Erde. – Ephraim suchte ihn zu beruhigen. Es ist gut, daß du dabei warst, fuhr Chisdai fort: ein Zeuge ist nicht beglaubigt, du mußt mit mir vor das Sanhedrin, wir wollen ihn anklagen, er muß in den großen Bann, ich setze noch meinen Fuß auf seinen Nacken. Ephraim sagte: er trete nicht gegen dich auf, er habe nichts gehört. So? rief Chisdai, und packte ihn beim Arm, du willst nicht? So mußt du schwören, daß du nichts gehört hast, und tust du's, dann kannst du mit ihm zum Satan gehen. – Ich hab' alles gehört, sie haben mich nicht bemerkt. Aber lieber Bruder, du bringst ja das fürchterlichste Unglück über uns, eher möcht' ich heut an meinem Hochzeitstage sterben, als daß ich so etwas erleben sollte.«
Spinoza beruhigte seine Schwester, sich selber konnte er aber nicht beruhigen. »Wie groß dünktest du dich gestern,« sprach er zu sich, »als du zu Olympia sagtest: die Ansicht von den höchsten Dingen muß unausgesprochen in der Seele ruhen. Nun hast du dich erprobt.« Er war den ganzen Tag in tiefes Leid versunken.
Chisdais Bemühungen hatten den gehofften Erfolg nicht, überall nahm man Rücksicht auf Benjamin Spinoza und seinen einflußreichen Anhang; auch standen nur Worte, keine Tatsachen gegen Baruch da. Chisdai mußte sein Unternehmen auf gelegenere Zeit verschieben; er konnte diese leicht abwarten, denn Baruchs Vater lag bald nach der Hochzeit Miriams wieder schwer krank danieder. Niemand wollte dem kranken Manne das Gerede, das über seinen Sohn herrschte, hinterbringen.